Neulich wurde mir das Werk eines Mannes vorgestellt, der auf TikTok sehr aktiv ist. Er schmeißt da mit selbsterstellten Videos nur so um sich. Ins Deutsche übersetzt lautet der Name, unter dem er veröffentlicht:
Meister der Gefühle
Na, das ist ja mal eine Hausnummer: Meister der Gefühle!
Aber was heißt das jetzt?
Meistert er seine Gefühle?
Meistert er die Gefühle anderer?
Ist er in der Lage, in seiner Gefühlswerkstatt jederzeit das gewünschte Gefühl in genormter Güte und Qualität herzustellen?
Fragen über Fragen.
Wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) ließen uns ein paar Ausschnitte seiner Videos zeigen. Ohne Ton versteht sich. Der Ton stört uns nur bei der Wahrnehmung. Mit Worten kann man sehr viel besser lügen als mit dem Körper.
Wir sahen den Oberkörper eines Mannes, der entfernt an „Meister Pröpper“ erinnerte. Er erzählte da irgendwas und verhielt sich dabei wie eine menschliche Wunderkerze auf Speed.
„Und?“ wurden wir gefragt.
„Angst“, antworteten wir. „Wir sehen vor allem Angst. Wasserfälle und Sturzbäche von Angst.“
Schweigen. Das Video lief weiter, und wir schauten uns das an. Der Mann bewegte seine Lippen und seine Augenbrauen mit einer Geschwindigkeit und Intensität, als wollte er Zitronen mit ihnen auspressen. Sein Blick wirkte auf uns gejagt, gehetzt, getrieben.
Wir berichteten weiter.
„Und er ist unheimlich getrieben. Er erzählt irgendwas, was er selber nicht glaubt. Er würde es gerne glauben, aber er muss den Umweg über andere gehen. Wenn die ihm glauben, dann ist er bereit, es selber auch zu glauben. Jetzt lügt er ganz offensichtlich. Jetzt macht er irgendwas anderes, aber echt ist das auch nicht …“
Der Meister der Gefühle.
Nach allem, was wir sehen konnten, ging es ihm darum, seine Gefühle zu beherrschen und jederzeit selber bestimmen zu können, was er fühlte.
Wer sowas versucht, muss natürlich scheitern.
Wir erfuhren dann, dass der Meister der Gefühle von sich behauptet, sein Leben lang unter einer bestimmten Persönlichkeitsstörung gelitten zu haben – aber jetzt sei er geheilt. Und offenbar nutzt er diese Videos, um anderen von dieser Heilung zu berichten und ihnen zu zeigen, wie auch sie von ihrer Persönlichkeitsstörung geheilt werden können.
Der Meister der Gefühle.
Geheilt.
Fabelhaft!
Kommt und seht und staunt!
Gleichzeitig ist der Meister der Gefühle offenbar so selbstlos, dass er auch allen anderen zeigt, wie man geheilt werden kann. Er verlangt kein Geld dafür. Und in seinen Videos wirkt er auf uns wie eine menschliche Wunderkerze auf Speed.
Sehr interessant.
Ganz offenbar haben wir es hier mit einem (selbsternannten) Bodhisattva zu tun.
Aber im Internet treten solche modernen, selbsternannten Bodhisattvas ja eh in Scharen auf.
Ein Psychologe, von dem wir viel gelernt haben, sagt in solchen Situationen immer:
„Gottes Zoo ist groß.“
Was der Meister der Gefühle auf TikTok von sich gibt, fällt alles in unser Metier. Heilung seelischer Wunden ist eines unserer Kernthemen. Ob man jetzt von Persönlichkeitsstörungen geheilt werden kann, das wissen wir nicht. Es ist uns aber auch egal. Wir arbeiten nicht mit dem Begriff „Störung“, weil dem eine normative Setzung zugrundeliegt, die wir nicht teilen. Du bist nicht gestört, du bist anders.
Heilung ist nach unserer Ansicht nur notwendig, wenn irgendwas in unserer Seele verletzt ist, oder wenn eine Eigen- oder Fremdgefährdung vorliegt. Wenn du anders bist, dann bist du halt anders. Wenn sich jemand daran stört, dass du anders bist, dann muss er sich fragen lassen, was genau ihn stört, und aus welchen Gründen das so ist. Das hier ist ein freies Land, und hier darfst du auch merkwürdig sein, solange du dich an die Gesetze hältst. Rein logisch gesehen liegt in so einem Fall die „Störung“ immer in dem, der sich gestört fühlt und nicht in dem, der anders ist.
Aber kommen wir zum eigentlichen Thema:
Meister Pröpper, die menschliche Wunderkerze auf Speed, verkündet im Internet das Heil. Dazu schmeißt er mit Videos nur so um sich. Das darf er. Und Millionen anderer tun es ihm gleich. So viel Heil wie heute war noch nie in der Geschichte der Menschheit. Wenn du bei Google die Worte „wisdom“ und „video“ eingibst, dann erhältst du 273 Millionen Treffer. Die drei Worte „video“, „spiritual“ und „healing“ führen zu 41 Millionen Treffern. Und so weiter.
Tja.
Diese Flüsse fließen alle ins Meer. Trotzdem wird das Meer nicht voller.
Zäumen wir das mal anders auf:
Woran erkennt man eigentlich, dass jemand geheilt ist?
Genau wissen wir das auch nicht, weil wir noch nie einem Erwachsenen begegnet sind, den wir als „heil“ erlebt haben. Eher im Gegenteil: Wenn wir einem Erwachsenen begegnen, dann begegnen wir einem Menschen, der seelisch schwer geschädigt ist. Immer. Nach unserer Erfahrung sind ausnahmslos alle Erwachsenen schwer geschädigt und unterscheiden sich nur im Grad der Schwere dieser Schädigung. Das ist für uns aber nicht weiter wild. Ohne eine Seele voller Wunden und Narben aus Kindheit und Jugend zu kommen, scheint unmöglich zu sein. Manche dieser Wunden heilen mit der Zeit von selbst, andere nicht.
