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Schläft ein Schmerz

** Auch hier ist wieder Triggerkram mit drin. **

 

Unsere Psychotherapie ist wie eine Reise. Eine Reise in ein uns unbekanntes Land. Auf dieser Reise begegnen wir sehr vielen Wesen und Menschen, die früher mal wir waren. Damit wir alle überleben konnten, haben sich diese Wesen und Menschen von uns abgespalten. Sie spalteten sich in Situationen von uns ab, die für uns völlig überfordernd waren und verschwanden mit der Erinnerung an diese Ereignisse in der Dunkelheit, die in uns ist.

 

Das ist also eine sehr heikle und prekäre Reise, auf der wir da unterwegs sind. Sie taugt auch nicht zum Abenteuerroman. Denn das, was wir wiederfinden, ist derart schrecklich, dass es sich der Sprache entzieht.

 

Seit geraumer Zeit schon sind wir in einer Gegend unterwegs, wo es vor allem um drei Dinge geht:

a)    massive und systematische Folter

b)    organisierte (und anscheinend religiös verbrämte) Vergewaltigung

c)    Dressur und Abrichtung von Kleinkindern zu Sexsklaven

Also all das, was gerne in der Bildzeitung oder in vergleichbaren Medien aufgegriffen wird, um auf Kosten der Opfer Aufmerksamkeit und Klicks zu generieren. Sex und Gewalt – das geht immer.

 

Wir sehen auf unserer Reise sehr häufig nicht klar, weil wir in der Regel nur Bruchstücke von Szenen geliefert bekommen, wenn wir etwas Vergangenes wiederfinden. Träger von Erinnerung kommen zu uns und vertrauen sich uns an. Aber sie tragen nur einen kleinen Teil der gesamten Erinnerung. Das liegt daran, dass so eine Situation, solange sie in uns aktiv ist, derart schwerwiegend ist, dass kein Mensch auf dieser Welt mehr als nur einen kleinen Teil eines solchen Ereignisses in sich tragen könnte, ohne in viele Teile zu zerfallen. Die Situation muss erst mal deaktiviert werden. Mit anderen Worten: Der Träger der Erinnerung muss erst mal begreifen und wirklich glauben, dass diese Situation, (in der er Jahrzehnte in einer Endlosschleife gefangen war), tatsächlich vorbei ist, und dass sie auch niemals wiederkommt.

 

Und das kann lange dauern. Das kann seeeeeehr lange dauern.

 

Immer wieder sagen unsere Kleinen:

„Ein Baum wächst schneller!“

 

Aber Vertrauen kann man nicht befehlen oder anordnen. Und auch sonst kannst du nur sehr wenig tun, damit das Vertrauen wächst. Selbstverständlich brauchst du für so eine Reise eine absolut sichere Außenumgebung. Solange unsere verletzten Innenteile im Außen auch nur Spuren davon wahrnehmen, dass diese Situation sich wiederholen könnte, werden sie sich weiterhin reflexhaft verbergen. Sie können sich dann gar nicht zeigen, selbst, wenn sie das wollten.

 

Deshalb ist es für eine solche Therapie auch Grundvoraussetzung, dass jeder Kontakt zu Tätern physikalisch ausgeschlossen ist. Und auch zu Mittätern (also den ganzen Möglichmachern, die zu solchen Situationen gehören) sollte man gehörig auf Distanz gehen.

 

In unserem Leben ist es so:

 

1

Unsere Außenwelt ist sicher. Die Täter sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schon alle tot. Und auch die Mittäter sind sehr sicher schon den Weg allen Fleisches gegangen. Da kann uns also nichts mehr passieren.

 

Als wir vor knapp vierzig Jahren zuhause auszogen, war unsere erste Amtshandlung, den Kontakt zu unseren leiblichen Eltern abzubrechen und ihnen jede Kommunikation mit uns zu untersagen. Das haben wir damals völlig instinktiv gemacht. Wir haben erst viele Jahre später allmählich begriffen, wie wichtig dieser Schritt für unsere verletzten und verstümmelten Innenteile war.

 

Heute sind die Täter und alle, die sie umgaben, schon lange tot, und wir sind ziemlich sicher, dass keiner, der zum Täter- oder Mittäterkreis gehört hat, überlebt hat.

 

2

Es gibt Innenteile in uns, die schon vor vielen Jahren aus total zerstörenden Situationen zu uns kamen. Diese Innenteile leben schon seit Jahren in Frieden und Sicherheit bei uns. Sie wissen, wie es sich anfühlt, aus solchen Situationen zu kommen. Sie wissen, wie mühsam und langwierig der Weg ist, allmählich zu glauben, dass diese Situation tatsächlich vorbei ist und nie wiederkommen wird. Nie wiederkommen kann.

 

Zu diesen Innenteilen schicken wir die Neuankömmlinge. Die neuen Kleinen und die neuen Innenteile kommunizieren dann gaaaanz lange mit denen, die schon länger hier sind. Wochenlang, monatelang tun sie das. Und die „alten“ weisen die „neuen“ ein, wie das ist, in Frieden und Sicherheit zu leben. Ich als Großer mach‘ da kaum was. Meine Aufgabe beschränkt sich meistens darauf, einen Rahmen zur Verfügung zu stellen, in dem es gelingen kann, neue Kleine und neue Innenteile wiederzufinden.

 

3

Das hat in unserem Leben oberste Priorität. Unser Lebensweg ist der Weg der Heilung. Buchstäblich alles andere ist dem untergeordnet. Alles andere ist nebensächlich. Und wir heilen. Uns geht es in der Therapie immer, immer schlechter. Gleichzeitig wird unser Leben immer erfüllter und reicher. Sehr oft ist unser Leben wie ein nicht endender, ganz leiser Gesang.

 

Wie kommt es zu dieser ganz leisen Musik?

Vielleicht können wir das an einer Begebenheit erläutern, die wir letzte Woche erlebt haben.

 

Wir waren da in unserer Therapie wieder in einer solchen Folterszene unterwegs. (Seit deutlich über einem Jahr machen wir in unserer Therapie nichts anderes). Wir fanden Teile von uns wieder, die Schmerzen mitbrachten, die für uns völlig neu waren.

 

Und wir dachten: Vielleicht gilt das für viele Gefolterte -

Immer, wenn du glaubst, nun wirklich jede Form von körperlichem Schmerz zu kennen und intensiv kennengelernt zu haben, dann findest du auf einmal was völlig neues. Da ist nie ein Ende.

 

Ich war als Großer vollauf damit beschäftigt, diesen Teil von uns, der da zu uns kam, zu bergen und zu versorgen. Ich hörte dabei am Rande, wie einige meiner Kleinen sich mit ein paar von den Neuen unterhielten:

„Ist da eigentlich irgendeine Stelle in unserem Körper, wo sie uns nicht total weh getan haben?“

„Nein, das ist anscheinend holistisch.“

„Es ist was?“

„Es ist überall. Immer. Jederzeit und an jeder Stelle in unserem Körper.“

„Ja. Nenn‘ mir irgendeine Stelle, wo sie uns garantiert nicht total weh getan haben!“

„Ja, es schläft ein Schmerz in allen Dingen!“

„Was deklamierst du da?“

 

 

Schläft ein Schmerz in allen Dingen

Die da träumen fort und fort.

Und die Welt fängt an zu klingen,

Kommst du an den Zauberort.

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