Regelmäßige Leser unseres Blogs werden wissen, wer in unserem Leben Balrog ist. Bislang haben wir in diesem Blog darüber geschrieben, unter welchen Umständen wir ihn kennenlernten, und wie sich unsere Psychotherapie mit ihm entwickelte.
Heute wollen wir berichten, wie es danach mit Balrog und uns weiterging und wie sich die Dinge entwickelten. Da gibt es einiges, was uns ziemlich überrascht hat.
Balrog ist seit 2019 in unserem Leben. Zunächst waren wir uns nicht ganz grün (Sprachbild), weil er dazu neigte, den Großen in uns, den Meister, notorisch zu unterschätzen und nicht ganz ernst zu nehmen. Aber schon bald besserte sich unser Verhältnis. In der Therapie arbeiteten wir immer besser zusammen.
Kurze Zeit darauf merkten wir auch in unserem Alltag, dass Balrog sich immer wieder dazuschaltete. Wenn er gleichzeitig mit uns anwesend war, nahmen wir Farben etwas anders und wesentlich intensiver wahr als sonst. Als wir das das erste Mal erlebten – wir standen gerade in unserer Küche und schauten auf das Geschirr -, waren wir ziemlich erschrocken. Aber als das häufiger passierte, gewöhnten wir uns daran.
Wenn Balrog sich dazuschaltete, war er anwesend, aber er sprach nicht mit uns. Er war einfach nur da und nahm wahr. Wir konnten kein Muster in seinen Anwesenheiten erkennen: Er kam, er ging, er kam, er ging – ganz wie es ihm gefiel. Uns fiel auf, dass wir dabei nicht abgeschaltet wurden. Wir gingen nicht in die Desintegration, wenn er da war. Offenbar wollte er nicht unseren Körper übernehmen, sondern einfach nur da sein … völlig ok.
Ein paar Monate später machte uns jemand, der in unserem Leben ist, darauf aufmerksam, dass er gerade mit Balrog sprach. Wir saßen neben diesem Menschen auf dem Sofa und unterhielten uns. Auf einmal fuhr er uns sachte mit dem Finger über die Kuppe des rechten Daumens. Er tat das, weil er wusste, dass man Balrogs Anwesenheit auch daran erkennen kann, wie wir unsere Hände in die Hosentaschen stecken: Wenn Balrog da ist, gucken die Daumen raus. Wenn Balrog nicht anwesend ist, dann stecken wir die ganzen Hände – auch die Daumen – in die Hosentaschen.
Dieser Mensch fuhr uns also sachte mit dem Finger über die Daumenkuppe und wir fuhren hoch wie aus einer leichten Trance. Balrog hatte uns nicht abgeschaltet – wir konnten jedes Wort der Unterhaltung erinnern -, aber dennoch waren wir nicht ganz da gewesen.
Dann passierte lange Zeit gar nichts. Die Wochen und Monate gingen ins Land, wir machten weiter unsere Psychotherapie, wir arbeiteten, wir schrieben unsere Blogtexte, wir gingen spazieren … die Beziehung zwischen uns und Balrog veränderte sich nicht mehr. Als uns das irgendwann bewusst wurde, machten wir das, was wir in solchen Fällen immer machen: Wir nahmen’s, wie’s kam.
Vor einigen Monaten kam da wieder Schwung rein. Wir standen in einer Seminarpause in einem Hotel und schauten aus dem Fenster auf einen großen, grünen Baum. Wir stellten fest, dass Balrog da sein musste:
In den Tagen vorher hatte dieser Baum für uns deutlich blasser ausgesehen, und sein Grün war ein anderes gewesen. Wir ließen unseren Blick schweifen: Egal, was wir anschauten, es schien wesentlich intensivere Farben zu haben als sonst:
Balrog war mal wieder da – herzlich willkommen!
Balrog sprach weiterhin nicht mit uns. Aber telepathisch fragte er beim Großen, beim Meister an, ob er Teile des Seminars gestalten durfte. Der Meister zuckte mit den Achseln – warum nicht? Das war eins unserer Psychoseminare, wo wir interessierten NTs erklären, wie sie funktionieren. Wir vertrauten Balrog, der Meister auch. Also los.
Balrog sprach ungefähr eine halbe Stunde mit der Gruppe. Anscheinend fiel niemandem auf, dass jetzt jemand anderer Regie führte. Unsere Schrift am Flipchart veränderte sich leicht. Aber da wir sowieso mit vielen, leicht unterschiedlichen Handschriften schreiben, war das völlig normal. Unsere Stimme veränderte sich offenbar nicht merklich. Und unsere Hände in den Hosentaschen und unsere leicht veränderte Gangart entgingen den Teilnehmern anscheinend.