Und für die, die die Wirklichkeit gerne anders hätten, gibt es die bekannten Illusionsmaschinen wie Hollywood, Netflix oder eben das Internet. Da gibt’s „Heile-heile-Segen“ in Massen und in leicht verdaulichen Abschnitten, die längstens 100 Minuten lang sind.
Worauf wir bei Erwachsenen immer achten, ist, in welchem Maße sie ihre Gefühle von dem abhängig machen, was andere sagen oder tun. Das ist zwar kein Indikator für die Heilung seelischer Wunden, aber du kannst sicher sein, dass du umso mehr andere bestimmen lässt, was du fühlst, je schwerer die Wunden in deiner Seele sind.
Uns wurde berichtet, dass der Meister der Gefühle in einem Video, das jemand anders erstellt hatte, damit konfrontiert wurde, dass er in Wirklichkeit gar nicht geheilt sei. Er soll darauf ausgesprochen gereizt und gekränkt reagiert haben.
Unsere Erfahrung ist:
Die Welt ist voller Menschen, die dir sagen, wer du bist und was du bist.
Die Menschen sagen dir, wie du dich fühlst, was du denkst, was in dir vorgeht … und so weiter.
Ein paar Beispiele
„Du bist in Wahrheit gar kein Autist. Du willst dich nur wichtig machen!"
„Diese Arbeit ist gar nicht zu viel für dich. Du bist einfach nur faul!“
„Die anderen können das alle! Nur du kannst das nicht! Warum kannst du nicht, was alle anderen können?!“
„Sieh nur, was du wieder angerichtet hast! Kannst du denn nicht ein einziges Mal besser aufpassen?!“
„Findest du nicht auch, dass du allmählich ein bisschen dick wirst? Ein wenig Sport täte dir auch nicht schlecht.“
„Du bist wirklich begnadet. – Niemand kann das besser als du.“
„Du bist ein wirklich außergewöhnlich kluger und intelligenter Mensch.“
„Ich habe noch nie jemanden getroffen wie dich. Du machst mein Leben reich und wunderschön.“
„Wir wüssten gar nicht, was wir ohne dich machen sollten!“
Und so weiter.
Unsere Erfahrung ist:
Je tiefer und schwerer deine seelische Verletzung ist, desto mehr werden deine Gefühle von den Menschen bestimmt, die dich umgeben. Sie sagen was negatives über dich – du wirst wütend, traurig, niedergeschlagen, aggressiv, defensiv etc. Sie sagen was positives über dich – die Sonne geht in deinem Herzen auf, du fühlst dich wohl, du glaubst an dich, dir geht es gut etc.
Jacke wie Hose.
Unserer Erfahrung ist weiterhin:
Wenn andere etwas zu dir oder über dich sagen, dann sagen sie zu 90% etwas über sich aus und nur zu 10% (wenn überhaupt) über dich. Du allein bestimmst, in welchem Maße du das, was andere über dich oder zu dir sagen im Inneren für wahr hältst und dementsprechend wirken lässt.
Immer, wenn du unreflektiert, automatisch und reflexhaft mit Gefühlen reagierst, wenn andere etwas zu dir oder über dich sagen, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass du an dieser Stelle eine noch nicht verheilte seelische Wunde hast.
Du bestimmst, was du fühlst und was du nicht fühlst, wenn andere was sagen - niemand tut das für dich.
In dem Maße, wie du andere für deine Gefühle verantwortlich machst oder über deine Gefühle bestimmen lässt, bist du seelisch ungeheilt.
(Wichtig: Das bedeutet nicht, dass du geheilt bist, wenn du andere nicht mehr über deine Gefühle bestimmen lässt. Seelische Autonomie ist eine wichtige Voraussetzung für seelische Heilung, aber seelische Autonomie alleine reicht nicht).
Meister Pröpper, der Meister der Gefühle, reagierte offenbar gereizt und gekränkt, als ihm in einem Video vorgehalten wurde, er sei gar nicht geheilt.
Mit anderen Worten:
Wer oder was er war, das sagten ihm andere, und er reagierte reflexhaft mit negativen Gefühlen darauf.
Nach unserer Erfahrung ist der Weg zur seelischen Heilung sehr weit, und es dauert sehr lange, ihn zu gehen.
Dieser Weg ist auf jedem Meter gesäumt mit Menschen, die dir laufend sagen, wer oder was du bist.
In unserer Welt gilt:
Diese Menschen sind ein unverzichtbarer Prüfstein für uns, wo wir noch seelische Wunden haben, derer wir uns annehmen müssen. Diese Menschen quatschen lauter dummes Zeug. Das tun sie fast die ganze Zeit. Das scheint ihre Art zu sein, in der Welt zu sein. Und dennoch ist das, was sie tun, sehr wichtig, wenn wir heilen wollen.
Sie sind wie ein sadistischer Zahnarzt, der mit seinem silberglänzenden Stocherinstrument („Hakensonde“) auf und zwischen unseren Zähnen rumporkelt und dazu sagt:
„Tut das weh? – Und das?“
Wenn die Zähne tatsächlich gesund sind, dann kann er in unserem Mund rumstochern und -porkeln, soviel er will – es tut nicht weh.
Wenn unsere Zähne aber noch wund sind, dann tut es weh. Dann tut es ziemlich weh. Aber das liegt dann nicht an diesem Zahnarzt sondern an unseren Zähnen.
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