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Ratlosigkeit

1 Der ungeheure Lärm der öffentlichen Diskussion

 

Ich bin im öffentlichen Raum umgeben, umwabert und umwoben von den Äußerungen von Menschen, die ganz offensichtlich einer ziemlich kleinen Minderheit angehören, die ich aber als extrem meinungsstark und als extrem laut empfinde.

 

Vier Dinge scheinen bei diesen Menschen zusammenzukommen:

 

a)    Eine starke, geradezu felsenfeste Meinung zu so ziemlich jedem Thema

b)    Ein ausgeprägtes Bedürfnis, diese Meinung zu äußern und anderen Menschen damit nahezutreten

c)    Vergleichsweise geringe Sachkenntnis und Reflektiertheit

d)    Ein ganz, ganz starkes Bedürfnis, Recht zu haben

 

Woraus sich das bei diesen Menschen alles speist, ist mir bislang unbekannt. Ich habe den Eindruck, dass ich ganz anders in der Welt bin als diese Menschen.

 

Zu a)

Starke Meinung

 

Meine Meinungen sind sehr oft nicht stark. Im Gegenteil: Wenn ich gute Argumente höre, kann ich sehr leicht schwankend werden. Meine Meinungen sind meistens nur Augenblicksbetrachtungen: Wenn ich eine Meinung zu etwas habe, dann ist das meine Meinung zum jetzigen Zeitpunkt. Schon morgen kann ich deutlich bessere Argumente gehört haben, und dann wird meine Meinung wieder eine andere sein. Das gilt nicht für alle Themen, aber für die weitaus meisten.

 

Zu b)

Starkes Bedürfnis, diese Meinung zu äußern und anderen damit nahezutreten

 

Mein Bedürfnis meine Meinung zu äußern erlebe ich als eher gering. Meine Meinung halte ich nicht für wichtig. In Diskussionen erlebe ich mich fast immer als interessierter Zuhörer. Denn:

Meine Meinung kenne ich ja. Jetzt interessieren mich Argumente und Sichtweisen, die diese Meinung hinterfragen, damit ich zu einer differenzierteren Sichtweise kommen kann.

 

Zu c)

Vergleichsweise geringe Sachkenntnis und Reflektiertheit

 

Verglichen mit dem, was ein Mensch über irgendwas wissen kann, weiß ich zu beinahe jedem Thema beinahe nichts. Mein Wissensstand lässt sich sehr akkurat so beschreiben:

Das ist mein derzeitiger Stand des Unwissens.

 

Und ob ich reflektiert bin? Du liebe Güte! Dass ich dazu neige, über viele Dinge sehr lange und intensiv nachzudenken, sollte nicht überbewertet werden.

 

Ich bin also extrem unwissend bei den meisten Themen.

Genau dasselbe erlebe ich aber auch bei den Menschen, die anscheinend befreit von jeder Art des Selbstzweifels laut- und meinungsstark im öffentlichen Raum rumlärmen.

 

Zu d)

Ganz starkes Bedürfnis Recht zu haben

 

Auch hier:

Ach du liebe Güte! Wer Recht hat, ist mir fast immer vollkommen gleichgültig. Ich strebe nicht danach, Recht zu haben, Recht zu bekommen und Recht zu behalten. Das ist irrelevant für mich. Relevant ist einzig die Realität. Und die Logik. (Wobei: Was nicht logisch ist, das kann auch nicht real sein, muss also eine Illusion oder ein Irrtum sein).

 

Ich strebe also nicht an, Recht zu haben, sondern real zu sein.

Real zu sein in dem Sinne:

a)    Ich will da sein, wo ich bin. Mit allen Gedanken, Gefühlen, Wahrnehmungen und Handlungen.

b)    Ich will Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken klar trennen können

c)    Ich will die Realität so wahrnehmen, wie ich sie wahrnehmen kann, wenn meine erlernten und erworbenen Filter wegfallen.

 

Und wenn du eine andere Meinung hast als ich: Bitte sehr. Du wirst deine Gründe haben.

 

Zwischenfazit:

 

1

Ich habe den Eindruck, dass ich im öffentlichen Raum umgeben bin von den Meinungsäußerungen einer lautstarken Minderheit, der es extrem wichtig ist, (a) ihre Meinung zu äußern, (b) mit dieser Meinung anderen nahe zu treten und (c) schlussendlich Recht zu haben.

Gleichzeitig erlebe ich diese Menschen als vergleichsweise wenig sachkundig und reflektiert.

 

2

Ich habe diese drei Bedürfnisse (a – c) in vergleichsweise geringem Maße und kann daher nur vermuten, welche psychische Dynamik diese Menschen antreibt. Was haben sie davon, dass sie Recht haben? Warum ist es ihnen so extrem wichtig, ins Gespräch über ihre Meinung zu kommen?

Und so weiter.

Ich kann es nur vermuten.

Ich habe viele solcher Menschen interviewt, bin aber dadurch nicht viel schlauer geworden.

