Erntezeit

Wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) altern. Das ist grundsätzlich nichts neues. Als Mensch bist du entweder tot, oder du alterst – das liegt in der Natur der Sache. Das ist selbstverständlich.

 

Mittlerweile sind wir knapp sechzig Jahre alt. Und schon, als wir die fünfzig überschritten hatten, verkündeten wir unseren Seminarteilnehmern:

„Ab jetzt ist jeder Blödsinn, den ich mache, in Wirklichkeit „Erfahrung“. Und weil er „Erfahrung“ ist, ist das auch kein Blödsinn, sondern richtig, wichtig und wertvoll und muss von euch bewundert und respektiert werden. Stellt euch also darauf ein.“

 

Natürlich haben wir das nicht ernst gemeint. Außer Kindern – ihren Gedanken, Gefühlen und dem, was sie tun – nehmen wir auf dieser Welt so ziemlich nichts ernst. Am wenigsten uns selber. Da sorgen schon unsere zahllosen Kleinen für, die mich, den „Großen“, den ganzen Tag foppen.

 

Und dennoch - wir häufen Erfahrung an. Auch das ist selbstverständlich und liegt in der Natur der Sache: Wessen Hippocampus noch einigermaßen intakt ist, der häuft Erfahrung an. Und wenn Menschen ein bestimmtes Alter erreicht haben, dann kommt für sie meistens eine längere Lebensphase, die man als „Erntezeit“ bezeichnen kann:

 

All das, was man sein Leben lang gesät, gedüngt und bearbeitet hat, wirft jetzt allmählich Früchte ab. All die langen Jahre der Mühsal und der Plage, wo man immer nur geackert und geschuftet hat, zahlen sich nun allmählich aus. Man kann etwas kürzer treten, sieht die Dinge gelassener, ist nicht mehr ganz so eingespannt, und die Früchte eines langen und arbeitssamen Lebens fallen einem zu.

 

Das gilt natürlich nicht immer und nicht für jeden. Aber wir haben mit vielen älteren Menschen gesprochen, die uns das so oder so ähnlich geschildert haben. Für viele Menschen beginnt die Erntezeit mit Mitte fünfzig und sie scheint anzudauern, bis die achtzig überschritten sind. Es scheint eine ausgesprochen intensive und bereichernde Zeit zu sein.

 

Was bedeutet das nun für uns (meine Kleinen, meine Innenteile und mich)?

Für uns bedeutet das: Allmählich sollte jetzt unsere Erntezeit anstehen. Tut sie aber nicht. Oder nur bedingt. Auf jeden Fall sind wir schon lange über die Zeit.

 

Natürlich fällt uns vieles wesentlich leichter als früher – einfach, weil wir die nötige Erfahrung haben:

Wir wissen deutlich besser als früher, welche Problemstellungen auf welche Weise anzupacken sind, und was man getrost sich selbst überlassen kann, weil man’s entweder nicht beeinflussen kann oder es sich von selber löst.

 

Aber wir erleben es nicht so, dass wir jetzt ein wenig kürzer treten können und die Früchte unseres langen und wirklich arbeitsamen Lebens einsammeln und genießen können. Und auch das, was wir ganz oft von Menschen, die in der Erntezeit waren, gehört haben:

„Jetzt ist es für mich an der Zeit, dem Leben etwas zurückzugeben“, das erleben wir bei uns nicht.

 

Menschen in der Erntezeit ernten. Und sie ernten häufig so viel, dass sie davon freigiebig und viel und gerne an andere weitergeben:

Sie engagieren sich ehrenamtlich. Sie helfen anderen mit dem, was sie an Fähigkeiten haben. Sie unterstützen die nachfolgenden Generationen. Sie geben das, was sie gelernt haben, weiter.

Und so weiter.

Und so weiter.

Sie sind in einer wirklichen Geberlaune – jahrzehntelang.

Sie schütten ihr Füllhorn über die Welt und die Menschen aus.

 

Bei uns ist das anders.

Wir erleben sowas nicht.

 

Wir haben uns dazu nie viele Gedanken gemacht – bis vor ein paar Tagen.

Da waren wir auf diesem Kongress der DGTA (Deutsche Gesellschaft für Transaktionsanalyse), den wir in diesem Blog schon erwähnt haben. Wir nahmen an einem Workshop teil. Dieser Workshop trug den Titel: „Lebensphasen verstehen und gestalten.“

Da wir mittlerweile viele Coaching-Kunden haben, die wir dabei begleiten, von einer Lebensphase in die nächste zu wechseln, dachten wir uns:

„Da geh’n wir mal hin.“

Denn in dieser Sache ist es eindeutig notwendig, dass wir mehr Kompetenz und mehr Fähigkeiten erwerben.

 

In diesem Workshop wurden uns verschiedene Lebensphasenmodelle vorgestellt, die Entwicklungspsychologen in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben. Und wir fühlten uns sehr an unser Studium erinnert. Zwei Jahre lang hatten wir in den Vorlesungen zur Entwicklungspsychologie gesessen und immer denselben Eindruck gehabt, wenn uns Lebens- oder Entwicklungsphasen vorgestellt worden waren:

„Das ist unwissenschaftlicher, hanebüchener Quatsch.“

 

Wenn uns ein Phasenmodell vorgestellt wird, stellen wir immer dieselbe Frage, um zu prüfen, ob das für uns Hand und Fuß hat:

Warum gibt’s dabei nicht eine Phase weniger oder eine mehr?

