Das Puzzle

1.   Ein alter Straßenbahnwagen

2.   Der Stummel einer heruntergebrannten Kerze

3.   Eine Tulpenzwiebel

 

 

Das ist noch so eine Sache, wo wir Psychotherapeuten und Verkünder von Weisheiten manchmal erwürgen könnten:

Sie tun in aller Regel so, als würde alles, was man in sich findet, zusammenpassen.

 

 

4.   Ein paar Haare einer Katze

5.   Eine halbe Wäscheklammer

6.   Zwei Kilo Alpenpass

 

 

Viele, die in der Psychoszene unterwegs sind, gehen offenbar davon aus, dass in Wirklichkeit alles im Universum immer ein großes und harmonisches Ganzes ist. Mit anderen Worten:

Wenn du in deiner Innenwelt unterwegs bist und dabei etwas findest, dann ist das immer ein Puzzlestein, der sich völlig harmonisch in ein großes Ganzes einfügt.

 

 

7.   Der Luftdruck an der Station Eismitte am 23. April 1966

8.   Ein Dichtungsring

9.   28 Dollar und 36 Cent

 

 

Der idealisierte Weg sieht so aus:

Du bemerkst irgendwann, dass du schrecklich ungeheilt bist. Du probierst alles mögliche aus, bis du irgendwann auf die Idee kommst, die lange Reise nach innen anzutreten und das von dir wiederzufinden, was dir offenbar fehlt. Am Anfang hast du wirklich Mühe damit. Aber dann beginnst du allmählich, die Teile von dir wiederzufinden, die du früher von dir abgespalten oder ins Dunkle abgedrängt hast. Einen Teil nach dem anderen findest du. Und mit all den Jahren wirst du allmählich besser im Finden. Die Puzzlesteine mehren sich. Dir geht es immer besser, und das Puzzle ergibt allmählich ein vollständiges und harmonisches Bild.

 

 

10.   Die obere Hälfte eines kleinen Gartenzwerges

11.   Die Metamorphose des Narziss

12.   Eine Leselampe ohne Kabel

 

 

Und wenn du dann am Ende alle deine Puzzlesteine gefunden hast, dann bist du schön und rund und zufrieden, und nichts fehlt dir mehr und du kannst ab jetzt glücklich und zufrieden leben …

 

And they lived happily ever after.

 

Wir wissen nicht, in welchem Maße das überhaupt auf jemanden zutrifft. Auf uns trifft es jedenfalls nicht zu.

 

 

13.   Ein Bund Sellerie

14.   Eine Feinwaage zum Wiegen besonders schwerer Gedanken

15.   Die Angst des Torwarts beim Elfmeter

 

 

Ja, wir finden immer mehr Teile von uns wieder. Und uns geht es deswegen immer besser. Unser Leben wird runder, voller und erfüllter, keine Frage. Aber die Puzzlesteine passen nicht zusammen.

 

 

16.   Das Lächeln eines Nilpferdes an einem Freitagabend

17.   Zwei Notizzettel. Auf einem steht 0823 / 65 34 83

18.   Ein alter Bilderrahmen

 

 

Uns ist es immer wichtig, dass wir nicht uns selber suchen, sondern dass wir uns selber finden. Unsere Erfahrung ist:

Wer auf der Suche nach sich selber ist, der kann suchen, bis er schwarz wird. Der kann suchen, bis er in die Grube fährt. In unserem Leben ist dieses entschiedene „Ich will finden!“ wichtig.

Das und die nötige Demut. Zum Finden gehört nach unserer Erfahrung neben aller Entschlossenheit vor allem Demut:

Wir können die Prozesse nicht beschleunigen. Wir sehen erst dann, wenn die Zeit zum Sehen da ist. Wir verstehen erst dann, wenn die Zeit zum Verstehen da ist. Und das können wir nach unserer Erfahrung nicht beschleunigen. Meistens können wir es nicht mal beeinflussen. Und je mehr wir mit unserer schieren Willenskraft arbeiten, um zu heilen, desto wahrscheinlicher ist es, dass unser Weg noch länger und noch beschwerlicher wird.

 

 

19.   Ein singender Schornstein

20.   Die erträgliche Leichtigkeit des Seins

21.   Drei Zikaden, die Skat spielen

 

 

Ok.

Und dann finden wir. Puzzlesteine. Manches fügt sich direkt und harmonisch zusammen. Anderes wirkt vertraut, aber wir haben absolut keine Ahnung, wo das hingehört bzw. wie das mit dem bereits Gefundenen zusammenpasst.

