Guck‘ nach innen – bleib bei dir

Heute soll es darum gehen, dass wir die äußere Realität nur in dem Maße wahrnehmen können, wie uns unsere innere Realität bewusst ist.

 

Schau’n wir uns das mal an.

 

1

Als wir in der elften Klasse waren, kam unser Deutschlehrer auf die Idee, jeden im Kurs eine „Semesterarbeit“ schreiben zu lassen. Er kam mit einem Packen von Literaturvorschlägen. Und jeder sollte sich einen Titel aussuchen und hatte dann mehrere Monate Zeit, eine Arbeit über dieses Buch zu schreiben.

Er schlug uns vor „Die Leiden des jungen Werther“ zu bearbeiten. Goethe. Ausgerechnet. Wollten wir nicht. Goethe ist nicht unser Lieblingsschriftsteller. (All die anderen Schriftsteller aber auch nicht!)

 

Der Deutschlehrer versuchte, uns das schmackhaft zu machen. Er wusste, dass wir Psychologe werden wollten. So schlug er uns vor, herauszuarbeiten, wie man in diesem Buch an der Beschreibung der Landschaft immer erkennen könne, wie sich Werther gerade fühlt.

 

Das war uns bei Filmen schon aufgefallen:

Wenn man darauf achtete, wie das Licht fiel und wie das Wetter und die Landschaft waren, dann konnte man bei den meisten Filmen sehr sicher vorhersagen, was als nächstes kommen würde.

 

Aber wir hatten keine Lust.

 

Also bekamen wir Handke auf’s Auge gedrückt (Sprachbild). „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“.

Wir hatten von diesem Schriftsteller noch nie was gehört. Also sagten wir zu. Wir wurden eines besseren belehrt: Peter Handke ist als Schriftsteller mindestens genauso schlecht wie alle anderen. Und „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ ist wirklich ein ausgesprochenes Scheißbuch.

 

2

Vorhin lasen wir in einem populärwissenschaftlichen digitalen Magazin einen Artikel zur Drake-Gleichung und zum Großen Filter.

 

Die Drake-Gleichung beschäftigt sich mit der Wahrscheinlichkeit, dass es im All andere technisch entwickelte Zivilisationen gibt.

 

Die Drake-Gleichung ist mittlerweile weit über 50 Jahre alt. Aber relativ neu ist das Paradigma des „Großen Filters“. Mit dem „Großen Filter“ wird beschrieben, an welchen Hürden eine Zivilisation scheitern kann, bevor sie sich zu einer lang lebenden technischen Zivilisation entwickelt hat.

 

Kern vieler Fragestellungen zum „Großen Filter“ ist, ob technisch entwickelte Zivilisationen mit naturgesetzlicher Notwendigkeit dazu neigen, sich relativ rasch selber auszulöschen, einfach, weil sie die technischen Mittel dazu haben.

 

Und im Englischen wird die Tatsache, dass auf der Erde bislang trotz intensiver Suche keine Signale anderer technisch entwickelter Zivilisationen aufgefangen wurden, gerne so kommentiert:

 

a)    We’re rare

b)    We’re the first

c)    We’re fucked

 

a) Es gibt einfach nur ganz wenige technisch entwickelte Zivilisationen

b) Wir sind die erste technisch entwickelte Zivilisation im All

c) Technisch entwickelte Zivilisationen neigen dazu, sich selber zu zerstören.

 

Wir fanden, dass das in diesem Artikel sehr gut erklärt und zusammengefasst wurde.

 

Und dann lasen wir die Leserbriefe dazu. In bestimmt jedem zweiten wurde thematisiert und unterstrichen, dass wir als Menschheit sowieso dem Untergang geweiht sind, weil der Mensch zu blöd ist, die technischen Mittel, die er entwickelt, nicht gegen sich selbst zu wenden.

 

Und das wurde mit zig Beispielen und Belegen garniert. Es war das übliche, was Menschen halt so schreiben, wenn ihnen der Inhalt ihrer Gallenblase auf die Tastatur gelaufen ist.

 

Wir lasen das und dachten das übliche: Bleib‘ bei dir! Guck nach innen!

 

Was ist damit gemeint?

Damit ist dieses Naturgesetz gemeint:

In dem Maße, in dem ein Mensch nicht in der Lage ist, sein Inneres wahrzunehmen, wird er das, was er in sich nicht wahrnehmen kann, in der äußeren Welt wahrnehmen.

Das Dumme bei diesem Naturgesetz ist, dass wir dann das, was wir in der äußeren Welt wahrnehmen, für die Realität halten und uns nichts davon abbringen kann.