 

Ein Beispiel:

Wir arbeiten ganz viel mit dem Persönlichkeitsmodell „Prozesskommunikation“. Dieses Modell geht davon aus, dass die Persönlichkeit eines Menschen aus exakt sechs Teilen besteht. Diese sechs Teile sind sehr klar beschrieben und sehr klar umrissen. Damit können wir sehr gut arbeiten.

Dass die Prozesskommunikation mathematisch entwickelt wurde, ist für uns ein weiterer Pluspunkt. Als wir die Ausbildung in diesem Modell machten, ließen wir uns all die Zahlen geben und schauten sie uns genau an:

Das schien alles in Ordnung zu sein.

 

Aber warum gibt es in der Prozesskommunikation nun exakt sechs Teile, die unsere Persönlichkeit ausmachen? Warum sind es nicht fünf oder sieben? Auf einem internationalen Kongress hatten wir die Gelegenheit, dem Entwickler dieses Modells genau diese Frage zu stellen. Und er war in der Lage, sehr klar und sehr mathematisch zu erklären, warum es exakt sechs Teile sind und nicht mehr oder weniger. Das fanden wir absolut überzeugend.

 

Aber jetzt frage mal einen Entwicklungspsychologen, der die Entwicklung eines Menschen in acht Phasen einteilt:

„Warum sind es exakt acht Phasen? Warum sind es nicht sieben oder neun?“

Frage ihn das, und er wird dich vollschwurbeln. Er wird dich vollschwurbeln, weil das, was er da entwickelt hat, vielleicht ganz plausibel klingt. Aber seiner Modellvorstellung liegt keinerlei exakte Wissenschaft oder sogar Mathematik zugrunde. Er hat also kein belastbares Konzept, keine Basis, auf der er wissenschaftlich argumentieren könnte.

Das, was er da erzählt, das könnte alles so sein … aber eben auch ganz anders.

 

Zurück zu diesem Workshop:

Wir saßen da also mit ca. 50 Leuten in diesem Saal in diesem Kongresszentrum. Eine belesene und kluge Frau stand vorne auf der Bühne. Wir schätzten sie auf Mitte fünfzig. Sie klickte durch einen Haufen Powerpointfolien und kommentierte sie. Auf diesen Folien huschte ein Entwicklungsmodell nach dem anderen durch. Und noch ein Entwicklungsmodell und noch ein Entwicklungsmodell. Und dann noch eins. Und dann noch eins. Unsere Kleinen wandten sich an mich, den Großen und fingen an zu maulen:

„Iiiiiiiist das langweilig!“

 

Das war für uns alles der reine Stuss. Das, was da auf den Powerpointfolien gezeigt wurde, das konnte man so sehen, aber auch ganz anders. Das hatte nicht Hand und nicht Fuß. Schwurbelei. Und noch mehr Schwurbelei. Dafür waren wir nicht gekommen.

 

Aber dann hörte das mit den Folien auf einmal auf. Die Frau auf der Bühne hatte vor der Bühne mit Kreppband ein großes Kreuz auf den Boden zeichnen lassen und lud uns jetzt ein zu einer kurzen Aufstellungsarbeit.

 

Vier Felder waren da auf dem Boden. Und die sollten die Jahreszeiten symbolisieren: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Mehr als Anweisung gab es dazu nicht: Wenn das Leben wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter ist - wo fühlen wir uns jetzt? Was ist die Jahreszeit, in der wir jetzt sind? Wir sollten nach vorne kommen und uns in das passende Feld stellen.

 

Ich fragte meine Kleinen, ob sie mitmachen wollten. Sie wollten.

Und während wir aufstanden, fragte ich sie, in welches Feld sie sich eigentlich stellen wollten. Sie besprachen sich kurz. Das ging ganz schnell, und alle waren sich sofort völlig einig. Es gab nicht eine einzige Gegenstimme:

Wir sollten uns in das Feld „Frühling“ stellen.

Und ich als Großer fiel aus allen Wolken:

Was?!

 

Aber sie waren sich ganz sicher. Und ich als Großer schaute auf sie und ihre Gefühle und sah sofort, dass das alles in uns völlig richtig und stimmig war:

In uns war weder Sommer noch Herbst noch Winter. In uns war Frühling – Beginn, Erwachen, Aufbruch. Knospen treten hervor und erste Blätter zeigen sich. Das Leben taut auf, erwacht und entfaltet sich nach einem langen, langen Winter.

(Und wir haben jetzt, wo wir das aufschreiben, Tränen in den Augen, weil uns das so tief berührt hat. In uns ist Frühling – nach einem langen, langen, langen Winter. Und wir haben das wirklich nicht gewusst).

 

Wir wissen nicht, was das für uns bedeutet. Wir wissen auch nicht, wohin uns das alles führt. Das müssen wir auch nicht. Dieser Workshop war für uns nur eine Standortbestimmung. Aber es war eine Standortbestimmung, die uns völlig überrascht und sehr ergriffen hat. Wir haben das alles nicht gewusst.

 

Nächstes Jahr werden wir sechzig Jahre alt.

Und in uns ist Frühling – nach einem langen, langen, langen Winter.

Der Rest ergibt sich.

Der Rest entwickelt sich.

Wir haben keine Ahnung, wie das werden wird, aber wir sind sicher, dass es werden wird.

 

Vermutlich werden wir an dieser Stelle immer wieder mal davon berichten.

 

Stay tuned.

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