· 

Der nächste Tag

Zur Zeit (Mitte 2023) ist unsere innere Situation so, dass wir sehr viele Kleine um uns haben, die wir die Neuen Kleinen nennen. Sie sind ungefähr zweieinhalb Jahre alt und kommen alle aus derselben Situation zu uns. Eine Situation so schrecklich, so zerstörend und so verstörend, dass wir es für sehr unwahrscheinlich halten, dass wir jemals mehr als Andeutungen dazu schreiben werden. Diese Einschätzung mag sich mit den Jahren ändern, keine Frage. Aber im Moment belassen wir es dabei.

 

Die Neuen Kleinen sind viele. Und laufend werden sie mehr. Für sie ist so ziemlich alles, was sie erleben, völlig neu:

·           In einem warmen, trockenen Bett schlafen.

·           Sich satt essen können.

·           Sich aussuchen dürfen, was gegessen wird.

·           Frei von der Furcht leben können.

o   … von der Furcht, jederzeit, gefoltert und vergewaltigt werden zu können.

o   … von der Furcht, jederzeit angeschrien oder schwer geschlagen zu können.

o   … von der Furcht, dass jederzeit was ganz schlimmes passieren kann.

o   … von der Furcht, hier nie wieder lebend rauszukommen.

o   … von der Furcht, in die Fremde verkauft zu werden und die Heimat nie wieder zu sehen.

o   … und so weiter.

·           Einfach irgendwo sitzen oder liegen können – in völliger Sicherheit für Leib und Leben.

·           Draußen spazieren gehen können und sich alles anschauen können.

·           Über den eigenen Körper bestimmen können und seine Grenzen jederzeit verteidigen können.

·           Vorgelesen bekommen.

·           Spielen dürfen.

Und so weiter.

 

Es sind sehr intensive Zeiten, in denen wir leben. Von außen betrachtet passiert in unserem Leben beinahe gar nichts. So wie immer. Keine Erlebnisse, keine Unternehmungen, keine Sozialkontakte, keine Events, kein Kino, kein Theater, kein Fernsehen (das schon gar nicht!) … und so weiter, und so weiter. So ein Leben wäre für die meisten Menschen, die wir kennen, der Inbegriff der tödlichen Langeweile.

 

Aber schon allein, wenn die Neuen Kleinen all diese neumodischen Wasserhähne ausprobieren und mit allen Sinnen aufnehmen, wie das Wasser fließt und plätschert und rauscht und wie gut es dabei riecht …

Damit können wir uns ziemlich lange beschäftigen.

In der Zeit, aus der sie kommen, roch das Wasser, das aus dem Wasserhahn kam, immer nach Badeanstalt. Jetzt riecht es nach Wasser.

 

Oder wenn wir sie auf einen unserer abendlich/nächtlichen Spaziergänge mitnehmen und sie zum ersten Mal diese Weiden und Felder sehen. Sie nehmen ungemein differenziert wahr, wie das Licht fällt und wie der Lichtfall sich verändert, wenn die Sonne untergeht und aus dem Abend allmählich Nacht wird. Sie erleben das alles zum ersten Mal. Sie gehen vollkommen darin auf. So vollkommen, dass ich mich gegen meine Gewohnheit immer wieder auf eine Bank setze, damit sie Zeit haben, sich das alles anzuschauen, das alles zu riechen und in sich aufzunehmen.

 

Und überhaupt – Glühwürmchen!

Wenn wir völlig alleine in der einbrechenden Dunkelheit im Wald unterwegs sind und all diese kleinen, leuchtenden Smaragde lautlos die kühler werdende Luft erfüllen …

 

Große Teile des Tages sind wir einfach nur zusammen da und nehmen wahr.

Und das ist dann auch schon alles.

 

In ein paar Monaten werden wir sechzig Jahre alt. Vier Jahrzehnte haben wir intensiv daran gearbeitet, diese Kleinen zu finden und zu befreien. Und jetzt kommen sie zuhauf. Sechzig Jahre alt und zugleich voller Kleiner, die die Welt entdecken. Das stößt natürlich auf Grenzen und Widersprüche.

 

Körperlich sind wir sechzig Jahre alt. Vielleicht haben wir uns besser gehalten als andere Sechzigjährige. Aber wir leben in unserer zweiten Lebenshälfte und nicht am Beginn unser aller Leben. Da beißt die Maus keinen Faden ab.

 

Und uns wird immer wieder schmerzhaft deutlich, dass sie sehr viele von uns um den größten Teil ihres Lebens betrogen haben. Wir können die Uhr nicht zurückstellen auf die Zeit, wo wir zweieinhalb Jahre alt waren und von dort unser Leben neu beginnen. Die Neuen Kleinen haben Jahrzehnte in diesen Folter- und Vergewaltigungskellern verdämmern müssen, in einer Endlosschleife, die sich jeder Beschreibung entzieht. Denen von euch, die vergleichbares erlebt haben, brauchen wir es nicht zu beschreiben oder zu erklären, denn ihr wisst, worum es geht. Den anderen können wir es weder beschreiben noch erklären. Was immer wir auch schreiben würden, es würden für euch blasse und dürre Worte bleiben, die nichts aussagen.

 

Das ist so, als hättest du noch nie mit Milch oder Milchprodukten Kontakt gehabt. Und ich würde dir einen Tetrapak frische Milch in die Hand drücken – einen Liter. Du schaust auf die Packung und liest:

„Milch“

Aber was soll dieses Wort für dich bedeuten, und was soll es dir sagen, was soll es in dir auslösen?

