*** Vorsicht bitte, hier steckt mal wieder Triggerkram mit drin. ***
Unsere Kleinen kamen vor ein paar Tagen zu uns mit der Erinnerung an ein Lied, das wir als Jugendlicher und junger Erwachsener so oft gehört haben:
Old Friends
Das ist ein Stück, das Paul Simon geschrieben hat, als er so um die zwanzig Jahre alt war. Zusammen mit Art Garfunkel, mit dem er das Duo „Simon and Garfunkel“ bildete, hat er es dann eingespielt und veröffentlicht.
Da neben der Musik auch der Text für uns sehr bedeutsam ist, geben wir ihn hier wieder:
Old friends, old friends
Sit on their park bench like bookends
A newspaper blown through the grass
Falls on the round toes
Of the high shoes of the old friends
Old friends, winter companions, the old men
Lost in their overcoats, waiting for the sunset
The sounds of the city sifting through trees
Settle like dust on the shoulders of the old friends
Can you imagine us years from today
Sharing a park bench quietly?
How terribly strange to be seventy.
Old friends, memory brushes the same years
Silently sharing the same fears
Dieses Lied atmete für uns immer diese unglaubliche Melancholie, die unser ganzes Leben durchzog, als wir Jugendlicher und junger Erwachsener waren. Wir waren damals voller unnennbarer und unerfüllbarer Sehnsüchte. Gleichzeitig hatten wir immer ganz stark den Eindruck, dass wir etwas ganz kostbares unwiederbringlich verloren hatten. Wir hatten aber keine Ahnung, was.
Wir fanden uns in diesem Lied immer sehr wieder.
Überhaupt waren ziemlich viele Lieder von Simon und Garfunkel für uns sehr melancholisch. Wir fühlten uns verstanden. Zumindest teilweise. Wir hörten diese Lieder sehr oft.
Dann wollten unsere Kleinen über Jahrzehnte nichts mehr von dieser Musik wissen. Wir waren woanders unterwegs. Irgendwann im letzten Jahr hörten sie nochmal kurz in diese Musik rein (YouTube macht’s möglich) und wir stellten gemeinsam fest, dass uns diese Musik überhaupt nichts mehr sagt.
Und dennoch kamen unsere Kleinen jetzt mit dieser Erinnerung. Wir bretterten wie üblich in der Dunkelheit stundenlang über deutsche Autobahnen – im Auftrag unseres Arbeitgebers auf dem Weg von A nach B. Und sie fabulierten auf einmal:
How terribly strange to be seventy …
Ich hörte zu, wie sie sich über dieses Lied unterhielten und sah, wie sie dabei ganz viele alte Erinnerungen sichteten. Ich steuerte derweil unser Auto durch die Nacht, und sie machten manchmal Geräusche dazu. (Pöt! Pöt! (Ich hupe zwar nie, aber sie machen gerne pöt-pöt-Geräusche) und Brumm-brumm!)
Dann kamen sie gemeinsam zu mir auf meinen Schoß, und wir fuhren gemeinsam weiter durch die Nacht. Hin und wieder durften sie lenken, aber an die Pedale durften sie diesmal nicht.
Sie berichteten mir von dem, was sie gefunden hatten:
Wir waren früher immer so voller Melancholie gewesen, weil sie uns unsere Kindheit gestohlen hatten. Wir hatten weder Kindheit noch Jugend gehabt. (Ja klar, wir waren auch Kind und Jugendlicher gewesen. Aber wir können euch versichern, dass Kindheit und Jugend im allgemeinen etwas völlig anderes bedeuten als das, was wir erlebt haben. Wenn ihr als Kind auch zum Sex- und Foltersklaven abgerichtet und dann verkauft und vermietet worden seid, dann können wir über dieses Thema ins Gespräch einsteigen. Ansonsten nicht. Mit den Gretas dieser Welt, die denken, ihre Kindheit sei ihnen gestohlen worden, weil sich das Klima verändert (oder weil sie vergleichbar schwerwiegendes erlebt haben), reden wir nicht. Da gibt es keine gemeinsame Basis, auf der wir aufsetzen könnten. Wir erleben das als anmaßendes, selbstverliebtes, weinerliches Geschwätz).
Dieses Gefühl, beraubt worden zu sein, und etwas unfassbar wichtiges für immer verloren zu haben, das war für unsere Kleinen sehr präsent und absolut nachvollziehbar. Und auch dieses furchtbare Gefühl, ohne dieses, was sie uns da geraubt hatten, den Rest unseres Lebens trist, trostlos und vollkommen sinnlos vor uns hinfristen zu müssen.
