Bindung … und Gewöhnung und Kameradschaft

*** Dieser Text kann Triggerkram enthalten. ***

 

 

Seit einiger Zeit nimmt das Thema „Bindung“ einen ziemlich breiten Raum in meinem Leben ein.

Mit Bindung ist gemeint, einem anderen Menschen dauerhaft emotional nahe zu sein. Und das stößt in meinem Leben sehr schnell an seine Grenzen.

 

Das hat verschiedene Ursachen:

 

1

Wenn ich mit anderen Menschen für ein paar Stunden oder ein paar Tage zusammen bin, dann erlebe ich es fast immer so, dass am Ende so eines Zusammenseins die anderen Menschen viel Kraft und Energie aus diesem Zusammensein gezogen haben. Ich hingegen habe sehr viel Kraft und Energie durch dieses Zusammensein verloren. Ich muss mich erst mal lange erholen. In aller Regel brauche ich deutlich mehr Zeit für die Erholung als das Zusammensein gedauert hat.

 

Mit anderen Worten:

So ein Zusammensein ist in fast jedem Fall ein hochdefizitäres Zuschussgeschäft für mich. Ich kann mir das nicht leisten. Ich werde erschöpft und krank davon.

 

Eine Bindung mit solchen Menschen (Bindung definiert als „einem anderen Menschen dauerhaft emotional nahe sein“) ist also nur möglich, wenn wir nicht zusammenkommen. Aber dass man zusammenkommt, scheint mir ein wesentlicher Bestandteil von Bindung zu sein.

Also ist mir eine Bindung mit solchen Menschen nicht möglich.

 

Bei vielleicht einem von zehntausend Menschen erleben wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) es so, dass wir keine Energie verlieren, wenn wir mit ihm zusammen sind oder sogar Energie durch das Zusammensein mit ihm gewinnen. Bei solchen Menschen ist uns theoretisch Bindung möglich: Bei allen anderen:

Tut mir leid – keine Bindung erwünscht, keine Bindung möglich.

 

Das ist so.

Das bleibt so.

Da gibt’s auch nichts zu therapieren.

 

 

2

Ich bin Viele. Ich bin sehr viele. Und ich kann euch versichern: Wenn du viele hundert bist, dann ist in dir dauernd was los. Irgendwas ist immer. Wir sind wirklich sehr, sehr viel mit uns selber zusammen. Und wir sind uns sehr gute Gesellschaft.

 

Die Zeit, die wir mit uns selber verbringen, können wir nicht mehr aufbringen, um mit anderen zusammen zu sein. Oder präziser:

Das geht schon. Aber dann muss der anderen schweigen oder sehr sparsam und präzise mit seinen Worten sein. In diesem Fall können wir mit uns selber zusammen sein und gleichzeitig mit jemand anderem.

 

Wir können also unmöglich mit jemandem zusammen sein, der emotional und sozial sehr bedürftig ist und gleichzeitig mit uns selber zusammen sein. Das geht nicht. Und die allermeisten NTs (Neurotypischen) erleben wir als durchgehend sozial und emotional bedürftig: Wenn wir mit ihnen zusammen sind, dann wollen sie was von uns. Vor allem wollen sie in unserem Leben einen so breiten Raum einnehmen, dass für unsere Kleinen kein Platz mehr ist. Das wollen wir aber nicht. Deshalb:

Tut mir leid – keine Bindung erwünscht, keine Bindung möglich.

 

Das ist so.

Das bleibt so.

Da gibt’s auch nichts zu therapieren:

 

 

3

Wir sind Autist. Allesamt sind wir Autist. Wir haben noch nie jemanden in uns gefunden, der nicht autistisch ist. Als Autist verbringen wir sehr viel Zeit mit unseren Spezialinteressen. In der Zeit, in der wir mit unseren Spezialinteressen beschäftigt sind, können wir nur dann mit anderen zusammen sein, wenn sich diese anderen mit denselben Spezialinteressen beschäftigen.

 

Das ist so.

Das bleibt so.

