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Vor ein paar Wochen informierte mich der Konzern, für den ich arbeite, dass meine Art, Online-Seminare zu machen, jetzt zum Maßstab für alle anderen werden soll, die in meinem Ressort Online-Seminare machen.
Ich war überrascht. Mit den Online-Seminaren hatte ich erst angefangen, als wegen der Corona-Pandemie keine Seminare mehr in Präsenz stattfinden durften. Mein Chef rief mich damals an:
„Stiller, du musst deine Seminare in einer Online-Version anbieten.“
„Wie jetzt? Bin ich jetzt der Schulfunk oder was?! Wie soll das gehen?!“
„Wir können keine Seminare mehr in Präsenz anbieten. Niemand weiß, wie lange das dauern wird. Bitte überlege dir, welche Teile deiner Seminare du digitalisieren kannst.“
„Aber du weißt schon, dass das alles Psychoseminare sind, die ich da mache? Persönlichkeitsentwicklung, Konfliktmanagement, Verhaltensseminare.“
„Ja, sicher weiß ich das. Was davon könntest du online anbieten?“
„Ja, nichts! Darüber haben wir uns doch schon oft unterhalten! Wenn ich Persönlichkeitsseminare online anbiete, dann ist das wie Cybersex. Wie soll ich Selbsterfahrung online machen?“
„Das weiß ich auch nicht. Aber mach‘ dir mal Gedanken. Die Jungs da draußen brauchen auch in der Zeit der Pandemie irgendwas. Die können wir jetzt nicht einfach hängenlassen!“
Das leuchtete mir allerdings ein. Ich arbeite im Vertrieb, und die Jungs da draußen (und die paar Mädels), die liegen mir echt am Herzen. Für sie mache ich meine Seminare immer so gut, wie es irgend geht. Ihr Job ist unglaublich schwierig und hart, und sie brauchen als Unterstützung mehr als irgendwelche motivierenden Sprüche auf Powerpoint von irgendwelchen Vorständen. Sie brauchen irgendwas, was sie tatsächlich weiterbringt und nicht irgendwelche Sprüche oder Drohungen.
Also setzte ich mich hin und fing an, Folien zu entwerfen. Ich bin absolut nicht der Könner in Powerpoint. Meine Folien sind weder schmuck noch schön noch einheitlich noch irgendwie besonders. Und dennoch – ich wusste genau, wie sie sein mussten. Das wusste ich deshalb so genau, weil ausnahmslos alle Powerpointfolien, die ich bis jetzt gesehen hatte, in meinen Augen schlicht zum Kotzen waren:
Text, Text, Text, garniert mit ein paar Bildchen und dann die nächste Folie mit Text, Text, Text und ein paar Bildchen. Und so weiter – stundenlang. Zum Kotzen eben.
Ich hatte noch nie einen Powerpointvortrag erlebt, den ich nicht als unheimlich anstrengend empfunden hatte. Wenn ich gebeten wurde, Online-Seminare zu geben, sagte ich immer:
„Ich hasse Powerpoint. Bei uns in der Zentrale sind schon die ersten an Powerpointvergiftung gestorben.“
Ein paar Mal hatte ich in den Jahren davor auch den Befehl bekommen, in meinen Präsenzseminaren gefälligst und endlich Powerpointfolien einzusetzen. Dazu war mein Standardspruch:
„In meinen Seminaren brauchen wir kein Powerpoint. In meinen Seminaren greifen wir immer zum Äußersten: Wir reden miteinander.“
Mit anderen Worten:
Noch nie war in meinen Seminaren Powerpoint aufgetaucht.
Und jetzt sowas.
Pandemiebedingt schmierte ich also auf Powerpoint irgendwas zusammen, wobei ich nur ein einziges Ziel verfolgte:
Ich erzähle hier mit meinen Folien eine Geschichte.
In unserem Konzern wurden binnen eines halben Jahres alle Seminare auf Online umgestellt. Es fand jahrelang praktisch kein Präsenzseminar mehr statt.
Und schon nach kürzester Zeit bekam ich geradezu hymnische Rückmeldung meiner Teilnehmer: Meine Online-Seminare seien die einzigen, denen man zuhören könne. Ganz häufig kam:
„Dir könnte ich auch online stundenlang zuhören!“
Aha.
