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Ausstellung der Menschlichkeit

Vor einiger Zeit hatte ich auf einer meiner Reisen die Gelegenheit, einen Abstecher für Besichtigungen zu machen. Ich stach also ab und besichtigte. Ich besichtigte einen halben Tag lang. Danach war ich voller Eindrücke und sehr müde. Ich ging zu meinem Auto zurück, um heimzufahren. Dabei kam ich an einem Wegweiser vorbei, auf dem stand:

 

„Ausstellung der Menschlichkeit“

 

Ich zuckte mit den Achseln. Ich war bereits voller Eindrücke und hatte Einsendeschluss. Jetzt wollte ich erst mal heim und in eine sehr reizarme Umgebung, um all das zu verdauen. Aber ich merkte auf der Fahrt nach Hause, wie meine Kleinen und meine Innenteile sich weiter mit diesem Hinweisschild beschäftigten: „Ausstellung der Menschlichkeit“. Wir waren voller Vorurteile.

 

Und von diesen Vorurteilen will ich heute schreiben.

 

Nochmal:

Ich weiß beinahe nichts über diese Ausstellung. Ich schreibe hier nur, was uns (meinen Kleinen, meinen Innenteilen und mir) in den Sinn kam, als wir über „Ausstellung der Menschlichkeit“ nachdachten.

 

Also los.

 

Wir haben in den letzten Jahrzehnten schon massiv Propaganda zum Thema „Menschlichkeit“ über uns ergehen lassen. Normalerweise werden dabei die immer gleichen Platitüden und Topoi bemüht. Hungernde Kinder werden gefüttert. Flüchtlinge werden gerettet. In zerbombter Landschaft werden alten Leuten Decken und Kleidung gereicht. Lebensmittel werden verteilt. Wasserflaschen wechseln den Besitzer. Hände berühren sich, Licht von oben fällt auf sie. Kinder mit exotischem Aussehen und sehr großen Augen gucken in die Kamera. Erwachsene Menschen stehen mit ernster und betroffener Mine beieinander und schauen auch in die Kamera. Darunter irgendein sanfter aber doch leicht vorwurfsvoller Spruch, der darauf hinausläuft, dass man gefälligst Geld herzugeben hat. Der Lichtfall und die Farbgebung bei diesen Bildern sind fast immer dieselben.

 

Lichtstrahl. Hoffnung. Erbarmen. Jesus Christus in all seinem Leid und in all seiner Glorie. Öffnungen im Himmel, durch die Licht fällt. Krankenhäuser im Dschungel, Brunnen in der Wüste. Abgemagerte Rinder in gedämpftem Licht beim Marsch durch eine öde Ebene auf dem Weg irgendwohin. Leere Essensschüsseln, die von irgendwelchen Händen nach oben gereckt werden. Tauben fliegen auf, und der Papst (alternativ der Dalai Lama) hat auch noch was zu sagen.

 

Und so weiter.

Menschlichkeit eben.

 

Auf uns wirkt sowas immer extrem manipulativ. Wir haben dann immer den Eindruck, in das Innere einer gut geölten und auf Effizienz getrimmten Geldbeschaffungsmaschine zu schauen.

Immer dieselben Bilder.

Immer dieselben Themen.

Immer dieselben Sprüche.

Seit Jahrzehnten schon.

 

Wir begreifen nicht, was das exemplarisch Menschliche daran ist. Aber das ist nicht weiter wild. Es gibt sehr vieles, was wir nicht begreifen.

 

 

Das ist die eine Seite.

Diese Seite ist für uns lästig aber eher unbedeutend.

Es gibt aber noch eine andere Seite

Und die halten wir sogar für extrem bedenklich.

Schauen wir uns das mal an.

 

 

Wir nehmen an, dass die meisten Menschen auf die Frage:

„Was bedeutet für Sie Menschlichkeit?“

spontan sehr ähnlich antworten würden:

 

Menschlichkeit bedeutet:

Barmherzigkeit, Sanftmut, Hilfe, gut miteinander umgehen, Frieden halten, den Bedürftigen helfen, die Opfer sichtbar machen und ihnen eine Stimme geben, Gerechtigkeit, Ausgleich, Güte, Toleranz, Mitleid …

 

Und so weiter.

Wir denken, dass klar ist, worauf das hinausläuft.

