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Sterben müssen

Nach allem, was bis heute bekannt ist, gehört es zum Menschsein dazu, dass wir irgendwann mal sterben müssen. Das ist ein Allgemeinplatz, zu dem wir uns nicht weiter auslassen wollen. Wir wollen heute darüber schreiben, wie wir uns und andere Menschen im Angesicht des Todes erleben.

 

Schau’n wir uns das mal an.

 

Irgendwann, als wir sechzehn oder siebzehn Jahre alt waren, erfuhren wir, dass die alten Römer einen weisen Spruch hatten, der sich übersetzt so anhört:

„Lebe so, wie du wünschen wirst, gelebt zu haben.“

 

Wir waren tief beeindruckt. Zum einen fanden wir das sehr klug. Zum anderen hatten wir den Eindruck, dass hier auf den Punkt gebracht war, was eine verbindliche Leitlinie für ein gelungenes Leben sein konnte.

 

Unsere Situation war damals dadurch gekennzeichnet, dass wir uns nach einem klaren Lebensplan sehnten:

Wo sollte die Reise hingehen?

Was war gut zu tun, was war nicht gut zu tun?

Wofür sollten wir uns einsetzen und engagieren?

Wie führte man ein Leben so, dass es ein gelungenes Leben war?

 

Wir hatten keinerlei Vorbilder, nicht ein einziges. Die Menschen, denen wir täglich begegneten, lebten ein Leben, das wir nicht mal geschenkt haben wollten. In Kunst und Literatur fanden wir nicht mal einen Ansatz von irgendwas, was uns auch nur angesprochen, geschweige denn begeistert hätte. Und was uns das Fernsehen vermittelte (Internet gab’s damals noch nicht), darüber brauchen wir nicht zu reden:

 

Alles Stuss.

Vergeudetes Leben, wohin wir auch schauten.

Uns war völlig schleierhaft, wie man ein solches Leben anstreben und wollen konnte.

 

Ja klar – ein eigenes Haus mit ein wenig Vermögen, immer satt zu essen, Kleidung, die passte und für die man nicht gehänselt wurde, den ganzen Winter heizen können (nie mehr frieren!!), passende und bequeme Schuhe - all solche Sachen … das war schon nicht zu verachten. Wir hatten schon vor geraumer Zeit beschlossen, später nie wieder arm zu sein. 

 

Aber außer Geld … es konnte ja nicht das Lebensziel sein, einen Geldspeicher mit Talern zu füllen!

Und wenn wir uns anhörten und anschauten, was die Menschen außer Geld verdienen und Geld ausgeben noch so machten, fanden wir das immer absolut haarsträubend. Das konnte es wirklich nicht sein!

 

Und dann kamen diese Römer daher und hinterließen in unserem Lateinbuch:

„Lebe so, wie du wünschen wirst, gelebt zu haben.“

Na, das war doch endlich mal ein Ansatz!

 

Das Problem war, dass wir keine Ahnung hatten, wie wir im hohen Alter von – sagen wir mal – vierzig oder fünfzig Jahren wünschen würden, gelebt zu haben. Wir waren zwar schon ziemlich alt – sechzehn oder siebzehn. Aber so steinalt nun auch wieder nicht.

 

Wir knieten uns jahrelang ziemlich in die Philosophie (abendländische und ein bisschen morgenländische). Denn wenn irgendwer was zu einem gelungenen Leben sagen konnte, dann doch sicher die Philosophen. Deren Werk ragte doch wie Leuchttürme aus der jahrhundertelangen Finsternis. So dachten wir uns das jedenfalls. Uns so wurde Philosophie zu einem Spezialinteresse, das wir sehr intensiv verfolgten. Etwas später waren wir tatsächlich der einzige in der gesamten Jahrgangsstufe (fast 200 Schüler), der sich eintrug, als gefragt wurde, wer denn einen Philosophie-Leistungskurs wollte.

 

Der Philosophie-Leistungskurs kam nicht zustande. Das hinderte uns aber nicht, allen möglichen Philosophiekram zu lesen. Wir lasen eher unsystematisch dies, das und jenes. – Immer auf der Suche nach einer Spur, die unser Interesse wecken würde. Aber wir fanden keine Spur. Wir fanden so ziemlich gar nichts in der Philosophie. Das war für uns einigermaßen enttäuschend. Denn Philosophie – übersetzt „Liebe zur Weisheit“ - sollte doch was dazu zu sagen haben, wie ein gelungenes Leben geht. Als wir später studierten, schrieben wir uns auch für Philosophie ein und studierten das vergleichsweise intensiv ein paar Jahre. Aber dann stellten wir das ein. Wir fanden nichts.

