Neulich hörte ich von einem Gespräch, das ein Erwachsener, der als Kind schwerst traumatisiert worden war, mit seinem Chef geführt hatte. Der schwerst Traumatisierte zog ein Resumée dieses Gesprächs:
„Mein Chef kennt mein wahres Selbst.“
So wurde es mir berichtet. Und ich schlug entsetzt die Hände vor’s Gesicht: Dein Chef kann froh sein, wenn er den Namen seines Dackels kennt. Er kann froh sein, wenn er die Geburtstage seiner Enkel kennt. Er kennt ganz sicher nicht dein Selbst. Und dein wahres Selbst schon gar nicht.
Das dachte ich. Aber natürlich sagte ich nichts dazu. Ich hätte mich in keiner Weise verständlich machen können. Wenn ich nichts dazu beitragen kann, dass die Dinge sich zum besseren entwickeln, dann ist es besser, wenn ich schweige.
Ich habe in einem anderen Text schon mal ausgeführt, aus welchen Gründen ich es für eine Illusion halte, wenn erwachsene Menschen glauben, dass wir ein Ich haben (Blog 360 – Ich). Ich kenne keinen Menschen, der nicht Viele ist. Ich kenne keinen Menschen, in dem es nicht viele Teile gibt, die den anderen Teilen vollkommen unbekannt sind.
Was hat es jetzt mit dem „wahren Selbst“ auf sich?
Das scheint mir nochmal was anderes zu sein als das „Ich“. Nach allem, was ich erfahre, wenn ich Menschen dazu interviewe, ist das „wahre Selbst“ so eine Art unverfälschter Wesenskern. Es scheint um irgendwas zu gehen, wo wir ganz besonders echt sind – unverfälscht und unverdorben … das Original sozusagen.
Und hunderttausende Psychotherapeuten, Gurus, Seelenführer, Schamanen und sonstige Ahnungslose scheinen gutes Geld damit zu verdienen, dass sie die Illusion befeuern, dass ein Mensch einen wahren und unverfälschten Wesenskern hat, dem man sich annähern oder den man sogar finden könne.
In meiner Welt ist das natürlich der blanke Unsinn.
Wenn in einen riesigen See ein Fass mit Tinte fällt, und du ein Jahr vergehen lässt, dann wirst du in jeder Wasserprobe aus diesem See Spuren von Tinte finden. Da gibt es keinen unberührten und unverfälschten Teil des Sees mehr. In diesem See ist alles von Tinte durchdrungen.
Ich will mal aus dem Internet zitieren.
(Wenn man im Internet „Wahres Selbst“ eingibt, bietet Google über sechseinhalb Millionen Treffer an. „True self“ führt zu fast fünf Milliarden Einträgen. Da ist also mächtig Druck auf dem Kessel (Sprachbild)):
1
„Es zeigte sich (in psychologischen Studien), dass alle Teilnehmer davon ausgingen, dass sie ein wahres Selbst hätten. Dies zeichne sich dadurch aus, dass es sie unverwechselbar mache und stabil sei.“
2
„Das wahre Selbst ist (…) der unzerstörbare Kern, den jeder Mensch in sich trägt. Andere sprechen auch von Seele und auch vom höheren Selbst.
Das falsche Selbst ist geprägt von Idealen, von Sollte und Müsste. Es zeigt sich oft in gelernten Überlebensstrategien, die wir in der Kindheit entwickeln mussten, wenn nicht ausreichend Ressourcen vorhanden waren, um Stress zu verarbeiten.“
3
„Kurz gesagt ist das wahre Selbst das, was übrig bleibt, wenn alle Konditionierungen, die im Laufe des Lebens angesammelt und verinnerlicht wurden, wegfallen und der wahre Kern zum Vorschein kommt. Und dieser wahre Kern ist pures Licht, pure Liebe, pures SEIN. Das, was du im Kern bist, wenn du dir bewusst wirst, was du alles NICHT bist (deine Gedanken, dein Körper, dein Beruf, dein Status, …). Das, was übrig bleibt, wenn du alle Identifikationen ablegst, an denen du sonst haftest."
4
„Das wahre Selbst, auch genannt Atman, ist die unsichtbare Grundlage, die dem Menschen innewohnende Göttlichkeit. Die Seele, welche in Wirklichkeit innerhalb der fünf Schichten ist, das ist den (sic!) Wahres Selbst. Dieser ist dein Wahres Selbst, die dem Menschen ureigene Realität, die Substanz der objektiven Welt. Das Wahre Selbst handelt nicht noch besitzt es irgendetwas. Es ist von Natur aus frei von jeder Bindung und unsterblich. (Und so weiter, und so weiter).“
Ich will diese vier Zitate kommentieren:
1
Es scheint sehr weit verbreitet zu sein, dass Menschen sich unterteilen in einen wahren und in einen unwahren Teil von sich selber.