 

Die Neuen Kleinen wollen kaum mit erwachsenen Menschen zu tun haben, weil sie sehr genau sehen können, was in ihnen alles unerlöst ist. Die Neuen Kleinen können genau sehen, wie groß die emotionale und kognitive Verwahrlosung und die Zerstörung in ihnen ist. Wenn sie sich Erwachsene anschauen, zucken sie immer zurück. Sie sehen diese Gewalt und dieses Elend. Davon hatten sie in ihrer alten Welt schon genug.

Und als die ersten von ihnen zu uns kamen, informierten sie mich (den Großen) auch nachdrücklich, dass sie niemals in diese „kaputte und zerstörte Welt“ zurückgehen würden. Damit meinten sie nicht die Welt, aus der sie kommen, sondern die Welt, die uns heute aktuell umgibt.

 

Ich kann ihnen jedoch keine andere Welt schnitzen, und ich kann ihnen die Erwachsenen nicht gewaltfreier machen. Ich bin weder berufen noch fähig, die Welt zu heilen. Und so führen wir ein sehr zurückgezogenes Leben.

 

Wir schauen dann immer wieder zurück auf all die Jahrzehnte, in denen sie nicht gelebt haben, sondern in dieser Endlosschleife gefangen waren.

 

Einschub

Zur Erklärung für die, die sich mit Trauma nicht auskennen:

Wenn du schwer traumatisiert bist, dann vergeht diese Situation für dich nicht. Sie kann nicht im Langzeitgedächtnis als etwas Vergangenes abgelegt werden. Und so sind die Teile von dir, die dieses Trauma tragen, in einer Endlosschleife gefangen. Diese Situation vergeht für sie nicht. Normalerweise ist dir das als Überlebendem nicht bewusst, und diese Gefühle und Erlebnisse existieren in dir als eine völlig eigenständige, in alle Richtungen abgeschottete Welt. Als Überlebender vergisst du diese Situationen schon in dem Moment, wo dir das passiert. Aber es gärt und schwärt in dir weiter – all die Jahre. Es vergiftet dein Leben und deinen Körper. Es führt zu einem elenden Leben und einem viel zu frühen Tod, ohne dass du begreifst, was eigentlich vorgeht.

Einschub Ende

 

Sie haben uns also Jahrzehnte unseres Lebens gestohlen. Das ist ein Faktum. Die Neuen Kleinen sind nicht in der Lage, das zu überblicken. Aber sie unterhalten sich natürlich den ganzen Tag intensiv mit den Kleinen, die schon viel länger bei uns sind. Und so bekommen sie schon mit, dass ihnen da was ganz wichtiges genommen wurde. Sie haben keine Chance, noch hundert Jahre zu leben - das gibt unser Körper einfach nicht her. Da sie so gerne leben und ganz vieles von dem, was sie jetzt erleben und erfahren dürfen, so wundervoll finden, wollen sie aber so lange leben, wie es irgendwie geht.

 

Und so setze ich mich in den letzten Tagen immer wieder mit ihnen hin, und sie erzählen mir von ihrer Welt und ihren Entdeckungen. Oft sitzen wir dabei draußen im Taunus auf einer Bank hoch oben im Wald. Der Abend wird allmählich Nacht, und wir wissen, dass wir sehr bald wieder ganz viele Glühwürmchen sehen werden. Sie saugen die Momente geradezu in sich auf. All das sich ständig verändernde Licht, all die Gerüche …

 

Unserer Tage sind so intensiv und so voll, dass sie abends regelrecht ins Bett fallen und dann auch sehr schnell einschlafen – voller Eindrücke und voller Vorfreude auf den nächsten Tag.

 

Und wenn wir dann auf dieser Bank sitzen – schweigend, bis sie anfangen, sich an mich zu wenden, um zu erzählen und zu berichten, dann thematisieren sie immer wieder auch, wie sie sich ihr Leben vorstellen. Sie sind manchmal voller Angst, dass sie zu kurz kommen werden. Dass sie all das hier wieder verlieren werden, weil wir so früh sterben werden.

 

Aber auf der anderen Seite – sie können gerade mal ein wenig zählen. Wenn ich sie frage, wie alt sie sind, dann müssen sie an den Fingern abzählen, um die richtige Antwort zu finden. Zahlen wie vierzig oder hundert überfordern sie völlig. Sie wissen aus Gesprächen mit den Kleinen, die schon deutlich länger bei uns sind, dass ihnen ein großer Teil ihres Lebens gestohlen wurde. Und dann sind sie sehr traurig und wenden sich an mich.

 

Wenn ich dann mit ihnen bespreche, was sie heute erlebt haben und worauf sie sich am meisten freuen, kommen sie nie weiter als bis zum nächsten Tag. Der Abend wird bald Nacht. Und sie wissen, dass wir dann nach Hause gehen werden – durch viele, viele Glühwürmchen -, damit sie rechtzeitig einen Schlafplatz (ihr Bett) finden. Und dann werden sie schlafen. Das alles wissen sie schon. Das wissen sie sehr sicher.

 

Und wenn sie dann ihr Herz groß und weit machen und sich vorstellen und überlegen, wie ihr Leben weiter gehen wird, dann zählt für sie immer nur der nächste Tag. Der nächste Tag, wo sie aufstehen und wieder so viel erleben und entdecken werden.

 

Und vielleicht ist es das, was auf Dauer zählt:

Dass ich als Großer dafür sorge, dass die Neuen Kleinen so viele nächste Tage bekommen, wie es nur irgend geht. Denn das scheint das einzige zu sein, was für sie außer dem jeweils aktuellen Moment gerade zählt:

 

Der nächste Tag.