Da gibt’s auch nichts zu therapieren:

 

 

4

Das Bindungsverhalten und die Bindungsfähigkeit eines Menschen werden in ganz starkem Maße durch das geprägt, was dieser Mensch in seinen ersten Lebenstagen und -wochen erlebt hat. Heutiger Kenntnisstand scheint zu sein, dass in den ersten zwei Lebensjahren das Entscheidende in Sachen Bindungsverhalten und Bindungsfähigkeit passiert.

 

Es kommt also sehr stark darauf an, wie der Säugling oder das Kleinkind seine Bindungspersonen erlebt. In den meisten Fällen sind das die Eltern.

 

In meinem Fall war es so, dass meine leiblichen Eltern mich nicht wollten und immer wieder versucht haben, mich umzubringen. Das begann schon, als wir noch im Bauch unserer leiblichen Mutter waren. Es gab dann immer wieder Teile in ihnen, die dafür gesorgt haben, dass sie vor dem letzten Schritt zurückschreckten. Aber wir können euch versichern:

Wenn dein Leben von Anfang an ein Ritt auf der Säbelklinge ist (Sprachbild) – also: erlebe ich den nächsten Tag oder nicht, bringen sie mich diesmal um oder prügeln sie mich wieder nur bis zur Bewusstlosigkeit? – dann ist das nicht so gut für das Bindungsverhalten und die Bindungsfähigkeit.

 

Später gingen meine leiblichen Eltern dazu über, mich für Folter und sexuellen Missbrauch zu vermieten. Ich wurde weggegeben an andere Erwachsene, und die durften mit mir machen, was sie wollten (was sie auch taten). – Auch nicht gut für Bindung.

 

Das, was in dieser Hinsicht ist, das ist so.

Aber es soll nicht so bleiben.

Hier ist Therapie also absolut notwendig und sinnvoll.

 

Der Weg ist lang.

Und mühsam ist er auch.

Jedenfalls für uns (meine Kleinen, meine Innenteile und mich).

 

 

Zwischenfazit

Ich bin beziehungsfähig.

Aber ich bin beinahe nicht bindungsfähig.

Emotionale Nähe zu einem Menschen aufzubauen und über längere Zeiträume zu halten ist mir beinahe unmöglich.

 

Lange Jahre habe ich das zur Kenntnis genommen aber nicht darunter gelitten. Im Gegenteil: Ich konnte damit sehr gut leben.

 

Aber mittlerweile will ich Heimat. Ich bin mein ganzes Leben ein ruheloser Wanderer bzw. ein Flüchtling gewesen. Ich will das nicht mehr. Ich will ankommen. Ich will irgendwo hingehören. Und das scheint ohne Bindung nicht zu gehen.

 

Also muss ich Bindung lernen.

 

 

Und jetzt beginnt das „Spiel“, das ich schon so oft erlebt habe in meinem Leben:

Irgendwas ganz wichtiges, was unbedingt zum Menschsein dazugehört, kann ich nicht. Also muss ich es lernen. Am besten lerne ich sowas immer durch Vorbilder. Also gucke ich mich um nach Vorbildern. Ich gucke mich gründlich um. Ich führe intensive Interviews mit buchstäblich hunderten von Menschen, um irgendwas zu finden, wovon ich lernen kann.

 

Und ich finde:

Nichts, nichts, nichts.

 

Das habe ich schon so oft bei ganz anderen Themen erlebt.

 

Ich weiß nicht, von wieviel hundert Menschen ich mir habe schildern lassen, was für sie Liebe ist, und wie sie ihre Beziehungen leben. Es ist für mich geradezu grotesk:

Ich finde nicht einen einzigen Menschen, der diese Sehnsucht in mir auslöst:

Das will ich auch können!

So will ich auch leben!

Das will ich auch haben!

Gib mir das!

 

Nichts, nichts, nichts.

 

Natürlich könnte ich in Büchern nachlesen, was kluge Menschen über Bindungsfähigkeit und Bindungsverhalten geschrieben haben. Ich bin Diplom-Psychologe, da sollte ich also in der Literatur was finden können.

Aber das ist genauso, als wollte ich etwas über die Herstellung von richtig gutem Käse lernen und dafür stünden mir ausschließlich Bücher zur Verfügung.

Verzeihung – so geht das nicht.