 

Versteht uns bitte nicht falsch – die Philosophen aller Jahrhunderte haben tatsächlich sehr viel zum Thema „gelungenes Leben“ zu sagen. Und manches davon finden wir auch heute noch sehr sinnvoll und klug. Aber wenn du Hunger hast wie ein Wolf (Sprachbild), dann hilft es dir nichts, wenn du einen Haufen Speisekarten liest, bis du ein wahrer Experte für Speisekarten geworden bist. Das stillt deinen Hunger kein bisschen.

 

Wir gingen also dazu über, auch bei den Philosophen mehr darauf zu schauen, wie sie lebten (bzw. gelebt hatten) und weniger auf das zu achten, was sie von sich gaben.

Und das Ergebnis war sehr ernüchternd. Wir fanden in den Beschreibungen, wie die Philosophen gelebt hatten, nicht mal Spuren von etwas, was wir für ein gelungenes Leben gehalten hätten.

 

Heute sagen wir:

Die Philosophen sind häufig wahre Meister des Denkens. Aber das Leben kann nicht gedacht werden. Es muss gelebt werden. Und so, wie du dir einen vollen Magen nicht erdenken kannst, sondern essen musst, kannst du dir ein gutes und gelungenes Leben nicht erdenken. Du musst es leben.

 

Jo.

Damit waren wir wieder da, wo wir vor etlichen Jahren schon mal gewesen waren:

„Lebe so, wie du wünschen wirst, gelebt zu haben.“

Mehr hatten wir nicht.

 

Und wir hatten weiterhin kein Vorbild. Wir fanden keinen einzigen Menschen, den wir um sein Leben oder auch nur um Teile seines Lebens beneidet hätten. Was immer uns auch angepriesen wurde an spirituellen Lehrern, Gurus, Weisen, Religionsstiftern, Teilzeiterleuchteten etc. – wir schauten es uns an, und wir fanden:

Nichts, nichts, nichts.

 

Wir wollten nicht mal Teile aus ihrem Leben.

 

Mittlerweile war uns schon klar geworden, dass wir, was immer wir auch suchten, in unserem Herzen finden würden oder nirgends. Aber sowas hindert uns ja nicht daran, auch mal nach links oder rechts zu schauen – aber wie gesagt: Nichts, nichts, nichts.

 

Also begaben wir uns auf die Reise nach innen. Wenn die Wahrheit, die wir suchen nur in unserem Herzen zu finden ist, dann ist das ja schon mal eine klare Ansage. Damit lässt sich ja schon mal was anfangen.

 

Unsere Reise nach innen dauert jetzt schon einige Jahrzehnte. Wir haben in diesem Blog immer wieder mal davon berichtet (siehe hier).

 

Wir wollen heute eine etwas andere Seite dieser Reise beleuchten:

Nach allem, was wir sehen können, geht es sehr vielen Menschen so wie uns. Sie suchen und suchen und suchen und suchen und wissen gar nicht so genau, was sie suchen. Sie wissen nur, dass ihnen was fehlt. Sie wissen aber nicht, was. Und sie wissen auch nicht, wo sie es finden können.

 

Ob es immer dasselbe ist, was ihnen da fehlt, das wissen wir nicht. Wir können nur feststellen, dass viele Menschen, denen wir begegnen, voller tiefer, starker und recht diffuser Sehnsüchte sind. Irgendwas fehlt ihnen, und sie scheinen große Teile ihres Lebens damit zuzubringen, das entweder zu kompensieren oder direkt danach zu suchen.

 

Und dabei scheint sie, wenn sie älter werden, ein fürchterlicher Schrecken anzutreiben. Dieser Schrecken macht ihnen regelrecht Feuer unterm Hintern (Sprachbild) und scheint bei sehr vielen Menschen zu einer der stärksten Kräfte in ihrem Leben zu werden:

 

„Ich werde sterben müssen, ohne vorher gelebt zu haben.“

 

Dieser tiefe, intensive und dauerhafte Schrecken scheint die Menschen, die von ihm ergriffen sind, zu allem möglichen anzutreiben:

·      Schnell noch ganz viel „erleben“ („Erlebnisse“ kaufen – eine Eventisierung des gesamten Lebens).

·      Sich irgendeiner Aufgabe verschreiben, die einen völlig einnimmt - in der steten Hoffnung, damit dem eigenen Leben Sinn, Tiefe und Bedeutung zu geben. Am besten scheint es zu sein, wenn diese Aufgabe ein Ziel verfolgt, das nie erreicht werden kann.