Ich sage:
Wenn du nach innen schaust, lerne zu unterscheiden, was davon du selber bist und was Teile sind, die du von anderen übernommen hast und die du jetzt für Teile von dir hältst. Die Teile von dir, die tatsächlich du sind, die sind alle „wahr“. Das ist kein einziger unwahrer Teil bei. Deine Aufgabe ist es, sie allesamt liebend anzunehmen, völlig egal, ob dir das in den Kram passt oder nicht und völlig egal, ob du dafür das Bild, das du von dir gemacht hast, ändern musst oder nicht.
2
Ich halte es für eine extrem gefährliche Illusion zu glauben, dass der Mensch irgendwas in sich trägt, was er selber ist und was nicht zerstört werden kann. Ich habe mir im Studium von meinem ahnungslosen Professor für Entwicklungspsychologie staunenswerte Geschichten von „unzerstörbaren Kindern“ angehört. Kinder, die offenbar in der Lage waren, jede Schädigung unbeschadet wegstecken zu können.
Alles barer Unsinn. Wer die Unterscheidung der Traumaforschung in ANP (anscheinend normale Persönlichkeit) und EP (emotionale Persönlichkeit) kennt, weiß, dass Teile von uns regelrecht unsichtbar werden, wenn wir schwer geschädigt werden.
Nochmal, weil das so wichtig ist:
Jeder Teil von uns ist zerstörbar. Ohne jede Ausnahme.
3
Da stehen viele kluge Sachen drin:
Was kommt eigentlich dabei raus, wenn ich alle Rollen und alle Erziehung und alle Konditionierung von mir abziehe?
Meine Erfahrung ist diese:
Das ist ein sehr wichtiger Ansatz, den zu verfolgen sich lohnt. Aber wenn er dazu führt, dass ich die Teile von mir ablehne oder abwerte, die Rollen und Erziehung angenommen haben oder die sich der Konditionierung gebeugt haben, dann tue ich diesen Teilen gewaltig Unrecht und kann nicht heilen.
Alle Teile von mir sind liebenswert und gehören auf jeden Fall zu mir, egal ob sie sich dem Druck von außen gebeugt haben oder nicht.
Was es mit dem puren Licht, der puren Liebe und dem puren Sein auf sich hat, das weiß ich nicht. Für einen Menschen wie mich, dem Dunkelheit und Dämmerung so viel bedeuten, ist es natürlich der blanke Horror, wenn auf einmal alles das pure Licht ist.
Aber wie auch immer – das sind für mich esoterische Konzepte, die allesamt in die Irre führen. Und wenn jemand es für sich in seinem Leben anstrebt, das pure Licht, die pure Liebe, das pure Sein zu werden:
Bitte sehr.
Mir steht da kein Urteil zu.
Nur für meine Kleinen und für meine Innenteile ist das nichts.
4
Wenn wir zum Thema „Wahres Selbst“ recherchieren, dann kommen wir natürlich auch sehr schnell in den Bereich der Esoterik und des reinen Glaubens. Wenn nach irgendeiner „unsichtbaren Grundlage“ oder nach der dem Menschen innewohnenden Göttlichkeit gesucht wird, dann bin ich draußen. Auf dieser Ebene will ich mich nicht unterhalten müssen. Ich verweise dazu auf das Paradigma des unsichtbaren rosa Einhorns (invisible pink unicorn). Jeder, den es interessiert kann sich dazu im Internet schlau machen.
Zusammenfassung
Wenn du dich unterteilst in einen wahren und in einen unwahren Teil, dann tust du dir und deinen Kleinen bitter, bitter Unrecht und kannst nicht heilen.
Wenn du heilen willst, sind deine Lebensaufgaben diese:
1
Lerne zu unterscheiden, was von dem, was du bist, tatsächlich du bist und was Teile anderer sind, die du in dich aufgenommen hast, als du noch ein kleines Kind warst. Die Fachwelt spricht in diesem Zusammenhang von „Introkjekten“ (ein fürchterliches Wort, finden wir).
2
Prüfe, was von diesen „Introjekten“ du behalten willst. Den Rest schmeiß raus.
3
Was dann noch bleibt, bist du – egal, ob es dir gefällt oder nicht. Nimm dich an. Nimm alle Teile von dir an. Ohne jede Ausnahme. Unterteile dabei nicht in wahr und in unwahr oder auf andere Weise. Suche nicht nach einem „wahren Selbst“, denn das gibt es nicht in der Realität.
4
Du kannst dich verändern – auf jeden Fall. Aber du kannst immer nur das verändern, was du zuvor liebend angenommen hast. Die Teile von dir, die du von dir stößt, abwertest, nicht wahrhaben oder nicht akzeptieren kannst, die kannst du mit permanentem hohen Energieaufwand in die Dunkelheit verbannen. Aber du kannst sie nicht verändern. Diese Teile sind weiterhin aktiv, auch, wenn dir das nicht bewusst ist.
