Schach

Dieser Tage endete die Schachweltmeisterschaft 2016. Der amtierende Weltmeister, Magnus Carlsen, verteidigte seinen Titel gegen Sergej Karjakin. Ich habe beinahe jede Partie am Rechner live mitverfolgt. Ich habe mitgefiebert und mitgelitten. Für Menschen, die Schach nicht viel abgewinnen können, ist das unbegreiflich. Für sie ist Schach so interessant, wie die Kontinentaldrift zu beobachten.

Aus diesem Grund habe ich diesen Text über meine Spezialinteressen mal vorgezogen, denn ja – ich spiele Schach.

 

 

Spezialinteressen 04 - Schach

 

Ja, ich spiele Schach. Und um es gleich vorauszuschicken: Ich spiele schlecht. International misst man die Spielstärke eines Schachspielers in Elo-Punkten. Das hat einen einfachen Grund: „Elo-Punkt“ hört sich wesentlich besser an als „Ähnänänänä – ich bin besser als du!“ Ich habe zur Zeit ungefähr 1.700 Ähnänänänä-Punkte. Das ist die Spielstärke eines besseren Gelegenheitsspielers. Im Fußball wäre das Kreisklasse. Für jemanden, der so viel und so intensiv spielt wie ich, ist das ziemlich dürftig.

 

Wie es sich für einen echten Autisten gehört, spiele ich nicht gegen Menschen, sondern gegen ein Computerprogramm. Mein Computerprogramm heißt Fritz. Auf meinem kleinen Nintendo® begleitet es mich überall hin. Ich spiele im Wartezimmer beim Arzt, im Stau auf der Autobahn, im Restaurant, während ich auf mein Essen warte und besonders gerne abends im Bett.

 

Wenn Fritz ein Mensch wäre, würde er beim Schachspiel immer einen Helm tragen, damit er sich nicht verletzt, wenn sein Gegner ihm eine Figur an den Kopf schmeißt. Denn Fritz ist gemein und hinterhältig. Immer wenn sein menschlicher Gegner überzeugt ist, einen wirklich guten Zug gemacht zu haben, beweist Fritz ihm das genaue Gegenteil. Manchmal glaube ich, Fritz in den Tiefen seiner Programmierung hämisch summen zu hören, wenn er es mir mal wieder so richtig gezeigt hat.

 

Also habe ich begonnen, Fritz mit unfairen Mitteln zu bekämpfen – ich lese Schachbücher. Aber das ist vielleicht mühsam! Und während ich so vor mich hinstümpere und versuche all’ das, was in den Büchern so einfach und überzeugend wirkt, auf mein eigenes Spiel zu übertragen, summt Fritz gelassen und hämisch vor sich hin.

 

Zack! Schon wieder ist ein Springer von mir den Weg allen Fleisches gegangen. Und ich frage mich, ob es nicht besser wäre, mir ein anderes Spezialinteresse zuzulegen. Topflappen häkeln oder Makramee oder sowas. Das soll ja ungemein entspannend und persönlichkeitsförderlich sein. Aber nein, ich muss ja Schach spielen!

 

Zack! Auch mein schwarzer Läufer ist nicht mehr. Fritz räumt mal wieder so richtig auf. Erbarmungslos und effizient. Dabei hatte meine Stellung so gut ausgesehen! Jetzt ist sie ein einziger Trümmerhaufen! Das Schlimmste ist – ich habe keine Ahnung, wie Fritz das schon wieder angestellt hat. Fritz sagt mir das auch nicht. Das ist zwar gemein, aber die Hauptaufgabe eines solchen Schachprogramms ist es ja, uns täglich unsere Lektion in Demut zu erteilen.

 

Ich spiele mindestens zehn Stunden in der Woche. Beinahe nirgends finde ich so viel Entspannung wie im Schachspiel. Tatsächlich kommt es relativ häufig vor, dass ich über der Partie sogar einschlafe. Was mich antreibt, Schach zu spielen, weiß ich nicht. Aber ich gehe in diesem Spiel auf und finde wirkliche Erfüllung. Meine Spielstärke wächst langsamer als ein Baum. Aber darum scheint es mir gar nicht zu gehen. Meine Kleinen wollen unbedingt Schach spielen. Also auf zur nächsten Partie.