Wenn ich richtig guten Käse herstellen will, dann gehe ich zu dem Menschen, der diesen richtig guten Käse macht und lasse mir von ihm alles zeigen.

 

Natürlich weiß ich über die Beziehungen, die andere Menschen führen, nur das, was sie mir berichten. Das ist also alles gefiltert und mittelbar. (Bei manchen Menschen durfte ich auch erleben, wie sie ihre Beziehungen lebten, aber das war eher selten – am Ergebnis änderte das jedoch nichts).

 

Das, was ich aus den Berichten entnehme, ist, dass die Menschen, denen ich begegne, sich furchtbar ineinander verlieben. Sie beschließen zusammen zu sein. Und dann entwickelt sich die Verliebtheit zu etwas anderem. Und wenn die Leute tatsächlich lange Jahre zusammenbleiben, berichten sie mir von etwas, was sich zusammenfassen lässt als „Gewöhnung und Kameradschaft“:

 

Man hat sich aneinander gewöhnt. Man ist miteinander vertraut – im Angenehmen wie im Unangenehmen.

Vor vielen Jahren – ich war damals noch ein Teenager – sagte mir jemand, der viel älter war als ich:

„Irgendwann kennt man seinen Partner in- und auswendig.“

Ich weiß noch, wie sehr mich diese Aussage damals entsetzt hat, und ich mir geschworen habe:

„Niemals!“

 

Aber für die Menschen, die ich interviewt habe, lief es darauf hinaus:

Man gewöhnte sich mit den Jahren aneinander und es entstand ein kameradschaftliches Verhältnis.

Genauso wie wir noch nie einem erwachsenen Menschen begegnet sind, den wir als reich erlebt hätten (Blogtext „Reichtum“) (im Gegenteil – alle, die wir bislang getroffen haben, erlebten wir als bettelarm), genauso sind wir noch nie jemandem begegnet, von dem wir den Eindruck hatten, dass er Bindung lebt und nicht Gewöhnung und Kameradschaft.

 

Oder präziser:

Nicht alle lebten „Gewöhnung und Kameradschaft“. Einige lebten auch „Symbiose“. Bei einer Symbiose wird aus zwei Menschen ein einziges Wesen, und natürlich leidet dann der eine, wenn der andere nicht da ist. Aber das ist nicht das, was wir unter Bindung verstehen. Das ist nicht das, was wir wollen.

 

In unseren Augen spricht nichts dagegen, wenn Menschen sich ihr Leben so einrichten, dass für sie das höchste, was zu erreichen ist, Gewöhnung und Kameradschaft sind. Und auch, wer sich für Symbiose entscheidet: Wenn das dein Weg ist – bitte sehr. Uns steht da keinerlei Urteil zu.

All diese Lebenskonzepte sind sicher aller Ehren wert.

Wir wollen aber was anderes. Wir wollen mehr.

 

Doch vielleicht labern wir auch hier wieder nur dummes Zeug:

Wir haben von Bindung so viel Ahnung wie die sprichwörtliche Kuh vom Sonntag.

Und wir haben zur Stunde absolut keine Ahnung, was für uns in dieser Hinsicht erreichbar ist.

Seit weit über einem Jahr arbeiten wir praktisch jeden Tag intensiv an unserer Bindungsfähigkeit. Und bislang wird für uns vor allem deutlich, was wir in Sachen Bindung alles nicht können. Von Fortschritten keine Spur.

 

Aber so ist das halt. Wir waren in solchen Sachen schon immer jemand, der deutlich langsamer lernte als andere.

 

Als wir sechzehn oder siebzehn Jahre alt waren, wurde uns mal von einem „Experten“ gesagt, dass wir mit unserer Geschichte (mit dem, was wir erlebt hatten), nur hoffen konnten, irgendwie durchzukommen im Leben. Noch nie wäre es jemandem gelungen, mit so einer Vergangenheit ein Leben aufzubauen, das diesen Namen auch verdiente.

 

Natürlich hat er sich etwas anders ausgedrückt, aber genau das hat er gemeint.

 

Zuerst waren wir zutiefst niedergeschlagen. Es ging uns wirklich richtig schlecht.

Dann haben wir in uns aber eine sehr tiefe und sehr starke Strömung gespürt. Und diese Strömung trägt uns heute noch mit sich.

