Viele Jahre habe ich mein Geld damit verdient, freiberuflich Personalauswahl für Großunternehmen zu machen. Man konnte mich buchen, damit ich mit Bewerbern Auswahlgespräche führte oder Assessmentcenter (ACs) durchführte.
Ich habe tausende Interviews mit Bewerbern geführt. Ich habe dutzende ACs entwickelt und durchgeführt. Irgendwann wandelte sich dann mein Aufgabenfeld, und ich machte eher was anderes. Aber an Personalauswahlprozessen bin ich auch heute noch immer wieder beteiligt.
In der Zeit, in der ich Personalauswahl machte, hatten eindeutig die Unternehmen die Macht: Auf eine freie Stelle kamen oft zweihundert bis achthundert Bewerbungen. Wenn ein Unternehmen sich unter hunderten Bewerbern einen aussuchen kann, dann muss es wenig Rücksicht auf die Bewerber nehmen und kann seine Bedingungen weitgehend diktieren.
Heute hat sich der Wind gedreht:
Die Unternehmen und Organisationen suchen händeringend Leute. Und sie finden keine. Egal, mit welcher Branche ich spreche …
· Bauhauptgewerbe
· Baunebengewerbe
· Verarbeitendes Gewerbe
· Gastronomie
· Logistik
· Gesundheit und Pflege
· Öffentlicher Dienst
· Landwirtschaft
· Und so weiter
… überall höre ich in dieser Hinsicht dasselbe:
„Wir suchen Leute, und wir finden keine.“
„Die Leute, die sich bei uns melden, die können wir nicht brauchen.“
In ihrer Not sind daher so ziemlich alle Branchen dazu übergegangen, offensiv und auf den unterschiedlichsten Wegen um neue Leute zu werben. Es ist oft nicht mehr so, dass sich die Menschen bei den Unternehmen bewerben. Nein, heute bewerben sich die Unternehmen und Organisationen bei den Menschen.
Und dabei stellen sich die Unternehmen nach meiner Erfahrung ziemlich hilflos an. Jedenfalls höre ich aus keiner Branche, dass sich die Lage am Mitarbeitermarkt spürbar entspannt hat, seit aktiv um neue Leute geworben wird.
Anders ausgedrückt:
Die Unternehmen und Organisationen werben mit massivem Einsatz an Ressourcen und Geld um neue Leute.
· Sie schalten Anzeigen
· Sie organisieren Messen
· Sie gehen in Schulen und Universitäten und sprechen Abschlussjahrgänge an
· Sie loben Kopfprämien aus (Bis zu 3.000 Euro für eine erfolgreiche Empfehlung habe ich schon gesehen).
· Sie sind in den (a)sozialen Medien aktiv wie nur was
· Sie erfinden massenhaft Zertifikate („Employer of the Year“ und sowas) und machen ein riesiges Brimborium darum
· Sie biedern sich an, indem sie versprechen, so nachhaltig und divers zu sein, dass selbst Heilige das Kotzen kriegen könnten
· Sie bekleben die Autos ihrer Firma mit Suchanzeigen
· Und so weiter
Sie sind damit aber nur sehr wenig erfolgreich.
So.
Jetzt aber zum eigentlichen Thema: „Komm ins Team“
Auf ganz vielen Werbeflächen und in ganz vielen Anzeigen, die ich in diesem Zusammenhang sehe, finde ich Sprüche wie:
· Komm ins Team
· Werde Teil unseres Teams
· Ein tolles Team erwartet dich
· Unser Team wird dich begeistern
· Und so weiter
Die Hauptstoßrichtung all dieser Bemühungen scheint zu sein, den zukünftigen Kollegen und Kolleginnen deutlich zu machen, dass sie nirgendwo eine bessere Gemeinschaft finden werden als in dieser Firma oder Organisation.
Den Vogel schoss ein Verkehrsbetrieb ab, der offenbar Busfahrer oder sowas suchte. Ich war beruflich in Stuttgart und sah aus dem Hotelfenster auf die kahle Wand eines Fabrikgebäudes, auf der in riesigen Lettern stand:
„Job gesucht. Familie gefunden.“
Und ich kann mir das nur so erklären, dass es das ist, worum es NTs bei der Arbeit vor allem geht:
Das soziale Klima, die Gemeinsamkeit, Aufgehobensein in einer Gruppe.
Einschub
Natürlich geht es auch um Geld. Bei der Arbeit geht es immer um Geld. Aber es zeigt sich immer wieder – auf der ganzen Welt – dass die Unternehmen, die die höchsten Gehälter zahlen, genauso Probleme haben, Leute zu finden wie alle anderen Unternehmen auch. Klar kannst du mit substanziell hohen Gehältern eine Menge Leute anlocken. Die Frage ist aber, ob du diese Leute willst. Menschen, die sich durch hohe Gehälter locken lassen, neigen in der Regel dazu, die Firma wieder zu verlassen, wenn irgendwo anders geringfügig mehr Gehalt geboten wird. Das macht es für die Unternehmen extrem schwierig, denn gute Leute für die Konkurrenz auszubilden ist ein enormer Kostenfaktor.