Es war ziemlich schlimm gewesen, damals, als wir Jugendlicher und junger Erwachsener gewesen waren. Echt schlimm.
Aber wir hatten damals nicht mal die Spur einer Ahnung, was uns da eigentlich fehlte und warum wir immer so voller Melancholie waren.
So fühlten wir uns in Liedern wie diesen einigermaßen verstanden und aufgehoben. Und wenn alle so melancholisch fühlten, dann tat uns unser Leben nicht mehr ganz so weh. Und das war ja auch schon mal was.
„Ja, und jetzt?“ fragte ich meine Kleinen.
„Jetzt sind wir selber bald siebzig.“
(Zur Erklärung – wir sind zu dem Zeitpunkt, wo wir das hier schreiben, sechzig, und von da aus ist echt nicht mehr weit bis siebzig).
„Und? Wie ist das?“
„Gut ist das. Darf ich mal lenken?“
„Du darfst mal lenken. Aber achte auf dieses Zeichen da. (Ich deutete auf das Armaturenbrett). Wenn du zu sehr an die weiße Linie fährst, dann wird das Zeichen gelb, und das Auto fängt an zu motzen.“
„So ein Motzauto.“
„In der Tat.“
Und so erzählten sie mir, dass wir demnächst selber siebzig sein werden, dass für uns daran aber gar nichts „terribly strange“ ist. Für uns ist das ganze Leben schon seit geraumer Zeit Aufbruch und Vorankommen. Als wir am Ende des Jahres 2019 wie üblich Kassensturz machten und ich mit unseren Kleinen auf vielen stundenlangen Spaziergängen das vergangene Jahr durchsprach, brachten sie es so auf den Punkt:
„Das war das erfolgreichste Jahr seit Schlümpfegedenken.“
(Für die, die sowas interessiert: „Schlümpfegedenken“ ist ein Zitat aus dem Comic „Die Schlümpfe und der Krakakas“).
Wir haben nichts verloren in den letzten Jahren und sehr viel gewonnen. Sehr viel. Sehr, sehr viel.
Wir haben nur sehr wenig Jugend und noch viel weniger Kindheit gehabt. Aber wir haben den Eindruck, dass wir dabei sind, all das wiederzufinden und wiederzubekommen. Wir werden nicht mehr die Möglichkeit haben, als Kind mit anderen Kindern im Sandkasten zu spielen. Wir sind dafür körperlich eindeutig zu groß und zu alt. Das finden unsere Kleinen oft sehr schade. Aber die anderen Kinder würden vor uns erschrecken, wenn wir bei ihnen im Sandkasten auftauchen würden, und das wollen wir nicht. Auf keinen Fall.
Und dennoch – wir sind sechzig und demnächst sind wir siebzig. Wir haben uns noch nie in unserem Leben so lebendig und so frisch gefühlt wie in den letzten Monaten. Natürlich spüren wir körperlich das Alter. Unser leiblicher Vater pflegte das – selber alt geworden – so auf den Punkt zu bringen:
„Ab einem bestimmten Alter – wenn du da morgens aufwachst, und dir tut nichts weh … dann bist du tot.“
Ganz so schlimm ist es bei uns noch nicht. Aber wir altern körperlich genauso wie jeder andere Mensch auch. Wenn wir sagen, dass wir „lebendig und frisch“ sind, dann bezieht sich das darauf, wie wir leben, wie wir fühlen, wie wir wahrnehmen, wie wir in der Welt sind.
Wir haben keine Ahnung, wie unser Leben sich wandeln wird, und wie unsere Reise weitergehen wird. Aber sehr wahrscheinlich sitzen wir nicht irgendwann still auf irgendwelchen Parkbänken wie Buchstützen und leben in der Vergangenheit – eingehüllt in dicke Mäntel und auf den Sonnenuntergang wartend. In dem Lied, das sich an das Lied „Old Friends“ anschließt, gibt Paul Simon auch noch den Rat:
„Preserve your memories – they‘re all that’s left you.”
Unser Leben nimmt eine andere Richtung. Wir gucken uns nicht Fotos an und schwelgen in Erinnerungen. Haben wir noch nie gemacht. Und wenn uns Menschen, die uns viele Jahrzehnte begleitet haben (z.B. Arbeitskollegen) einladen, dass wir uns mal treffen, um „von den alten Zeiten“ zu erzählen, dann winken wir immer dankend ab.
Danke, das aktuelle Leben nimmt uns so in Anspruch, dass wir keine Zeit dafür haben. Wir sind jetzt sechzig und jünger und lebendiger denn je. Uns interessieren nicht die alten Zeiten. Uns interessieren die jetzigen Zeiten.
How terribly strange.
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