Wir nehmen dann aber nicht die Realität wahr. Wir nehmen unser Inneres im Außen wahr. Oder präziser:

Wir nehmen schon die Realität wahr, wenn wir in dieser Weise auf die Welt schauen. Aber wir nehmen dann immer nur das wahr, was unserer inneren Realität entspricht. Alles andere blenden wir aus.

 

Oder anders ausgedrückt:

Wer nicht gelernt hat, nach innen zu schauen und dort wahrzunehmen, der guckt, wenn er nach außen guckt, vor allem in den Spiegel und sieht im Außen vor allem sich selber.

 

3

Als unsere beiden Töchter allmählich erwachsen wurden, begannen sie sich sehr stark mit ihrer größer werdenden Welt zu beschäftigen. Es ging in unseren Gesprächen mit ihnen immer wieder um Nachhaltigkeit, um Ökologie, um Klima und um die Zukunft des Planeten.

 

Wir konnten ihnen mit wenigen Worten erläutern, dass sie sich um die Zukunft des Planeten keine Sorgen zu machen brauchten. Der kommt schon durch. Auch die Natur wird mit Sicherheit Wege in die Zukunft finden. Sie wird sich verändern. Aber dass die Erde in den nächsten Millionen Jahren als toter Gesteinsbrocken durchs All treibt, kann nach heutigem Kenntnisstand praktisch ausgeschlossen werden. Das Leben ist nicht totzukriegen.

 

Aber da bleiben ja noch die Menschen. Und hier kamen die ganzen Fragestellungen des Großen Filters wieder zum Tragen. Wir hörten uns von unseren Töchtern an, dass sie vielleicht die letzte Generation seien, weil die Menschheit sich systematisch selber auslöscht. Sie waren da voller Sorge und voller klarer Ansagen.

 

Wir erlebten unsere Töchter als erstaunt und erleichtert, als wir ihnen aus dem Stand mindestens 30 Beispiele früherer Generationen (von den alten Ägyptern bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts) zitieren konnten, die alle von sich gedacht hatten, dass sie die letzten seien. Geschichte ist eines unserer Spezialinteressen. Und dabei interessiert uns nicht, wann Ludwig der dreihundertsechsundachtzigste Feodora die achtundsiebzigste geheiratet hat, sondern uns interessiert, was Menschen früher fühlten und dachten. Uns interessiert, wie sie in der Welt waren, wie sie die Welt wahrnahmen, interpretierten und erlebten.

 

Und von daher können wir sicher sagen:

Weltuntergang war schon immer. Schon seit es die Menschen gibt. Oder präziser: Schon seit Menschen schriftliche Aufzeichnungen hinterlassen – es scheint in der Geschichte keine Generation gegeben zu haben, die nicht schriftlich niederlegte:

Wir sind die letzten!

Nach uns kommt nichts mehr, allenfalls die Apokalypse!

 

Das Weltende war also immer schon ganz furchtbar nah. Schon seit mindestens viertausend Jahren geht permanent die Welt unter:

·      Die Jugend taugt nichts.

·      Die Menschen sind nur noch kriminell und von niedersten Motiven angetrieben.

·      Krisen über Krisen! (Ganz anders als früher, da gab’s solche Krisen nicht).

·      Die Herrschenden sind allesamt korrupt und unfähig. Kein Staatsmann zu sehen – weit und breit. (Früher ja – aber heute?!)

·      Moral und Sitte verfallen zusehends. Niemand ehrt mehr die Alten und die Traditionen.

·      Die neue Musik kann sich kein Mensch mehr anhören. Die neue Kunst ist einfach nur zum Davonlaufen.

·      „Ja, ist denn die Welt jetzt völlig verrückt geworden?!“

·      Erdbeben, Unwetter, Himmelserscheinungen und Kriege sind ganz klare Vorboten, dass es auf’s Ende zugeht.

·      Und so weiter.

 

Seit mindestens viertausend Jahren geht das nun schon so. Und in jeder Generation scheinen viele Menschen ganz fest zu glauben, dass sie die ersten sind, die so empfinden. Die Beschäftigung mit Geschichte kann sehr faszinierend sein. Aber auch sehr ermüdend.

 

Doch was bedeutet das jetzt?

Was bedeutet es, wenn auf der einen Seite jede Generation aufs neue fest davon ausgeht, dass die Welt untergeht und es keine Zukunft mehr gibt und auf der anderen Seite die Welt gar nicht daran denkt, unterzugehen?

 

Das bedeutet:

Die Welt geht nicht unter. Du gehst unter.