Den meisten Menschen auf der Welt scheint es zu reichen, wenn sie zumindest ein anständiges Gehalt bekommen. Und ansonsten scheint die Gemeinschaft, das Arbeitsklima zu zählen.
Einschub Ende
Ich bin Autist.
Mir ist dieses gesamte Teamzeug sehr fremd. Klar arbeite ich im Team. Wenn ich muss. Wenn die Leute kompetent sind. Wenn ich einen sehr großen Entscheidungsrahmen habe. Aber sonst …?
Ich habe fast immer die Erfahrung gemacht, dass Teams, die aus NTs bestehen, einen geradezu obszön großen Teil ihrer Arbeitszeit nicht damit verbringen, Werte zu schaffen oder Probleme zu lösen (wofür sie bezahlt werden), sondern Sozialkontakte zu pflegen. Damit können die sich stundenlang beschäftigen. Davon wird die Arbeit aber nicht erledigt.
Wenn ich auf Autismus-Kongressen vor Arbeitgebern sprach, habe ich deshalb bei meinen Vorträgen immer gesagt:
„Wenn Sie wollen, dass über die Arbeit geredet wird, dann nehmen Sie einen Neurotypischen. Wenn sie wollen, dass die Arbeit erledigt wird, dann nehmen Sie besser gleich einen Autisten.“
Das mag jetzt in dieser Absolutheit übertrieben sein. Natürlich erledigen auch NTs Arbeit. Und natürlich sind sie nicht nur mit Sozialkram beschäftigt, wenn sie eigentlich arbeiten sollten. Aber ich habe festgestellt, dass ich alleine deutlich effizienter arbeiten kann als im Team:
· Ich kriege wesentlich mehr geschafft – in deutlich weniger Zeit.
· Die Ergebnisse sind deutlich besser, weil mich niemand ablenkt und aus meiner Konzentration reißt („Du, darf ich dir mal eine Frage stellen …“; „Ich geh‘ Kaffee holen, will jemand auch einen?“; „Hast du gestern auch Dschungelcamp gesehen“; „Meine Nachbarin macht mich fertig“ …)
· Und ich bin nach der Arbeit deutlich weniger erholungsbedürftig als wenn ich in ein Team eingebunden wäre. Sozialkram ermüdet mich wesentlich mehr als Arbeit.
Für mich ist die Arbeit im Team also häufig ein Vorgeschmack auf das, was mich erwartet, wenn ich dereinst mal in die Hölle kommen werde. Manchmal sage ich Chefs, dass ich natürlich im Team arbeite und mich darauf freue, mit den Kollegen gemeinsam die Dinge anzugehen. Schließlich weiß ich mittlerweile, was Chefs hören wollen.
Aber inzwischen bin ich erfahren genug, dass es mir beinahe immer gelingt, die Dinge so zu drehen, dass ich dann doch alleine oder maximal zu zweit arbeite.
Und ganz ehrlich – lieber würde ich einen mehrwöchigen Kurs im Stinktierjonglieren (mit abschließendem Diplom) absolvieren als mich in irgendein Team einbinden zu lassen. Aber das sage ich meinen Vorgesetzten natürlich nicht.
Aktuell bin ich auf einem internationalen Kongress. Die Deutsche Gesellschaft für Transaktionsanalyse (DGTA) ruft zu den Fahnen. Weit über hundert Workshops, Vorträge, Events …
Sowas findet einmal im Jahr statt. Drei Tage lang. Immer in riesigen Kongresszentren. Und zu Beginn des Kongresses erlebe ich immer dasselbe:
Die NTs strömen alle in diese riesigen Hallen und checken ein … und dann umarmen sie sich. … Und dann reden sie ganz aufgeregt und ganz viel in kleinen Gruppen miteinander. … Und dann umarmen sie freudestrahlend irgendwen anderen: „Heyyyy … du auch hier? Schön dich mal wieder zu sehen. Lass‘ dich mal drücken!“ … Und dann reden sie ganz aufgeregt und ganz viel miteinander. … Und dann gehen sie gemeinsam – immer noch redend - erst mal zur Kaffeestation.
Und so weiter.
Gemeinsam.
Gemeinsam.
Gemeinsam.
Gemeinsam.