 

2 Klar Position beziehen, eine Seite wählen

 

Ich erlebe die öffentliche Diskussion beinahe immer als extrem polarisierend und zugespitzt. Je länger eine öffentliche Diskussion zu einem Thema andauert, desto mehr scheinen die Zwischentöne zu verschwinden. Immer weniger scheint es darum zu gehen, Argumente und Sichtweisen auszutauschen, sondern darum, auf der richtigen Seite zu stehen und klar Position zu beziehen.

 

Die Art und Weise, wie diskutiert wird, erlebe ich fast immer als sehr dürftig:

a)   Es werden schwere logische Fehler gemacht. Reihenweise. In jedem Lager und von jeder Seite. Die Menschen scheinen zu sprechen und zu schreiben, ohne irgendeiner Form von Qualitätskontrolle zu unterliegen. Im wissenschaftlichen Diskurs gibt’s immerhin die Hürde des „peer-review“. Mit anderen Worten: Wer sich wissenschaftlich äußert, zum Beispiel in wissenschaftlichen Publikationen, der muss das, was er zu sagen hat, erst mal einem Gremium von Wissenschaftlern vorlegen, die den Gehalt dessen, was da publiziert werden soll, prüfen.

 

Vergleichbares scheint für die öffentliche, nichtwissenschaftliche Diskussion nicht zu gelten. Logisch gesehen ist das, was in der öffentlichen, nichtwissenschaftlichen Diskussion geäußert wird, ganz häufig falsch:

  • Ursache und Wirkung werden durcheinandergeworfen
  • Fakten werden (bewusst) verkürzt wiedergegeben, wenn das die eigene Position stärkt.
  • Fakten werden danach selektiert, ob sie die eigene Meinung stärken. Fakten, die der eigenen Meinung eher widersprechen, werden abgewertet, nicht wahrgenommen oder ausgeblendet.
  • Es werden absolut hanebüchene Prämissen gemacht, von denen aus formallogisch richtig geschlossen wird.
  • Wenn die Prämissen hinreichend sinnvoll sind, wird bei der Schlussfolgerung so ziemlich jeder Fehlschluss gemacht, den es gibt (naturalistischer Fehlschluss, ad hominem, Argument der Ignoranz, zeitliche Korrelation bedeutet kausale Korrelation, Zirkelschlüsse und so weiter).

b)   Die allermeisten Diskussionsbeiträge erlebe ich als emotional und kognitiv sehr verwahrlost. Je länger eine öffentliche Diskussion andauert, desto stärker und umfassender scheint die kognitive und emotionale Verwahrlosung zu werden.

  • Statt des Arguments wird die Person angegriffen
  • Aggregationsniveaus werden munter gewechselt. (Zum Beispiel: Der eine macht etwas aus seiner unmittelbaren Umwelt deutlich: „Ich will meinen ökologischen Fußabdruck verkleinern, deshalb esse ich weniger Fleisch.“ Der andere kontert mit einem Argument auf globaler Ebene: „Ja, dann musst du aber auch … auf das Tragen von Lederschuhen verzichten, dein Auto abschaffen, dafür sorgen, dass in China weniger Fleisch gegessen wird … etc.“)
  • Meinungen und Interpretationen werden nicht von Fakten unterschieden
  • Argumentationsebenen werden munter gewechselt, wie es gerade passt. (Beispiele: Der eine will Fakten sichten und interpretieren. Der andere beginnt, moralisch zu argumentieren. (Und umgekehrt, versteht sich). Oder: Der eine will logisch argumentieren, der andere beginnt, Glaubensinhalte zu verkünden. (Und umgekehrt, versteht sich).

c)    Je länger die öffentliche Diskussion dauert, desto wichtiger scheint die Lagerbildung zu werden:

Bist du einer von den Roten oder einer von den Blauen?

Gehörst du zum richtigen oder zum falschen Lager?

Gehörst du zu uns oder muss man dich bekämpfen?

Und so weiter.

 

Für diese lärmenden Profidiskutierer scheint es unerlässlich zu sein, die Komplexität der Wirklichkeit so weit zu reduzieren, bis nur noch richtig und falsch, gut und böse übrigbleiben.

 

3 Ich will das alles nicht

 

Ich empfinde diese Form des Umgangs miteinander als extrem abstoßend. So will ich nicht in der Welt sein, so will ich nicht kommunizieren. Ich habe nicht den Eindruck, dass wir auf der inhaltlichen oder sachlichen Ebene weiter kommen, wenn auf diese Weise diskutiert wird. Wir entwickeln uns auch nicht als Menschen weiter, wenn wir so miteinander umgehen. Zum Schluss scheinen nur noch zwei Lager zu bleiben, die einander täglich anfeinden und mit Meinungsglyphosat überziehen. Wozu soll das gut sein?

