Das Neurotypische Syndrom 34 – Kein Anknüpfungspunkt

Seit etwas mehr als zehn Jahren weiß ich, dass ich Autist bin. Asperger-Syndrom. F 84.5. So ziemlich das erste, was ich nach der Diagnose tat – ich machte mich erst mal schlau, was das eigentlich bedeutete: Autismus.

 

Ich bin Diplom-Psychologe. Aber das bedeutet nicht, dass ich die komplette ICD oder das DSM auswendig kann. Also musste ich erst mal nachschauen. Ich googelte mich durch die Diagnosekriterien und die Expertenmeinungen. Und ich war wie vor den Kopf geschlagen (Sprachbild): Dieser Hass, diese Verachtung, diese Gewalt, diese Abwertung, die mir da allerorten entgegenschlug!  Autisten waren zutiefst gestörte Mängelwesen, unheimlich und gefährlich. Sie waren letztlich völlig unverstehbare Monster und Aliens. Ihre einzige Chance auf Wertschätzung bestand darin, ihrem Autismus abzuschwören und sich möglichst so zu verhalten, dass sie als Autisten nicht auffielen.

 

Und so weiter.

 

Das schien gar kein Ende mehr zu nehmen.

 

Auf den Punkt gebracht:

Autisten waren echte Gruselgestalten. Sie waren hochgefährlich. Denen wolltest du nicht nachts begegnen. Und tagsüber besser auch nicht. Denn da nervten sie nur rum mit ihrem merkwürdigen und unverstehbaren Verhalten.

 

Ich fragte mich ernsthaft, ob diese „Experten“, die da über Autismus schrieben (anscheinend alles NTs) eigentlich noch alle Tassen im Schrank hatten.

Ich griff noch am selben Tag zu meiner Tastatur und schrieb dem Professor, der mich zusammen mit seinem Team diagnostiziert hatte, eine längere Mail. Ich schrieb ihm, dass das,was Experten da über uns Autisten schrieben, „grenzwertig“ wäre. Grenzwertig und im hohen Maße unwissenschaftlich. Zum Beweis schickte ich ihm zwei pdfs, die ich kurzerhand erstellt hatte.

 

Ich hatte einfach die Diagnosekriterien der ICD und des DSM genommen und sie auf die Neurotypischen transponiert. Heraus kam „Das Neurotypische Syndrom“. Also nochmal zur Verdeutlichung:

Ich hatte das „Neurotypische Syndrom“ erfunden und hatte exakt in dem Stil wie ICD und DSM über Asperger-Autismus schrieben, Diagnosekriterien zusammengestellt, nach denen man erkennen konnte, ob jemand an diesem Syndrom litt und neurotypisch war.

 

Es las sich abscheulich. Es war echt widerlich. Aber es war exakt die Weise, in der die NTs über uns sprachen und schrieben. Und da ich weiß, wie man sowas macht, klang das, was ich da erstellt hatte, mindestens ebenso „wissenschaftlich“ und seriös und schwerwiegend wie das, was die NTs über uns in die Welt gesetzt hatten.

 

Ich fragte den Professor, wie er sich denn fühlen würde, wenn er sowas über sich lesen würde.

Er schrieb zurück. Ich hatte nicht den Eindruck, verstanden zu werden. Ich legte nach. Und schlussendlich lief es darauf hinaus, dass er mich einlud, Vorträge zu diesem Thema zu halten.

 

Das habe ich auch gemacht – viele Jahre. Und ich kann euch versichern: Ich kann reden. Wenn ich auf der Bühne stehe und ein Mikrofon in der Hand habe, dann ist was geboten. Ich bin sehr eloquent und ich spreche mit einer vielschichtigen und reichen Bildersprache, die so ziemlich jeden mitnimmt.