 

Jedenfalls war unser Vorurteil, dass eine „Ausstellung zur Menschlichkeit“ hinausläuft auf

a)    die üblichen Topoi, die wir weiter oben geschildert haben oder

b)    die hier genannten Begriffe und Andeutungen

 

Wir erleben es jedenfalls bei unserer Arbeit beinahe ständig, dass wir Menschen begegnen, für die Menschlichkeit all diese positiven Tugenden und Verhaltensweisen bedeuten. Und die Gegenteile davon: Grausamkeit, Egoismus, Gewalttätigkeit, Gleichgültigkeit, Herzenskälte etc. – das ist dann eben unmenschlich.

 

Und das eine muss man anstreben, und das andere muss man möglichst ausmerzen. Oder sonst irgendwie verringern und vermindern. Der Glaubenssatz dahinter ist nach unserer Erfahrung meistens: Menschlicher werden wir dadurch, dass wir das Unmenschliche in uns zurückdrängen, verringern und schlussendlich vernichten. Oder dadurch, dass wir uns voll auf die menschliche Seite in uns konzentrieren.

 

Auf jeden Fall wird ein Aufruf, dass wir menschlicher miteinander umgehen müssen, sehr wahrscheinlich nicht darauf hinauslaufen, dass wir grausamer, gemeiner und herzloser miteinander umgehen sollten.

 

Aber beides – das humane und das inhumane - ist menschlich. Sonst täte der Mensch es nicht. Und ich denke, dass das schon bei sehr flüchtiger Betrachtung dieses Themas jedem Menschen klar ist:

Es ist sogar sehr menschlich, grausam zu sich und zu anderen zu sein, gleichgültig gegenüber dem Leid anderer zu sein und so weiter. Menschen tun das täglich und in großem Ausmaß.

 

Die meisten Erwachsenen, denen wir begegnen, leiten aus dieser Einsicht vor allem zwei Schlüsse ab:

 

1

Der Mensch ist schlecht. Er war schon immer schlecht, und er wird immer schlechter. Es ist nur gut und richtig, wenn er demnächst wieder von der Erde verschwindet. Er hat es nicht besser verdient.

Und so weiter.

 

2

Wir müssen als Menschheit besser und edler werden. Wir müssen zu mehr Humanität finden und all das, was unmenschlich (im Sinne von inhuman) in uns ist, ausmerzen.

Karl May brachte das sehr gut auf den Punkt, als er kurz vor seinem Tod in Wien einen Vortrag hielt:

„Empor zum Edelmenschen“

 

 

In unserer Welt sind beide Schlussfolgerungen unlogisch und deutlich zu kurz gedacht.

In unserer Welt gilt:

 

1

Du kannst in dir nur das verändern, was du vollumfänglich und liebend akzeptierst.

Alles andere kannst du nur wegschieben, ins Dunkel verbannen, totschweigen oder überspielen.

 

Daraus folgt:

Du kannst das Inhumane in dir nur vermindern, wenn du die inhumanen Seiten in dir vollumfänglich liebend akzeptierst:

Ja, ich bin grausam, ja ich bin gemein, ja ich bin … und so weiter

Und das sind sehr wertvolle und gute Teile von mir.

 

Und noch etwas anderes scheint uns sehr wichtig zu sein:

Nach unserer Erfahrung gilt:

 

2

Je länger und intensiver du etwas bekämpfst, desto ähnlicher wirst du ihm.

 

Wenn du es also zu deiner Lebensaufgabe machst, die Unmenschlichkeit zu bekämpfen, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass du bei diesem Kampf immer unmenschlicher werden wirst. Wenn du es zu deiner Lebensaufgabe gemacht hast, die Ungerechtigkeit zu bekämpfen, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass du im Lauf der Jahre immer ungerechter wirst.

Und so weiter.

 

Unser Eindruck ist, dass die größten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit beinahe immer begangen wurden, um irgendwelche besonders edlen Ziele zu erreichen. Und auch bei den kleinen und alltäglichen Gemeinheiten und Abscheulichkeiten, die Menschen einander antun, haben wir beinahe nie den Eindruck, dass irgendwer morgens aufsteht und sich sagt:

„So, das ist wirklich ein herrlicher Tag! Zeit und Gelegenheit, mal wieder richtig gemein und grausam zu den anderen zu sein.“

 

Nein, die Leute scheinen beinahe immer irgendwelche sehr honorigen Ziele zu verfolgen, wenn sie gemein und grausam zu sich oder zu anderen sind:

Sie wollen Ungerechtigkeit beseitigen, sie wollen helfen, sie wollen Dinge klarstellen, sie wollen die Welt retten, sie wollen andere zu besseren Menschen machen, sie wollen dem Recht zu seinem Recht verhelfen … und so weiter.