Für uns, die wir nicht Balrog sind, war faszinierend, dass wir nicht abgeschaltet wurden. Wir wurden auch nicht in eine Art leichte Trance versetzt. Wir nahmen mit Balrogs Sinnen wahr und waren dabei.
Das ist jetzt zwei oder drei Jahre her.
Seitdem schaltet sich Balrog immer wieder mal in unsere Gespräche ein oder gestaltet Seminarinhalte, die ihn interessieren. Das war für uns ganz angenehm, weil wir in der Zeit ausruhen konnten und deutlich weniger ermüdet waren als sonst, wenn der Seminartag vorbei war.
Im Herbst 2023 machten wir ziemlich viele Seminare. Wir nennen diesen Zustand: „Wir fahren Volllast.“ Da kann es vorkommen, dass wir fünf oder sechs Wochen hintereinander Seminare machen.
(Für die Nichttrainer unter euch: Sowas ist eigentlich nur zu machen, wenn du als Trainer Fachinhalte vermittelst, nicht aber, wenn du Verhaltenstraining oder Psychozeug machst. Es ist körperlich und mental sehr beanspruchend. So ein Seminartag hat zehn bis vierzehn Stunden – Pausen hast du keine, nicht eine Minute. Und am Ende des Tages bist du rechtschaffen platt).
In dieser Zeit der „Volllast“ begann sich Balrog immer häufiger und immer länger dazuzuschalten. Das ging so weit, dass er bei einem Seminar mehr als fünfzig Prozent führte. Es fiel ihm leichter als uns, offenbar ermüdet er weniger schnell als wir.
Seit Balrog in die Seminare eingreift, bekommen wir deutlich bessere Rückmeldungen zu unseren Seminaren als früher. Und schon damals waren diese Rückmeldungen exzellent.
Aber in diesem Seminar, wo Balrog mehr Anteile hatte als wir, erlebten wir einige faustdicke Überraschungen.
1
Am Ende eines Seminartages standen wir noch mit einem Seminarteilnehmer im Raum. Er stand an seinem Platz, wir standen vor ihm – durch einen schmalen Tisch getrennt. Im Raum waren noch zwei weitere Teilnehmer anwesend, die still irgendwas an ihren Laptops machten. Die anderen sechs Teilnehmer hatten den Raum verlassen. Es war mit dem Hotel vereinbart, dass es in einer Stunde im Restaurant Abendessen geben sollte. Das Restaurant war direkt neben dem Seminarraum.
Wir unterhielten uns mit dem Teilnehmer – leise, konzentriert und langsam. Uns war während des Seminartages einiges an ihm aufgefallen, was Rückschlüsse auf seine Persönlichkeit zuließ. Wir sprachen mit ihm darüber. Balrog war im Hintergrund und hörte zu. Die Tür zum Restaurant war in unserem Rücken. Wir nahmen beiläufig wahr, dass die beiden Teilnehmer, die an ihren Laptops was gemacht hatten, sich von ihren Plätzen erhoben und den Raum verließen.
Und dennoch waren wir nicht allein mit diesem Teilnehmer, irgendwer war noch im Raum. Wir hörten diesen Menschen nicht, aber wir nahmen ihn mit unserem Rücken wahr. Wir nahmen an, dass irgendein Teilnehmer nochmal in den Raum gekommen war, um seine Sachen zu holen.
Da wir keine Gefahr spürten und uns sehr auf das Gespräch mit diesem Teilnehmer konzentrierten, nahmen wir all das nur im Hintergrund wahr.
Irgendwann war das meiste gesagt, was zu sagen war, und wir tauchten ein wenig aus diesem Gespräch wieder auf. Überrascht registrierten wir mit unserem Rücken, dass der Raum ziemlich voll sein musste. Keinerlei Gefahr, aber der Raum war voll. Was zum …?! Wir drehten uns um – alle Teilnehmer waren da. Sie standen da an eine Wand gelehnt oder saßen auf ihren Plätzen. Wir wussten instinktiv auch sofort, warum sie da waren – was sie da wollten:
Wir hatten sowas sehr oft erlebt, als unsere Töchter noch klein waren und wir mit ihnen auf dem Spielplatz im Sandkasten gewesen waren.
Als unsere Töchter kleine Mädchen waren, spielten sie gerne im Sandkasten. Oft setzten wir uns dazu und baten sie um eines ihrer Siebe. Damit siebten wir dann in einer Ecke des Sandkastens den Sand und sortierten schweigend die Körner nach Farbe und Größe. Damit konnten wir uns ganz lange beschäftigen – wir gingen vollkommen darin auf. Und wenn wir dann wieder aufschauten, war es ganz oft so, dass sämtliche Kinder des Spielplatzes um uns rum waren. „Wir sind ein Kindermagnet“ kommentierten unsere Kleinen damals.