 

Aber es hat nichts genützt. Gar nichts. All diese Vorträge endeten nach meinem Gefühl in einer nutzlosen Folklore. Es war meistens der gleiche Ablauf:

 

Ich war auf irgendeinem Kongress. Hunderte Leute waren da. Erst sprach ein neurotypischer Experte über Autisten. Er bekam Applaus und räumte irgendwann die Bühne. Dann kam der nächste neurotypische Experte und sprach über Autisten. Er bekam Applaus und räumte die Bühne. Dann kam der nächste neurotypische Experte. Ich saß derweil irgendwo in den ersten Reihen dieses riesigen Saales und machte mir Notizen zu dem ganzen Unsinn und der ganzen Abwertung, die ich da zu hören bekam. Es war einfach nur grauenhaft – die ganzen neurotypischen Experten bestätigten sich gegenseitig ihre jahrzehntealten Vorurteile und verbuchten das offenbar als Erkenntnisgewinn. Und sie meinten es nicht mal böse.

 

Dann kam ich. Manchmal sagte ich dazu: „Ich bin der Autist vom Dienst.“ Ich sprach 30 oder manchmal 45 Minuten. Am Applaus, den ich bekam, konnte ich immer sehr genau hören, wo im Publikum die Autisten saßen.

 

Und dann kam es tatsächlich zu einem stimmungsmäßigen Umschwung im Kongress. Es war für mich deutlich zu erkennen: Es gibt einen Kongress vor meinem Vortrag, und es gibt einen Kongress nach meinem Vortrag. Die Redner, die nach mir kamen (für gewöhnlich alles neurotypische „Experten“) waren spürbar vorsichtiger mit ihrer Abwertung und ihrer sprachlichen Gewalttätigkeit.

 

Bei den ersten Kongressen dachte ich noch, dass ich irgendwas bewirkt hätte. Aber mit der Zeit bemerkte ich, dass sich nichts änderte. Oder präziser: Ich konnte keine Veränderung wahrnehmen. Meine Auftritte hatten nur folkloristische Aufgaben erfüllt: „Schaut mal her, da kommt jetzt ein echter Autist …“

 

Bei jedem neuen Kongress hörte ich mir den immer selben furchtbaren Blödsinn über uns Autisten an. Es wurden laufend dieselben Vorurteile und Schauermärchen über Autisten geteilt. Und auch wenn neurotypische „Experten“ über Autismus sprachen, die mich ein paar Monate vorher schon mal auf einem anderen Kongress gehört hatten stellte ich fest:

An ihrer Sicht auf die Autisten hat sich nichts geändert. An ihrem Unwissen auch nicht. Und auch nicht an ihrem Selbstbild, dass sie irgendwas von Autismus verstehen würden.

 

Ich verglich ihre „Expertise“ gerne damit, dass da ein Neandertaler im Cockpit eines modernen Airbus‘ saß. Dieser Neandertaler hatte mit den Jahren gelernt, was für Geräusche und was für Lichteffekte es machte, wenn man auf die Knöpfe und Schalter drückte. Und die besten „Experten“, die wussten das tatsächlich von jedem einzelnen Knopf und Schalter in diesem Cockpit.

Aber keiner von diesen Neandertalern hatte auch nur eine blasse Ahnung davon, was ein Flugzeug eigentlich ist, geschweige denn, dass er gerade in einem saß.

 

Allmählich fühlte ich mich auf diesen Kongressen wie in einer Endlosschleife gefangen. Es war ein bisschen wie in den Geschichten aus Entenhausen, die meine Kleinen so sehr lieben:

Daniel Düsentrieb erfindet irgendwas, was die Menschheit (bzw. die Entheit) wirklich voranbringt und ganz viele schwerwiegende Probleme löst. Und schon in der nächsten Geschichte erinnert sich niemand in ganz Entenhausen an diese Erfindung. Es ist so, als hätte es sie nie gegeben.

 

Daniel Düsentrieb erfindet und erfindet und erfindet – und nichts ändert sich in Entenhausen. In der nächsten Geschichte ist alles wieder auf null zurückgestellt.

 

Ich analysierte meinen permanenten Misserfolg und stellte fest:

Ich finde nicht die richtigen Worte.

Ich dringe nicht durch.

Die NTs hören, was ich sage. Sie verstehen jedes Wort und jede Metapher. Aber sie begreifen buchstäblich nichts.

Oder präziser:

Die Wirkung meiner Worte auf die NTs ist infinitesimal klein und für mich nicht wahrnehmbar.