 

Eigenartig, nicht?

 

 

Also – auf den Punkt gebracht:

 

Zu jedem Menschen gehört immer beides – das, was eher human ist und das, was eher inhuman ist. Beides ist gleich wichtig, wertvoll und willkommen. Beides ist menschlich.

 

Nochmal, weil das so wichtig ist:

Buchstäblich jeder Teil eines Menschen ist wichtig, wertvoll und willkommen. Und sei dieser Teil noch so abscheulich, widerwärtig oder inhuman.

 

Warum ist das so?

Wenn wir Teile von uns verurteilen, verdammen, abschieben oder sogar töten und vernichten wollen, dann tun wir uns unrecht. In dem Maße, wie wir mit diesem Ansinnen erfolgreich sind, verstümmeln wir uns und machen uns unmenschlich. Der Kampf gegen Teile von uns ist immer ein Kampf gegen uns selbst. In diesem Kampf gibt es nur Verlierer.

 

Wenn wir menschlich werden wollen, dann müssen wir alle unsere Teile bei uns liebend aufnehmen und willkommen heißen. Auch und gerade die, die wir eigentlich nicht so gerne bei uns haben wollen. Denn alle Teile gehören zu uns. Sie machen uns menschlich. Wenn sie fehlen, dann fehlt etwas ganz wichtiges.

 

Dabei sind zwei Erweiterungen sehr wichtig:

 

1

Wenn wir als Kind von Erwachsenen schlecht behandelt wurden, dann haben wir zugleich mit dieser schlechten Behandlung Teile dieser Erwachsenen in uns aufgenommen. Als Kind erleben wir es so, dass dieser Teil des Erwachsenen in Wirklichkeit ein Teil von uns ist. Es ist unserer Aufgabe als Erwachsener zu lernen, das eine vom anderen zu unterscheiden:

Was in mir ist tatsächlich ich, und was in mir ist lediglich eine Repräsentanz derer, die mich damals so schlecht behandelt haben?

 

Diese Unterscheidung ist nicht immer einfach und braucht sehr oft viele, viele Jahre sowie liebevolle und kompetente Begleitung

 

2

Wenn wir die inhumanen, grausamen, vom Neid zerfressenen, missgünstigen, übellaunigen, sadistischen etc. Teile von uns bei uns willkommen heißen, sie lieben und schätzen lernen, dann ist es gleichzeitig sehr wichtig, dass wir liebevoll uns konsequent dafür sorgen, dass sie nicht verhaltenswirksam werden können. Oder präziser:

Dass sie ihr Verhalten nur in einem Umfeld ausleben können, das gewährleistet, dass dabei niemand zu Schaden kommt.

 

Wenn ich zum Beispiel den Teil von mir wiederfinde, der im Alter von zwei Jahren die ganze Welt zerstören wollte, dann ist es wichtig, dass ich ihn liebend annehme und ihm einen gebührenden und gleichberechtigten Platz in meinem Herzen gebe. Aber es kommt selbstverständlich nicht in Frage, dass ich erlaube, dass er sich jetzt unkontrolliert austobt und Amok läuft.

 

Wenn er immer noch so viel Rache und Vernichtung in sich trägt, dann ist es meine Aufgabe, ihm einen geschützten Rahmen zu schaffen, in dem er wüten kann.

 

Auch das ist in aller Regel nicht einfach und braucht oft viele, viele Jahre sowie liebevolle und kompetente Begleitung.

 

 

Zusammengefasst

Wenn wir menschlich werden wollen, dann ist es zwingend erforderlich, dass wir gerade die Teile von uns liebend annehmen, die wir als unmenschlich, unzumutbar oder verachtenswert erleben. Ohne das geht’s nicht. Ohne das können wir nicht menschlicher werden.

 

In dem Maße, wie wir versuchen, diese Teile von uns auszumerzen, abzuschieben oder abzutöten, werden wir unmenschlicher.

 

 

Und wir sind sehr sicher, dass dieses Naturgesetz keinerlei Beachtung findet, wenn jemand eine „Ausstellung der Menschlichkeit“ kuratiert. Das ist zwar nur ein Vorurteil von uns, aber damit können wir leben.

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