 

Und zack! – gerade rechtzeitig, bevor der Rechner mich Matt setzen kann, habe ich ihm den Strom abgestellt. Das war’s für heute mit Demut. Gute Nacht.

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Die Leiden der jungen Wörter

Zu den Eigenheiten der Asperger-Autisten (AS) scheint zu gehören, dass sie ein oder mehrere „Spezialinteressen“ haben, denen sie in ihrer freien Zeit exzessiv nachgehen. Es gibt wohl auch einige AS, die ihr Spezialinteresse zum Beruf gemacht haben. Die können ihrem Spezialinteresse dann während der Arbeitszeit und in ihrer freien Zeit nachgehen. Die Glücklichen.

 

Mir erschienen meine Interessen lange Zeit nicht so „speziell“, sondern eher normal zu sein, bis ich mit Verblüffung feststellte, dass andere Menschen diese Interessen nicht teilten. Manchmal kann ich das heute noch nicht begreifen.

 

Mein zweitältestes Spezialinteresse sind Wörter. Wie sie klingen, was sie bedeuten, wie sie zusammengesetzt werden, wie sie sich in ihrer Bedeutung unterscheiden. Und so weiter. Scheint für andere stinklangweilig zu sein.

 

Schon als Kind habe ich lange selige Stunden auf dem Teppich gelegen und im Duden geblättert. Im zehnten Band der Dudenreihe, um genau zu sein, dem „Bedeutungswörterbuch“. Ich hatte so meine Schwierigkeiten, zu verstehen, warum die Erwachsenen dasselbe Wort mal so, mal so verwendeten. Aber in diesem Buch waren die Wörter so erklärt, dass ich sie verstehen konnte. Und immer wieder stieß ich auf neue Wörter, die mich begeisterten.

 

„Mooswichte“ las ich in einer Geschichte. Ich wollte von meiner Mutter wissen: „Was sind Mooswichte?“ Sie schaute mich hilflos an.

 

Ich ging der Bedeutung der Worte auf den Grund und begann, meinen Eltern hitzige Wortgefechte zu liefern. Zum Beispiel wollte es mir absolut nicht in den Kopf, dass eine Untertasse eine Untertasse sein sollte, wo doch jeder sehen konnte, dass es sich um einen Teller handelte und nicht um eine Tasse.

 

Ich las viel. Mein Wortschatz wuchs. Meine Eloquenz begann, die Erwachsenen zu überfordern. In der vierten Klasse bekam ich von der Klassenlehrerin als Strafarbeit die Aufgabe, einen Aufsatz zu schreiben mit dem Titel: „Vorlaut sein hat Folgen.“ Es passierte mir dann noch häufiger, dass Lehrer und andere Respektspersonen mit Repression reagierten, wenn ihnen im Gespräch mit mir die Argumente ausgingen.

 

„Konstituentenstrukturgrammatik“ las ich im Duden. Ich wollte von meinem Deutschlehrer wissen: „Was ist Konstituentenstrukturgrammatik?“ Er schaute mich hilflos an und schwurbelte sich dann was zusammen, was sich verdichten ließ zu: „Das ist zu schwierig für dich, das lernst du später.“

 

Ich begann, die Worte in ihrer Bedeutung bis ins Uferlose zu differenzieren. Was war der Unterschied zwischen ‚traurig’ und ‚betrübt’? Wann sprach man von ‚Furcht’, wann von ‚Angst’? Niemand konnte mir das sagen. Ich brachte es mir selbst bei.

 

Ich liebe Wortspiele und fein ziselierte ironische Andeutungen. Ich mag es, wenn jemand rhetorisch sowohl den Säbel als auch das Florett beherrscht. Ich liebe poetische Texte, in denen in zarten Andeutungen ein Bild hingetuscht wird. Ich habe absolute Hochachtung, wenn Journalisten ein Text gelingt, in dem kein Wort zuviel und kein Wort zu wenig steht. Das ist meine Welt. Darin kann ich aufgehen.

 

Am Anfang des Studiums wurde im Rahmen eines größeren Projekts meine sprachliche Intelligenz getestet. „IQ von 154“, verkündete der Projektleiter.

 

Vieles kann ich nicht so gut wie andere. Aber reden kann ich.

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