Das sprach sich rum. Das sprach sich sehr schnell rum. Kollegen wurden unruhig. Sie begannen, sich als Teilnehmer in meine Online-Seminare zu buchen, um zu sehen, was ich da eigentlich machte. Sie wollten meine Geheimnisse erfahren. Aber ich machte da gar nichts – jedenfalls keine Geheimnisse. Ich erzählte nur Geschichten.
Meine Folien sind mühsam zusammengeschmierter Stümperkram, sie sind unexakt, uneinheitlich, unsymmetrisch, politisch unkorrekt … und so weiter.
In meinen Online-Seminaren erzähle ich nur Geschichten, sonst nichts.
Und jetzt wurde beschlossen, dass alle anderen in ihren Online-Seminaren auch so arbeiten sollten wie ich. Ich dachte nur:
„Das geht nicht. Die anderen sind keine Geschichtenerzähler.“
Aber ich sagte nichts.
Nur an meine Folien müssten sie nochmal ran, sagten sie mir. Das sagten sie mir mehrfach. Also diese Folien … so uneinheitlich, so wenig designt, so wenig Corporate Identity ...
Niemand begriff anscheinend, dass meine Seminare deshalb so erfolgreich sind, weil die Folien eben nicht so sind wie sonst.
Aber ich sagte nichts. Solange die Leute in der Konzernzentrale mich meine Arbeit tun lassen, ist mir ziemlich egal, was sie reden.
Dann wurde der beste Powerpointkönner des Ressorts auf mich losgelassen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass dieser Mensch nichts anderes macht als Powerpoint. Bestimmt hat der auch den schwarzen Gürtel in Powerpoint. Den dritten Dan. Der schreibt vermutlich auch Liebesbriefe in Powerpoint.
Also - ich sollte ihm alle meine Folien zuschicken, damit er sie überarbeiten konnte.
Das machte ich. Denn mir war klar:
Der würde diese Folien allesamt in mühsamer und langwieriger Arbeit zu irgendwas was ganz, ganz Tollem machen. … Und ich würde in meinen Seminaren trotzdem mit meinen Stümperfolien weiterarbeiten. Seine Folien würde ich irgendwo abspeichern und auf Verlangen vorzeigen. Aber selbstverständlich würde ich nicht damit arbeiten. Bin ich bekloppt, oder was?!
Wenn die Leute in der Konzernzentrale irgendwas tun, gilt für mich immer:
„Lass sie machen, solange sie mich nicht bei meiner Arbeit behindern.“
Dieser absolute Powerpointmeister rief mich an.
„Stiller,“ begann er, „deine Folien sind ja schon fast perfekt …“
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Neulich bekam ich Werbung auf mein Handy gespielt:
„So gelingt Ihnen das perfekte Familiendinner“
Natürlich dachte ich zuerst, dass sie mir jetzt zeigen würden, wie ich mir meine Familienmitglieder schmackhaft zubereiten kann, aber als ich mir die Bilder anschaute, sah ich, dass ich mich geirrt hatte:
An großen, ovalen Tischen saßen maskenhaft lächelnd irgendwelche Menschen, die Familien darstellen sollten. Auf diesen Tischen waren in sorgfältigst durchchoreografierten Anordnungen irgendwelche Abendessen aufgebaut: Tischdecken, Teller, Servietten, Besteck; Gläser in mannigfacher Variation; silberne Schüsseln, aus denen irgendwas dampfte; Behältnisse, in denen Weinflaschen merkwürdig schräg gelagert wurden … alles farblich und räumlich perfekt aufeinander abgestimmt …
… das alles wirkte auf mich abgezirkelt, steif, durchgeplant, klinisch rein, langweilig, starr, spaßbefreit, leblos und öde.
Es war perfekt.
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Wenn ihr wollt, könnt ihr das mal googeln:
Es gibt Ratgeber für das perfekte irgendwas in unüberschaubarer Vielfalt:
Das perfekte Zuhause
Die perfekte Ausstrahlung
Das perfekte Steak
Das perfekte Bewerbungsanschreiben
Der perfekte Elektrokram (Handy, Tablet, Fernseher, Mikrowelle etc.)