Ich kann sagen, was ich will und wie ich es will – bei den NTs ist schon nach wenigen Stunden alles wieder auf null zurückgestellt und sie sind wieder im Default-Modus.

 

Ich bin also nicht der richtige, den NTs irgendwas in Sachen Autismus zu vermitteln. Da müssen andere Menschen mit anderen Fähigkeiten her.

 

 

Schnitt.

Perspektivwechsel.

 

Zu meiner völligen Überraschung und tiefen Frustration stellte ich fest, dass ich nicht nur mit Vorträgen und Reden bei den NTs misserfolgreich war. Auch in persönlichen Gesprächen mit einem NT, er in meinem Leben ist und mit einigen neurotypischen Kollegen stellte ich die selbe Dynamik fest:

 

Ich sagte diesen NTs im Zweiergespräch, dass ich Autist bin, und was das bedeutet. Ich sagte ihnen, wie sie ihr Verhalten verändern können, so dass ein Zusammensein mit ihnen für mich angenehmer wird.

Sie hörten zu.

Sie verstanden jedes Wort, das ich sagte.

Sie waren wirklich bereitwillig, ihr Verhalten mir gegenüber zu ändern.

 

Und es änderte sich nichts.

Gar nichts.

Oder präziser:

Bei den neurotypischen Kollegen änderte sich buchstäblich nichts. Bei dem NT, der in meinem Leben ist, nahm ich mit der Zeit sehr geringe Veränderungen wahr.

Aber das war so langsam und so mühselig, dass meine Kleinen seufzend sagten:

„Ein Baum wächst schneller.“

 

Die erste Verhaltensänderung, die ich bei jedem NT erbitte, ist:

„Schau mir bitte nicht ins Gesicht, wenn du mit mir sprichst. Das tut mir weh. Schau auf meine Schultern oder meinen Brustkorb oder an mir vorbei, aber schau mir bitte nicht ins Gesicht.“

In meiner Welt ist das ein recht simpler Wunsch. Die Worte sind einfach und verstehbar. Und auch die gewünschte Verhaltensänderung ist nicht übermäßig komplex. Buchstäblich jedes Kind kann das.

 

Aber nicht ein erwachsener Neurotypischer.

 

Ich überprüfte, ob eine kognitive Blockade vorlag. Das war nicht der Fall. Der NT, der in meinem Leben ist, verstand mich vollkommen, und es war ihm sichtlich peinlich, wenn ich ihm immer wieder dasselbe sagte:

„Guck‘ woanders hin.“

 

Am Verstehen lag es also nicht.

Woran lag es dann?

Als ich merkte, dass ich mit Worten nicht durchdrang, ging ich zur Haptik über:

Wenn dieser NT mit mir sprach, trat ich immer wieder genervt auf ihn zu, nahm seinen Kopf in beide Hände und drehte ihn in eine andere Richtung. Dabei stellte ich jedes Mal fest, dass auch kein motorisches Problem vorlag.

 

Dieser NT bedeutet uns (meinen Kleinen, meinen Innenteilen und mir) sehr viel, und wir sind sehr froh, dass er in unserem Leben ist. Sonst hätten wir schon längst frustriert und genervt aufgesteckt. So viel Aufwand für eine einzige simple Verhaltensänderung!

Das ist so mühsam!

Und das dauert so lange!

 

Nach ungefähr drei Jahren hatten wir den Eindruck, dass dieser NT verinnerlicht hatte, uns beim Sprechen nicht anzuschauen. Wir stellten irgendwann verblüfft fest, dass es uns nicht mehr weh tat, wenn er mit uns sprach. Und wir hatten auch nicht mehr den Impuls, seinen Kopf in eine andere Richtung zu drehen, wenn er mit uns sprach. Wir verneigten uns vor diesem NT! Wir verneigten uns oft vor ihm. Ein NT, bei dem es uns nicht weh tut, wenn er mit uns spricht – das ist doch mal was neues!