5
Das alles muss in einem ethisch gerechtfertigten Rahmen ablaufen.
„Liebend annehmen“ bedeutet etwas anderes als „sich austoben“ oder „sich ausleben“. Falls du diesen Unterschied noch nicht kennst, dann lerne ihn.
Post Scriptum
Bei unserer Recherche im Internet sind wir auf einen Artikel von Spektrum der Wissenschaft gestoßen, aus dem wir längere Abschnitte zitieren wollen:
„Schon im Kindesalter werden wir belehrt, wir sollten einfach »wir selbst sein«, und als Erwachsener haben wir die Auswahl aus einer riesigen Anzahl von Selbsthilfebüchern, die uns erklären, wie wichtig es ist, mit seinem »wahren Selbst« in Verbindung zu stehen. (…)
Auch in der Wissenschaft hat das Konzept in den vergangenen Jahren mit Hunderten von Zeitschriftenartikeln, Konferenzen und Workshops zunehmend an Bedeutung gewonnen. Doch je genauer Forscher es unter die Lupe nahmen, als desto verworrener stellte es sich am Ende heraus. (…)
Das größte Problem ist (…) vermutlich die Vorstellung vom »wahren Selbst« an sich. Der US-amerikanische Psychologe und Psychotherapeut Carl Rogers (1902-1987) stellte fest, dass viele Menschen, die eine Psychotherapie beginnen, von der Frage geplagt werden: »Wer bin ich wirklich?«
Die bittere Wahrheit ist jedoch, dass alle Aspekte unserer Psyche ein Teil von uns sind. Es ist (…) unmöglich, sich irgendeine Form von bewusstem Verhalten vorzustellen, die keinen echten Teil unseres Selbst widerspiegelt– seien es unser Temperament, unsere Einstellungen, unsere Werte oder Ziele. Katrina Jongman-Sereno von der Harvard University und Mark Leary von der Duke University kommen in einer aktuellen Studie zum Thema zu dem Schluss: »Angesichts der Komplexität der Persönlichkeit eines Menschen könnten auch zwei scheinbar miteinander unvereinbare Handlungen jeweils äußerst selbstkongruent sein. Menschen sind einfach zu vielfältig und zu widersprüchlich, als dass das Konzept eines einheitlichen wahren Selbst ein nützlicher Maßstab für die Beurteilung von Authentizität sein könnte, sei es in Bezug auf einen selbst oder auf andere.«
Was verbirgt sich also wirklich hinter diesem »wahren Selbst«, von dem die Leute immer wieder sprechen? Laut Studien neigen die meisten von uns dazu, genau jene Aspekte ihrer Persönlichkeit als ihr wahres Selbst zu bezeichnen, mit denen sie sich am wohlsten fühlen. Überall auf der Welt erliegen Menschen einer Art »Authentizitäts-Positivitäts-Bias«: Sie schließen ihre besten und moralischsten Eigenschaften – wie Freundlichkeit, Großzügigkeit und Ehrlichkeit – in die Beschreibung ihres echten Ichs mit ein. Sie betrachten ihr positives Verhalten als authentischer als ihre schlechten Taten, auch wenn beides mit ihrer Persönlichkeit und ihren Wünschen in Einklang steht.
Die bittere Wahrheit ist, dass alle Aspekte unserer Psyche ein Teil von uns sind.
Untersuchungen zufolge machen die meisten Menschen ihr Gefühl von Authentizität nicht davon abhängig, ob sie sich entsprechend ihrer eigenen Natur verhalten oder nicht. Stattdessen neigen wir dazu, uns alle in denselben Momenten als authentisch zu empfinden – ganz unabhängig von unserem individuellen Charakter: wenn wir uns ruhig, zufrieden, enthusiastisch, frei und kompetent fühlen, wenn wir lieben, achtsam im Augenblick verharren und offen für neue Erfahrungen sind. Mit anderen Worten: Wir nehmen uns dann als am authentischsten wahr, wenn unsere Bedürfnisse erfüllt werden und wir die Kontrolle über unsere Erfahrungen haben. Nicht dann, wenn wir bloß wir selbst sind.
Überraschenderweise fühlen sich Menschen ausgerechnet dann als sie selbst, wenn sie sich sozial erwünscht verhalten - und nicht etwa, wenn sie sich gegen kulturelle Zwänge und Gebote auflehnen. Umgekehrt leidet das Gefühl, mit sich selbst im Einklang zu sein, wenn sich eine Person als sozial isoliert betrachtet. (…) Wenn wir uns in Übereinstimmung mit unseren höheren Zielen verhalten (und zum Beispiel die Gründung eines neuen gemeinnützigen Vereins bekannt geben), betrachten wir selbst und andere uns typischerweise als authentischer, als wenn wir auf der Couch sitzen, Netflix schauen und Donuts essen. Auch wenn wir in beiden Situationen gleichermaßen wir selbst sind!“
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