Guck nach innen. Bleib bei dir. Schau in dich, und du wirst den Weltuntergang finden, den du im Außen zu sehen glaubst, der aber einfach nicht stattfinden will.

 

Und wenn du zu den Menschen gehörst, die von sich voller Stolz und Selbstbewusstsein sagen können, dass sie nur das glauben, was sie auch sehen, dann kann ich dir versichern:

Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass du nur das siehst, was du auch glaubst. Alles andere bleibt dir verborgen oder wird von dir unbewusst aus deiner Wahrnehmung herausgefiltert.

 

Kurz gefasst:

Wenn du nicht gelernt hast, nach innen zu schauen, dann siehst du von der äußeren Welt immer nur das, was zu deinen frühkindlichen Beschlüssen, Grundüberzeugungen, Meinungen und Erfahrungen passt.

 

Das bedeutet nicht, dass du nicht im Außen wirksam werden sollst. Im Gegenteil: Phänomene wie Klimawandel oder Überbevölkerung fordern entschlossenes und wirksames Handeln im Außen. Aber wie willst du auf die Außenwelt sinnvoll einwirken, wenn du dazu neigst, im Außen vor allem dein Inneres zu sehen?

 

4

In unseren Seminaren haben wir es sehr oft mit lebenserfahrenen Menschen zu tun, die „schon alles“ gesehen haben und denen „nichts menschliches“ mehr fremd ist.

 

Aha.

 

Diese Menschen „kennen das Leben“, denen macht man so schnell auch „nichts vor“, denn sie „kennen die Welt“. Und natürlich stehen diese Menschen mit beiden Beinen auf dem Boden und sehen die Dinge so, wie sie sind.

 

Doppelaha.

 

Wir hingegen sind der Überzeugung, dass das mit der Wahrnehmung der Welt so eine Sache ist.Und dass man erst sicher sein kann, die äußere Realität zu erkennen, wenn man seine innere Realität erkannt hat.

 

Wir laden diese Menschen dann oft zu einem Gedankenexperiment ein. Es soll darum gehen, wie sie wahrnehmen und wie sie die Welt sehen. Bislang haben immer alle Teilnehmer zugestimmt. Und so sagen wir Ihnen dann:

 

„Ok. Dann stellt euch bitte mal die Innenstadt der Großstadt vor, in der ihr am häufigsten seid. Die Fußgängerzone. An einem belebten Vormittag. Habt ihr das?“

 

Haben sie.

Ok, dann machen wir weiter:

 

„Und jetzt geht bitte in Gedanken auf einer längeren Straße diese Fußgängerzone entlang. Viele hundert Meter. Ihr seid schrecklich hungrig und wollt unbedingt was zu essen haben. Habt ihr das?“

 

Haben sie.

Und in Gedanken lassen wir sie „schrecklich hungrig“ durch diese Fußgängerzone laufen. Mindestens eine Minute lang. Manche finden diese Übung zu blöd und brechen vorher ab. Aber das ist auch ok. Wenn eine gewisse Zeit vorbei ist, bitten wir die Teilnehmer, wieder in die jetzige Wirklichkeit zurückzukehren. Wenn wir den Eindruck haben, dass alle wieder da sind, dann fragen wir sie:

 

„An wie vielen Briefkästen seid ihr vorbeigekommen?“

Oder alternativ:

„An wie vielen Schuhgeschäften seid ihr vorbeigekommen?“

 

Nach unserer Erfahrung sind wir immer nur in der Lage, das im Äußeren wahrzunehmen, was uns unsere innere Realität wahrnehmen lässt. Und je besser wir unsere innere Realität kennen, desto besser gelingt es uns, die äußere Realität so wahrzunehmen, wie sie tatsächlich ist.

 

Deshalb:

Guck‘ nach innen. Bleib bei dir.

Insbesondere dann, wenn du den Eindruck hast, dass die Welt oder die Menschen schlecht, verdorben oder dem Untergang geweiht sind.

 

Wenn du das nicht tust, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass du nur in einen Spiegel guckst, wenn du die äußere Realität siehst und dabei vor allem das wahrnimmst, was du in deinem Inneren nicht wahrnehmen willst oder kannst.

 

Daran ändert sich auch nichts, wenn es dir gelingt, mit Hilfe der (a)sozialen Medien hunderttausende Gleichgesinnte um dich zu scharen, die dir alle bestätigen, dass deine Sicht auf die Welt die einzig richtige und die einzig mögliche ist.

 

Auch wenn hunderttausend Menschen gleichzeitig in den Spiegel schauen, sehen sie vor allem sich selber.

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