 

Wir stellten dann fest, dass diese Verhaltensänderung stabil war. Manchmal fiel der NT noch in das alte Blickverhalten zurück, wenn er mit uns sprach. Aber das wurde immer seltener. Und unsere Kleinen unterhielten sich, wie sie das immer tun:

 

„Die erste Verhaltensänderung ist offenbar erfolgreich verinnerlicht!“

„Ja, nach nur drei Jahren!“

„Ja, und nur noch knapp 2.000 weitere Verhaltensänderungen die nötig wären, um sich AS-kompatibel zu verhalten.“

 

Zur Zeit arbeiten wir intensiv am Distanzverhalten.

Auch hier scheint Haptik weit wirksamer zu sein als Worte. Wenn dieser NT uns zu nahe rückt (und das tut er oft), dann stoßen wir ihn zurück, oder wir weichen ihm aus.

 

Schnitt.

Perspektivwechsel.

 

 

Dieser NT ist auf seine Weise sehr klug und voller erstaunlicher Einsichten. Und so überraschte er uns vor ein paar Monaten mit einer Hypothese, die bei uns einschlug wie ein Blitz (Sprachbild).

 

Er sagte uns ungefähr folgendes:

„Dass wir NTs nicht umsetzen können, was ihr uns sagt, liegt daran, dass wir in uns keinen Anknüpfungspunkt dafür haben. Wenn ihr uns sagt: „Schaut uns nicht in die Augen“, dann verstehen wir das mit dem Verstand. Aber der Rest von uns bleibt außen vor, weil das mit nichts in uns emotionalen Kontakt macht. Wir kennen in uns nichts vergleichbares, deshalb verstehen wir es nicht wirklich. Und deshalb löst das in uns auch keine Verhaltensänderung aus. Das bleibt also ganz abstraktes Wissen.“

 

Es schlug in uns ein wie ein Blitz (Sprachbild). Das, was uns dieser NT erzählte, war mit Abstand das Klügste über das Verhältnis NTs – AS, das wir seit ganz langem gehört hatten. Es war ganz einfach, und dennoch waren wir nicht von selbst darauf gekommen.

Und nachdem dieser Blitz bei uns eingeschlagen hatte, waren wir echt wie vom Donner gerührt (noch so’n Sprachbild. Das nimmt heute anscheinend kein Ende).

 

Seitdem prüfen wir diese Hypothese.

Die Hypothese ist:

Das, was ich einem NT über Autismus und Verhalten sage, fällt bei ihm ins Leere (wird also nur abstrakt mit dem Verstand begriffen), weil er in sich keinen emotionalen Anknüpfungspunkt dafür hat.

 

Wir sind mit der Prüfung noch nicht durch, aber wir sagen jetzt schon:

Da ist viel dran.

 

Wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) sind kein NT. Obwohl wir wirklich Viele sind, haben wir noch nie jemanden in uns gefunden, der nicht autistisch ist. Wir sind also augenscheinlich Autist durch und durch. Und auch wenn wir so viel über NTs wissen und dieses Wissen so tief ist, dass wir als „NT-Flüsterer“ arbeiten und uns vor Aufträgen echt nicht retten können – wir reden oft über eine Welt, die uns innerlich sehr fremd ist, wenn wir über NTs reden. 

 

Wir können NTs wahrnehmen. Wir können sie beobachten. Wir können Schlüsse aus ihrem Verhalten ziehen und Gesetzmäßigkeiten erkennen, die selbst den allermeisten NTs völlig unbekannt sind. Aber genauso gut könnten wir ein Spezialist für Giraffen, Elefanten oder Flusskrebse sein.

 

Und so wie wir keine Giraffe und kein Flusskrebs sind, so sind wir auch kein NT. Natürlich sind wir innerlich einem NT deutlich näher als einer Giraffe oder einem Flusskrebs. Schließlich sind beide – NTs und AS – Menschen und haben daher sehr viel gemein. Beide – NTs und AS - gehören derselben Spezies an. Aber zum Beispiel beim Sozialverhalten unterscheiden wir uns gründlich. Und wenn wir das Sozialverhalten von NTs in den Fokus nehmen – ach du liebe Güte ist das merkwürdig! Es ist für uns brennend interessant, dieses Sozialverhalten, denn das ist unser ältestes Spezialinteresse. Aber auch nach beinahe sechs Jahrzehnten intensiver Beobachtung ist es uns so fremd wie nur was. Wir finden in uns keinen Anknüpfungspunkt, um da innerlich mitschwingen zu können. Wir registrieren, wir beobachten, wir ziehen unsere Schlüsse. Aber das war’s auch schon. Es bleibt für uns abstraktes Wissen.