Die Kinder suchten damals ganz offensichtlich unsere Nähe, weil es ihnen so gut tat, in unserer Nähe zu sein.
Und genauso – mit der selben Körperspannung, mit dem selben Gesichtsausdruck und in der selben friedlichen Stille waren jetzt die Teilnehmer alle da. Keiner hatte eine Frage an uns oder wollte irgendwas geklärt haben. Sie wollten alle nur da sein. Sowas haben wir früher im Sandkasten häufig erlebt. Im Beruf aber noch nie.
Es konnte nur daran liegen, dass Balrog jetzt da war.
2
Am nächsten Tag wollten wir den Teilnehmern die mathematische Seite des Persönlichkeitsmodells zeigen, mit dem wir in diesem Seminar arbeiteten. (Für Puristen: Es ging um Validität, Reliabilität und dergleichen).
Das hatten wir mit Balrog so abgesprochen.
Balrog wollte auch diesen Teil des Seminars gestalten.
Also los.
Verblüfft stellten wir fest, dass Balrog Mathematik nicht kann. Dreimal setzten wir an, um den Teilnehmern recht einfache mathematische Zusammenhänge zu erläutern. Dreimal erlitten wir damit Schiffbruch. In uns bildeten sich einfach nicht die Bilder und die Worte, die wir brauchten.
Nach kurzer (telepathischer) Rücksprache übernahmen wir an dieser Stelle das Seminar von Balrog. Wir stellten den Teilnehmern die mathematischen Zusammenhänge dar und gaben danach wieder zurück an Balrog.
Während dieses kleinen Schiffbruchs fühlten wir uns ein wenig so, wie wir uns immer fühlen, kurz bevor wir in die Desintegration gehen. Aber niemand desintegrierte diesmal. Balrog und wir meisterten diese Situation gemeinsam.
Als wir das nächste Mal in der Therapie waren, thematisierten wir diese Erlebnisse in der Vorbesprechung. Wir hatten Mühe, die richtigen Worte zu finden, um uns verständlich zu machen.
Denn normalerweise ist es so, dass wir abgeschaltet werden oder zumindest in einen tranceartigen Standby gehen müssen, wenn andere Teile von uns übernehmen. Aber hier war es so, dass Balrog die Dinge gestaltete, ohne dass wir irgendwelche Absencen hatten.
Wir schauten unsere Therapeutin hilflos an:
„Wir wissen auch nicht, was das ist. Wie man das nennen könnte. Balrog ist da, und wir auch, und dennoch sind wir nicht eins, sondern zwei getrennte Wesen. Aber wir erleben das auch nicht als gespalten. Wir wissen nicht, was das ist.“
Unsere Therapeutin ist sehr erfahren. Sie sagte sofort:
„Co-Bewusstsein.“
Und wir fanden, dass das genau das richtige Wort für diesen Zustand war.
Wir sagten ihr nach einigem Nachdenken:
„Wir wissen aber nicht, wer hier der Co ist – Balrog oder wir.“
Und dennoch:
Co-Bewusstsein ist genau das richtige Wort dafür, was Balrog und wir ganz oft leben. Mal ist er vorne, mal wir, aber es ist „Co“, und es ist sehr gut.
Post Scriptum
Immer wieder, wenn wir von anderen lesen, die Viele sind – ebenso wie wir -, dann erfahren wir, dass das Ziel ihrer Reise ist, dass sie wieder eins werden.
Bei uns scheint das völlig unmöglich zu sein. Wir können nicht wieder eins werden. Ausgeschlossen. Das würden unsere Kleinen und unsere Innenteile als pure Gewalt erleben. Zu lange haben sie eigenständig gelebt und sich zu eigenständigen Wesen entwickelt.
Deshalb habe ich als Großer schon vor vielen Jahren angeordnet, dass wir eine Föderation sind. Wir haben uns gemeinsam auf Regeln geeinigt, denen jeder zu folgen hat – ohne jede Ausnahme. Ich als Großer überwache die Einhaltung dieser Regeln, und ich werde energisch und wirksam, wenn sich jemand nicht an sie hält. Darüber hinaus bin ich der Außenminister – ich vertrete uns nach außen und wahre unsere Interessen im Außen.
Aber ansonsten kann jeder machen, was er will. Und von dieser Freiheit machen unsere Kleinen und unsere Innenteile regen Gebrauch.
Aber dass wir ein „Co“ sind mit so einem großen und machtvollen anderen Innenteil, das ist vollkommen neu für uns. Das ist, als ob Frankreich und Deutschland innerhalb der EU einen losen gemeinsamen Staat bilden würden.
Wir sind alle sehr gespannt, wie sich das entwickeln wird.
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