Wir sagten uns:

„Na und? Wenn es noch nie jemand geschafft hat, dann sind wir eben der erste. Für alles, was Menschen heute können und wissen, gab es einen ersten, der das geschafft hat.“

 

Das gilt für uns auch für alles, was das Thema Bindung betrifft.

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Kommentare: 2
  • #1

    Fischer (Samstag, 24 Juni 2023 12:19)

    Sehr geehrter Herr Stiller, ich habe Achtung vor Ihnen! Ihr starker Wille, trotz des typischen speziellen realistisch geprägten und ständig analysierenden Seite eines Linkshänders der Autist ist, haben Sie ihren eigenen Weg gefunden. Bindung ist etwas was wohl fast keiner, so wie sie es analysieren und für sich wünschen, erlebt. Wer dann noch starke Spezialinteressen und hohen IQ besitzt wird immer Zweifeln, Hinterfragen und im Dauerhamsterrad seiner hochkomplexen Fähigkeiten feststecken.
    Sie sind bereits trotz ihrer Lebensgeschichte vom Anfang, so weit gekommen! Chapeau!!!
    Jemand wie Sie wir jedoch immer weiter suchen. Das ist Ihre Art der Reise und Leben, deshalb wünsche ich Ihnen und Ihrer Familie einfach nur 'Alles Gute'.
    Denn was Sie sich wünschen, wünscht sich so manch anderer, ankommen und verstanden werden egal wie komplex und analytisch man Dinge hinterfragt. Der eine hat seine Spezialinteressen und beliest sich und nimmt Dinge ggf. sehr Wortwörtlich, der andere besitzt teils intuitiv die Fähigkeit und verlässt sich vollkommen darauf.
    Mit freundlichen Grüßen
    P. Fischer

  • #2

    Bibi (Mittwoch, 27 September 2023 11:04)

    Ich bin nicht so eloquent und möchte mir für den Kommentar nicht so viel Zeit nehmen, aber ich versuche es mal: Dauerhafte Bindung kann vielleicht funktionieren, wenn sie in ihrer Komplexität aufgespalten würde. Wenn sich z. B. zu der quasi unumkehrbaren Definition der Verbindung der beidseitige Wille zur dauerhaften Aufrechterhaltung der Bindung gesellt. Aus der Definition ergeben sich Verpflichtungen, wie ein Vertrag, den man eingeht, der gegenseitige Sicherheit gibt. Der ist Basis, immergültig und nicht mehr verhandelbar. Dazu kommt der Wille, dem anderen mehr oder weniger nah zu sein, verhandelbar, wandelbar.
    Warum auch immer, wir erkennen in unserer Gesellschaft an, dass man Blutsverwandtschaft nicht lösen kann. Und es funktioniert irgendwie. Ein Bruder bleibt immer ein Bruder und somit unumstößlich definiert. Ob Brüder eine Bindung zueinander haben, entscheiden sie selbst. Vielleicht gehen sie sich auch lebenslang aus dem Weg. Aber sie werden immer voneinander sprechen als Brüder, so wie Sie Ihre Eltern auch immer noch Eltern nennen, auch wenn diese sich nach Ihren Beschreibungen nicht annähernd entsprechend der allgemeingültigen Vorstellung ("Definition") von Eltern verhalten haben.
    Ich glaube, die lebenslange Definition kann helfen, eine Bindung aufrecht zu erhalten, weil sie ein immerwährendes Fundament im Sturm des Lebens ist. Wenn man eine solche Definition hinbekommt, kann man darauf etwas aufbauen, was Ihrer Vorstellung von Bindung etwas näher kommt als Gewöhnung oder Symbiose. Viele schwierige Aspekte/Ansprüche einer Partnerschaft/Freundschaft sind dann quasi in diese Definition gepackt und sind damit abgekoppelt. Die sind auch nicht mehr verhandelbar. Dann geht es in dem anderen Teil nur noch um die Ausgestaltung der Partnerschaft/zwischenmenschlichen Beziehung mit den immer noch vielen anderen komplexen Dingen wie die aktuellen Bedürfnisse der Partner und Ziele und so...