Das perfekte Buch
Der perfekte Campingurlaub
Acht Tipps für eine perfekte Beziehung
Die perfekte Gesprächsführung
Die perfekte Inneneinrichtung
Der perfekte Urlaub
Der perfekte Workout
Der perfekte Saunagang
Das perfekte Auftreten
Und so weiter
Und so weiter
(Verzeihung, es hätte natürlich heißen müssen „Perfektes Und so weiter“)
Es scheint auf dieser Welt kaum ein Thema zu geben, wo es keine Ratschläge gibt, wie man das perfekt gestalten könnte.
Und ganz viel von dem richtet sich augenscheinlich an die permanenten „Selbstoptimierer“, die „mehr aus ihrem Leben“ machen wollen, die buchstäblich alles an Erlebnissen und Erfolgen aus ihrem Leben rausquetschen wollen, was irgendwie geht.
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Wenn ich mir anschaue, was im Leben von Menschen „perfekt“ ist, stelle ich immer dasselbe fest:
Je perfekter das Leben von Menschen wird, desto unlebendiger, starrer, uninteressanter, öder und freudloser wird es.
Vielleicht erleben andere das anders. Nach meiner Erfahrung gilt:
Perfekt ist tot.
Ich kann mich erinnern, dass ich mal mit ein paar Freunden auf einer Hochgebirgstour war, wo so ziemlich alles schiefzulaufen schien:
Im Tal hatten wir den Einstieg in den Berg nicht gefunden, weiter oben hatten wir eine falsche Abzweigung genommen, was uns Stunden kostete, dann war das Wetter plötzlich sehr viel schlechter geworden – Gewitter in 2.500 Metern Höhe an einer ausgesetzten Stelle, wo du keinerlei Deckung im Berg findest, ist unangenehm -, einer von uns, der vorher groß von den Bergen rumgetönt hatte, hatte in Wirklichkeit Höhenangst und war nicht schwindelfrei …
Die Leute fluchten und schimpften und maulten. Und klar – uns ging es nicht gut.
Aber alles, was mir dazu einfiel war:
„Das ist ein Tag, an den wir uns ganz lange erinnern werden. Tage, an denen alles perfekt und wie geplant läuft, erinnert nachher keiner mehr, die werden aus dem Gedächtnis und dem Leben gestrichen.“
Die Jungs schauten mich misstrauisch an, als ich ihnen das sagte. Aber letztlich hat sich das, was ich damals – vor Jahrzehnten – sagte, bewahrheitet.
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Ich sage:
Wenn du ein Leben führen willst, das zu leben sich lohnt - ein lebendiges, ein erfülltes, ein pralles Leben …
… dann schau, dass du dich vor perfekt hütest.
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Aber achte darauf, dass du dich nicht perfekt vor perfekt hütest, denn sonst hast du wieder nichts davon.
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Ich erinnere mich, dass ich vor ein paar Jahren auf einer (für mich) extrem anspruchsvollen Bergtour war. Eine Monstertour. Sechzehn Stunden lang wirklich schwerer Sport. Über 50.000 Schritte lang. Zigtausend Höhenmeter mussten überwunden werden. Und es ging rauf auf deutlich über 3.000 Meter.
Ein paar Stunden vom Gipfel entfernt kamen mir zwei Bergfuzzis entgegen, die offenbar oben gewesen waren. – Echte Machertypen, die ihr Leben im Griff hatten. Sie gingen sehr, sehr schnell.
Einer von ihnen schaute mich an, als er auf mich zukam und an mir vorübereilte. Er sagte:
„Zum Gipfel? Peeeerfeckt!“
Dann war er auch schon weg in Richtung Tal.
Ich sagte nichts.
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Jahre später begegnete ich diesem Mann an einer anderen Stelle des Gebirges – auch in (für mich) sehr großer Höhe, weit über 3.000 Meter hoch. Er eilte da in seiner typischen Art trittsicher und gewandt durch sehr steilen Felsen schräg nach oben.
Diesmal war er allein.
Diesmal sagte er nichts zu uns.
Es ging ihm nicht gut. Es ging ihm überhaupt nicht gut. Er versuchte perfekt, das zu überspielen.
Als er an uns vorbeigeeilt war, sagten mir meine Kleinen:
„Das ist aber der einsamste Mensch, den wir je hier oben getroffen haben.“
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In unserer Welt gilt:
Perfekt gibt es nur in der Mathematik oder im Reich der Ideen.
Wenn du „perfekt“ auf irgendwas Lebendiges anwendest, dann gilt:
Perfekt ist tot.
Das gilt auch und besonders für alle Selbstoptimierer.
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