Ich sitze zur Zeit ganz alleine in einem der großen Tagungsräume und tippe diesen Text in meinen Laptop. Ich habe Stöpsel in den Ohren, so dass ich nicht mitbekomme, was sich im Foyer so alles tut. Alle paar Minuten schauen ein oder zwei NTs herein, gucken, und wollen Blickkontakt aufnehmen.
Aber ich bin beschäftigt.
Ich bin nicht Teil des Teams.
Und ich bin auch nicht Teil dieser wunderbaren und wirklich einzigartigen Gemeinschaft. (Ich bin nur da).
Ich habe auch keinen Job gesucht und eine Familie gefunden.
Ich will nur tippen.
Was unterscheidet mich anscheinend von den meisten NTs auf diesem Kongress?
Ich kam nicht, um Gemeinschaft zu erleben.
Ich kam, um Informationen zu bekommen. Und vielleicht ergeben sich daraus interessante Gespräche, das kann ja sein. Aber ganz sicher nicht auf der Ebene: „Heyyy, naaaaah - du auch hier?…“
Jetzt gerade will ich nur hier sitzen – in voller Konzentration – und schauen, ob ich diesen Text fertig bekomme, bevor mein erster Workshop anfängt.
„Komm ins Team“ werben die Arbeitgeber.
Nein, ich will nicht ins Team. (Dann schon lieber Stinktiere jonglieren). Ich will auch nicht in ein ganz tolles Team. Und auch nicht in ein besonderes Team. Und eine neue Familie will ich auch nicht – danke, ich habe schon eine.
Wenn du mich als Arbeitgeber ködern willst, dann musst du mir spannende, interessante und schwierige Aufgaben bieten. Das, und den Entscheidungsspielraum und die Ressourcen, die ich brauche, um diese Aufgaben auch lösen zu können. Dabei werde ich mich selbstverständlich mit den Menschen vernetzen, deren Beitrag ich brauche, damit diese Aufgabe erledigt werden kann.
Wenn ich mich weiterentwickeln kann und sich gleichzeitig auch andere weiter entwickeln und wir dabei Ziele erreichen, die vorher für unerreichbar gehalten wurden – dafür kann ich mich echt begeistern.
Aber dabei steht immer die Aufgabe im Vordergrund, niemals die Gemeinschaft. Wir müssen uns auch nicht mögen, wenn wir zusammenarbeiten, du musst nur dein Zeug können. Wir arbeiten immer nur fallbezogen zusammen. Wenn die gemeinsame Aufgabe erledigt oder das gemeinsame Ziel erreicht ist, dann gehen wir selbstverständlich wieder auseinander. Und dann geht jeder seiner Wege und macht sein Zeug.
Aber Team – mit all dieser Gemeinschaft um der Gemeinschaft willen?! All dieser– für mich – völlig nutzlose und derart kräftezehrende Sozialkram ?! …
Nee, eher nicht.
Ich komm‘ nicht ins Team.
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Enrico Pallazzo (Dienstag, 14 November 2023 14:33)
Ich kann Ihre Gedanken nachvollziehen. Das Versprechen eines guten Teams würde ich aber nicht als reine NT-Veranstaltung überbewerten. Es ist wie jede Werbebotschaft eine Reaktion darauf, was das Publikum hören will. Die Qualität des Teams ist ein wesentlicher Faktor für die Arbeitszufriedenheit - für NTs und für Autisten. Obwohl ich Ihre Gedanken weitgehend nachempfinde, würde ich mir die exzellente Qualität meines Teams nicht um 1.000 Euro Gehaltsunterschied abkaufen lassen.
Im Übrigen, weil Sie das gern strapazierte Wort "gemeinsam" zitieren:
Dieses Wort höre ich praktisch nur von (vermeintlich neurotypischen) Arbeitskollegen, die ein Problem mit der eigenen Produktivität oder Verantwortung haben.
"Lass uns das GEMEINSAM besprechen!" - Wie würden wir es wohl sonst besprechen? Nicht der Sinn zählt hier, sondern die Huldigung des positiv besetzten und empfundenen Gemeinsamkeitsbegriffs.
"Wer ist für das Geschäftsmodell verantwortlich?" - "Na, wir GEMEINSAM". Übersetzung: Das Bereichsleitergehalt und den Ruhm beanspruche ich gerne, die damit verbundene Arbeitslast und die Verantwortung für allfällige Missgeschicke sollen andere tragen.
Thomas Mattes (Sonntag, 26 November 2023 17:45)
jenseits der sozialen Bedeutung von Teamarbeit gibts die sachlich begründeten, vor deren Hintergrund ja auch Sie hin und wieder in den für Sie bitter schmeckenden Apfel beißen.
In ihrem Versuch gerade auch den zweiten Aspekt herzuleiten und zu strukturieren, hat mir diese Seite hier gut gefallen:
https://wpgs.de/fachtexte/gruppen-und-teams/