·      Leben wie in einer Zentrifuge – eilen von Termin zu Termin, von Aufgabe zu Aufgabe, von Projekt zu Projekt … immer in der Hoffnung, im Außen das zu finden, was nur im Innen gefunden werden kann. Da, wo in unserem Leben Stille ist, ist im Leben dieser Menschen hektische Betriebsamkeit. Das ganze Leben wird zu einem einzigen rasenden Stillstand. Immer wieder schauen wir solchen Menschen fasziniert zu und lassen das auf uns wirken.

·      Zynisierung des Lebens – das Leben ist nur ein großer Scherz, ein Bühnenstück, irgendwas, was man nicht allzu ernst nehmen sollte. Denk‘ nicht über das Leben nach, sondern lenk‘ dich ab. Erlebe nicht die Zeit deines Lebens, sondern vertreib dir die Zeit (und damit das Leben). Schmeiß Drogen ein, besauf‘ dich, feier dich in die Ekstase. Das Motto könnte sein: „Her mit dem, was uns glücklich macht.“

·      Simulation eines Lebens in irgendwelchen Parallelwelten – (a)soziale Medien, WoW, RPG, Internetplattformen,Tik-Tok etc. Es scheint dabei immer darum zu gehen, die Zeit irgendwie rumzukriegen und gleichzeitig nicht alleine zu sein.

 

Und natürlich sind alle diese Punkte frei miteinander kombinierbar.

 

Uns steht kein Urteil darüber zu, wie diese Menschen leben. Wenn sie so leben wollen: Bitte sehr. Wir wollen das nicht. Auf gar keinen Fall. Und als außenstehende Betrachter sehen wir vor allem diesen tiefen und intensiven Schrecken, wenn wir diesen Menschen bei ihrem Leben zuschauen:

 

„Ich werde sterben müssen, ohne vorher gelebt zu haben.“

 

Das scheint sie anzutreiben und beinahe nichts anderes. Je älter sie werden, desto stärker scheint das zu werden. Die Illusion, sein ganzes Leben noch vor sich zu haben und noch gaaaaaanz viel Zeit zu haben, verblasst allmählich.

 

Wir sagen:

Was immer du auch suchst – wenn es über die primären materiellen Bedürfnisse hinausgeht:

Du findest es in deinem Herzen oder nirgends.

Und dass du von deinem kostbaren Leben keine Minute vergeuden solltest, bedeutet nicht, dass du dich schrecklich beeilen musst.

Im Gegenteil:

Unsere Erfahrung ist, dass du umso weniger lebst, je mehr du dich beeilst. Hast du also den Eindruck, dass du sterben wirst, ohne vorher gelebt zu haben, dann ist nicht rasende Aktivität angezeigt, sondern das Gegenteil:

 

Innehalten.

 

Und Stille.

 

 

Aber wir können diese Aussage nur über unser eigenes Leben machen. Was wir hier beschreiben, scheint unser Weg zu sein. Wir haben tatsächlich keine Ahnung, was der Weg anderer Menschen ist.

 

In unserem Leben gibt es keine Ereignisse, Feste oder Events. Es gibt keine Aufgaben, die über das Alltägliche hinausgehen, keine Ziele oder Pläne, die von Bedeutung wären. Es gibt keine fröhlichen, gemeinsamen Runden aber auch keine tiefschürfenden Erkenntnisse oder geheimes Wissen. Wir suchen auch nicht die Ablenkung, sondern sind im Gegenteil fast immer sehr fokussiert auf das, was wir gerade tun. Es gibt kein Fernsehen und nur ganz selten Radio (auf langen Autofahrten). Wir trinken nur sehr selten Alkohol, gehen nicht zu Feiern oder irgendwelchen Gesprächsrunden. Hobbys haben wir auch keine … und so weiter, und so weiter. In unserem Leben tut sich - von außen betrachtet – beinahe nichts. Die weitaus meiste Zeit unseres Lebens sind wir alleine und nur mit uns zusammen.

 

Wir sind sehr sicher, dass die allermeisten Menschen es als sterbenslangweilig und viel zu karg erleben würden, wenn sie auch nur annähernd so leben würden wie wir. Aber für uns ist dieses Leben genau richtig. Wir empfinden es als ein sehr intensives Leben. Langeweile ist uns fast völlig unbekannt.

 

Und sollten wir morgen tot umfallen oder übermorgen:

 

Leute, wir können euch versichern, dass wir gelebt haben. Und wie! Das war nicht immer lustig, aber es war sehr intensiv und sehr lebendig.

 

Und tatsächlich gibt es kaum noch was, was wir uns wünschen oder anstreben. Der Tod kann uns morgen holen oder in fünfzig Jahren – wir nehmen’s, wie’s kommt …

 

Und bis dahin leben wir unser kleines Leben.

 

Wir glauben nicht, dass das was für euch wäre.

Aber wir wollten mal davon berichten.

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