 

Einschub

Damit wir recht verstanden werden:

Auch AS sind soziale Wesen. Aber unsere sozialen Bedürfnisse sind von sehr anderer Art. Das macht einen Teil unseres Wesens als Autisten aus.

Blogverlinkung: „Niemand ist zu Gemeinschaft gezwungen".

 

Doch unsere Gefühle sind komplett dieselben, die die NTs auch haben. Noch niemals habe ich bei den Gefühlen einen Unterschied zwischen AS und NTs festgestellt. (Und ich halte mich für einen Experten, was Gefühle anbelangt).

 

Autisten und Neurotypische haben dieselben Gefühle. Aber sie drücken sie zum Teil sehr unterschiedlich aus und setzen sie sehr unterschiedlich in Verhalten um.

 

Zusammengefasst

NTs und AS sind also bei den sozialen Bedürfnissen sehr unterschiedlich. Aber bei den Gefühlen nicht. Und nach allem, was wir sehen können, sind es vor allem unsere Gefühle, die uns alle zu Menschen machen und vom Rest der Tierwelt unterscheiden (auch von Giraffen, Elefanten oder Flusskrebsen).

Einschub Ende

 

 

Ausblick

Ich halte schon seit langem keine Vorträge über Autismus mehr. Nach allem, was ich sehen kann, bin ich nicht die geeignete Person, NTs irgendwas über Autismus zu vermitteln. Jedenfalls nicht auf dem Weg der direkten Ansprache.

 

Aber wenn es so ist, dass wir einander so fremd sind, weil wir zwar die Gefühle des anderen verstehen, aber sein Sozialverhalten mit nichts in uns Kontakt macht, dann ist das ein (für mich) ganz neuer interessanter Punkt, der erforscht werden sollte.

 

Die Fragestellung wäre:

Wie schaffe ich es, dass ich emotional (also nicht nur rational und abstrakt) soziale Bedürfnisse verstehe, die ich selber gar nicht habe?

 

Und diese Fragestellung ist sehr weit weg von dem immer gleichen „Ich auch!“ (gemeint: „Geht mir ganz genauso!“), das ich jahrelang in ermüdender und monotoner Gleichförmigkeit von NTs zu hören bekam, wenn ich mit meinem Vortrag fertig war.

In Trauben und Schwärmen waren sie um mich herum, um mir mit typisch neurotypischem Verhalten nahe zu bringen, dass sie genauso seien wie ich.

Jedes Mal.

Wirklich je – des – Mal.

 

Nein, liebe NTs, es geht euch nicht ganz genauso wie uns. Sonst wärt ihr ja Autisten, nicht wahr?

Eure Fehlwahrnehmung, uns ähnlich zu sein („So weit sind wir da ja gar nicht auseinander!“) entspringt eurem sozialen Bedürfnis nach intensiver (und sofortiger) Gemeinsamkeit.

 

Autismus ist etwas anderes als Introversion.

Autisten sind nicht einfach nur Neurotypische, die nur ganz besonders introvertiert sind.

Und so wie Bergkristall nicht besonders tief gefrorenes Wasser ist (was man jahrhundertelang glaubte), ist Autismus nicht eine extreme Form der neurotypischen Introversion.

 

Wir Autisten sehen aus wie ihr.

Aber wir sind nicht wie ihr.

 

Ich glaube, damit müssen wir alle leben.

Aber vielleicht finden wir Wege, wie wir einander auch emotional verstehen können.

 

Wär‘ ja möglich.

Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Grauert (Sonntag, 16 Juli 2023 14:47)

    Ein interessanter Beitrag, der Hauptaussage, dass Autisten keine NTs sind, stimme ich zu. Dabei stelle ich mir aber immer wieder die Frage, was einen Autisten eigentlich ausmacht. Bei der Diagnose muss man letztendlich nur genug Punkte sammeln, das macht grenzwertige Fälle nicht gerade leicht.Auch frage ich mich: Sind Asperger mit Frühkindlichen überhaupt verwandt oder genauso weit weg wie von einem NT? Bedeutet: Ist die Zusammenfassung des AS überhaupt korrekt/so sinnvoll wie derzeit praktiziert? Sie schreiben ja selber auch an anderer Stelle: ..."staatlich anerkannter Autist...". Ich verstehe das als eine gewisse Kritik, im Sinn: Ein anderer sagt mir, wer oder was ich bin. Auch ich bin von einem Diagnostiker anerkannter Autist (Diagnose der Behörde nicht zugänglich gemacht). Wer hat das aber zu entscheiden, es gibt ja leider keine conditio sine qua non.
    Bei den sozialen Bedürfnissen würde ich sagen, unterscheide ich mich eindeutig von den (allermeisten) NTs. Siehe Ihre Texte, Herr Stiller. Ich nehme an, auch in vielen Teilen der Wahrnehmung, kann das aber nicht beweisen. Ich kenne eben nur meine eigene Wahrnehmung. Ich nenne das Beispiel, das Gras ist grün. Darauf haben wir uns geeinigt, ob wir es wirklich gleich sehen, wissen wir voneinander nicht. Aber ich gehe davon aus, dass jeder für sich eine Referenz von "grün" hat, die man gleich wie der andere anwendet.
    Wie sinnvoll ist die Unterscheidung Autisten und NTs? Oder sollten F84.5 nochmal eine eigene Schublade bekommen? Letztendlich kommt dann die Frage, wieviele Schubladen braucht man? 8Mrd für alle menschlichen Individuen? Sogar eineiige Zwillinge sind zwar ähnlich, aber nicht gleich.

    Zu den Gefühlen: Viele vor allen grundlegende lebenswichtige Gefühle sind in weiten Teilen der Tierwelt sehr ähnlich, z.B. Schmerz und Angst. In der Regel umso ähnlicher, je näher die Tiere verwandt sind. Bei Mensch, Elefant, Giraffe und Flusskrebs ist es der Flusskrebs, der am weitesten von allen anderen entfert ist. Bei den ersten 3 kann man ähnliche Emotionen erwarten. Die Unterscheidung in Menschen und Tiere entstammt der mittelalterlichen Theologie. Immerhin gab es schon mehrere Menschenarten, z.B. den zitierten Neandertaler. Würde es ihn noch geben, hätte er die gleichen Menschenrechte? oder ein beliebiger anderer Zweig der Menschen?
    Auch sehe ich nicht alle Menschen emotional gleich. Und speziell auch hier einen Unterschied zwischen Autisten und NTs. Aber auch hier: Ich kann die Emotionen eines anderen nicht fühlen, also kann ich mir nie ganz sicher sein.

  • #2

    Nadina Giardino (Montag, 21 August 2023 19:43)

    Hallo, ich mag Ihre Seite. Ihr Betrag über Beziehung hat mir sehr geholfen meinem autistischen Mann unser Problem zu erklären. Auch mein Sohn ist Asperger Autist. Allerdings finde ich Sie in Ihrem Artikel hier sehr hart. Ich erlebe ja selbst wie unterschiedlich die Ausprägungen des Autismus in meiner Familie sind und vor allem erlebe ich wie schwierig der Umgang der beiden Autisten in meiner Familie miteinander ist. Viele NTs bringen deutlich mehr Verständnis für die Situation meines Sohnes auf, als sein autistischer Vater. Ein Dilemma, in dem ich mich seit Jahren aufreibe.
    Allerdings glaube ich nicht, dass NTs Autismus verstehen können, wenn sie nicht engen Kontakt mit Autisten haben. Es gibt zu viele Stereotypen in dem Bereich und mein Sohn wird gerade in der Schule oft mit einer Erwartungshaltung konfrontiert, der er eben oft nicht gerecht wird. Ich finde das Leben mit Autisten offengestanden schwierig, so wundervoll ich mein Kind auch finde. Von meinem Mann lebe ich getrennt, denn als NT kosteten mich Beide zuviel Energie. Viele Grüße