 

Deshalb gestatte ich mir, bei den allermeisten Themen des „öffentlichen Diskurses“ außen vor zu bleiben. Bürgergeld, Migration, Umgang mit dem Klimawandel, Ukrainekrieg, Schwäche des Euro und so weiter, und so weiter. Ich will mich dazu nicht äußern. Ich werde renitent bis zur Feindseligkeit, wenn jemand in mein Leben eingreifen will (Stiller, du musst jetzt gendern, das machen jetzt alle so. Stiller, du musst jetzt vegan leben, alles andere ist unverantwortlich. Stiller, du musst … sonst stirbt der Planet).

 

Aber ansonsten leiste ich mir zu fast allen Themen fast immer einen Zustand, der mir höchst vertraut ist:

Ratlosigkeit.

 

Ich habe fast immer den Eindruck, dass ich beide Seiten sehr gut verstehen kann. Gleichzeitig bin ich mir ziemlich sicher, dass es neben den beiden Lagern A und B auch noch irgendwo die Lager C, D und E gibt – deren Sichtweisen ich ebenso gut verstehen könnte, wenn ich sie kennen würde.

 

Ich bin ratlos. Ich kann die Komplexität der Materie auch nicht durchdringen. Je mehr ich über eine Sache lerne, desto mehr lerne ich, was ich alles nicht weiß. (Ich habe den Eindruck, dass gerade in der öffentlichen Diskussion häufig gilt:

Die Menschen mit dem wenigsten Wissen haben auch die wenigsten Zweifel).

 

Ich bin ratlos. Auch meine Sicht der Dinge ist immer eine sehr verkürzte Sicht der Dinge. (Mehr ist einfach nicht leistbar). Und selbstverständlich ist mir bewusst, dass es unmöglich ist, so zu leben, dass niemandem Unrecht getan oder Schaden zugefügt wird. (Den Heiligen der beiden Lager A und B ist das natürlich möglich, keine Frage. Das geben sie ja auch gerne, lauthals und ausführlich kund und zu wissen. Die können leben, ohne schuldig zu werden. Aber mir in meinem Leben ist das halt nicht möglich).

 

Ich bin ratlos. Ich weiß, dass auch die Menschen, die ganz furchtbare Dinge tun, aus Gründen handeln, die in ihrer Welt gute Gründe sind. (Natürlich müssen diese Menschen wirksam gehindert werden, ihre Absichten in die Tat umzusetzen, darum geht’s nicht. Hier geht es darum, dass ich weiß, dass die Menschen, die als „böse“ gelten, in aller Regel nicht aus „bösen“ Gründen handeln, sondern aus „guten“).

 

Ich nehme in den letzten Jahren eine immer stärkere Polarisierung in öffentlichen Diskussionen wahr und einen immer stärkeren werdenden Druck, sich irgendeinem Lager anzuschließen. Das hängt nach allem, was ich sehen kann, ganz stark mit dem übermäßigen Gebrauch der (a)sozialen Medien zusammen. Diese Medien scheinen fast immer so zu funktionieren wie gigantische Hassverstärkungsmaschinen.

 

Wenn es irgendwie geht, dann vermeide ich es, mich irgendeinem Lager anzuschließen. Häufig höre ich Sätze, die so klingen:

„Stiller, was ist denn deine Meinung zu …?“

„Sag mal, Stiller, was hältst du eigentlich von …?“

In der Regel kann ich der Frage ausweichen, indem ich irgendwas in der Art sage:

„Oh, das ist jetzt ein ziemlich weites Feld. Wie gehst du denn mit diesem Thema um?“

Und dann höre ich mir interessiert an, was dieser Mensch zu sagen hat.

 

Ich werde renitent bis zum Anschlag, wenn irgendein Protagonist dieser lautstarken, meinungsstarken Minderheit mir vorschreiben will, wie ich zu leben habe. Aber ansonsten?

Ansonsten bin ich ratlos, und ich habe noch nie gehört, dass es irgendwo das Lager der Ratlosen gibt. (Da würde ich mich vermutlich auch nicht zugehörig fühlen, weil ich sehr sicher bin, dass die kognitiv und emotional verwahrlosten Leute, die so gerne mit Meinungsglyphosat um sich schmeißen, gerade in diesem Lager nach ihren Opfern suchen würden).

 

Ich bin ratlos. Aber auch das will ich ganz offen sagen:

Ich kann hervorragend damit leben.

 

Ich muss nicht alles wissen. Ich muss nicht zu allem eine Meinung haben. Ich muss mich nicht zu allem und jedem positionieren. Schon gar nicht öffentlich. Ich muss auch nicht Recht haben. Und nein, ich muss mich auch nicht mit all den lärmenden, emotional und kognitiv extrem verwahrlosten Meinungsaposteln auseinandersetzen – ich kann auch beschließen, ihnen aus dem Weg zu gehen.

„Stiller, du musst doch eine Meinung dazu haben!“

Nein, muss ich nicht.

 

Ich bin fast immer und in ganz vielerlei Hinsicht ratlos.

Das bedeutet nicht, dass ich uninteressiert bin – im Gegenteil: Ich halte mich für einen ungewöhnlich gut informierten Menschen.

Aber ich bin ratlos.

 

Es geht mir sehr gut damit.

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