Und immer wieder finden wir Teile von uns, wo wir sofort und klar konstatieren:

Noch nie gesehen, sowas. Das ist jetzt aber völlig neu für uns. Keine Ahnung, was das ist. Keine Ahnung, wo das hingehört.

 

 

22.   Hundert Jahre Einsamkeit

23.   Die Wurzel einer Buche

24.   Eine Packung Glühbirnen

 

 

Manches, was wir finden, verändert den Blick auf das bisher Gefundene völlig. Wir stellen dann fest, dass wir das bislang immer falsch eingeordnet oder interpretiert haben. Aber in der Psychoszene wird das oft so dargestellt, dass sich am Ende alles zu einem harmonischen Ganzen fügt. Und das gilt in unserem Fall ganz sicher nicht. Kein Teil ist überflüssig, schädlich oder lästig. Jeder Teil ist hochwillkommen. Aber es passt nicht zusammen. Wir sind keine Einheit. Wir sind voller Widersprüche. Es passt einfach nicht zusammen!

 

 

25.   Die Spur eines tanzenden Sekundenzeigers im frischgefallenen Schnee

26.   Ein verbogener Kleiderhaken

27.   Eine Tüte voller Rechtschreibfehler

 

 

Deshalb wäre es uns sehr lieb, wenn die ganzen Harmoniesäusler, die als Psychotherapeuten oder Heiler arbeiten, sich mal etwas zurücknehmen würden. Sie sollen nicht so viele falsche und überzogene Erwartungen wecken.

Unsere Erfahrung ist:

·      Die Reise nach innen ist überaus lohnend und wichtig.

·      Sie dauert gefühlt ewig.

·      Ja, du findest Teile von dir wieder, die dir schon so lange fehlen und ohne die du kein erfülltes, rundes und zufriedenes Leben führen kannst.

·      Ja, dein Leben wird sich verändern. Sogar ganz erheblich. Es wird sich laufend ändern.

·      Ja, dein Selbstbild wird sich sehr stark verändern. Es wird sich laufend ändern.

 

Aber du wirst auch ganz vieles finden, was sich auch beim besten Willen nicht in ein Gesamtbild einfügen lässt. Und wenn du es versuchst, dann tust du dir bzw. den betroffenen Teilen von dir Gewalt an.

Das, was du da findest, ist unverzichtbar, aber es passt nicht. Woran liegt es, dass das nicht passt?

 

 

28.         Das Schweigen der Lämmer

29.         Das Geräusch, das Kartoffeln beim Wachsen machen

30.         Der Mut eines Gänsekindes kurz vor seinem ersten Flug

 

 

Nach allem, was wir sehen können, liegt es daran:

Wenn wir auf unserem Lebensweg Teile von uns verlieren, abspalten oder sogar töten, dann entwickelt sich das trotzdem alles weiter: Wir entwickeln uns weiter, und auch die Teile, die jetzt nicht mehr bei uns sind, entwickeln sich weiter. Diese Entwicklungen laufen alle unabhängig voneinander.

 

Und wenn die Jahrzehnte des Getrenntseins ins Land gehen, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass sich die Teile nicht mehr wiedererkennen, wenn sie einander begegnen, und dass sie auch nicht mehr so ohne weiteres zueinander passen. Das ist wie bei guten Freunden, die sich nach Jahrzehnten der Trennung auf einmal wieder begegnen.

 

Wir haben euch hier dreißig ausgedachte Puzzleteile aufgeschrieben, die wir gefunden haben könnten. Wenn ihr euch diese dreißig Teile anschaut – passt das zu irgendeinem Gesamtbild zusammen?

Alle diese Teile sind wichtig, wertvoll und willkommen. Unsere Erfahrung ist: Die finden alle ihren Platz in uns, und das ist alles sehr in Ordnung, schön und richtig. Aber sie fügen sich nicht zu einem Gesamtbild zusammen, weil es dieses Gesamtbild einfach nicht mehr gibt.

Und wenn du versuchst, aus dir ein Gesamtbild zu machen und aus einem Guss und ohne Widersprüche zu sein, dann tust du dir und allen Teilen von dir Gewalt an.

 

Also lass es sein.

Akzeptiere, dass du voller Widersprüche und Ungereimtheiten bist.

Akzeptiere, dass es kein harmonisches Gesamtbild von dir gibt.

Akzeptiere, dass du immer provisorisch und unvollkommen sein wirst.

 

 

31.         Ein Glas Marmelade aus Timbuktu

32.         Eine Pfanne, um Wüstensand zu braten

33.         Das Ende eines Textes

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