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Fehlendes Selbstbewusstsein – Geformt nach einem Bild

Es gab lange Zeiten in meinem Leben, da wollte ich wissen, wer ich war. Aber ich wusste es nicht – woher auch? Wer als Kind und Jugendlicher von seinen leiblichen Eltern und der übrigen erwachsenen Welt so dauerhaft und so konsequent aus seinem Leben gedrängt wurde wie ich, der verliert so ziemlich jedes Selbstbewusstsein.

 

Selbstbewusstsein – das Bewusstsein seiner selbst. Wissen, wer man ist, was man will, was man kann, was man braucht, wonach man sich sehnt, was einen ausmacht … Wie soll jemand sowas wissen, wenn er nie die Erlaubnis bekommen hat, er selbst zu sein?

 

Tja.

Am Anfang war Erziehung.

Aus der Erfahrung, die ich bei meiner Arbeit mit erwachsenen NTs mache, weiß ich, dass man als Kind nicht so schlecht behandelt worden sein muss wie ich, um so gut wie kein Selbstbewusstsein zu haben. (Erneut: „Selbstbewusstsein“ ist für mich das Bewusstsein seiner selbst. Es geht nicht darum, ob du dich robust gegen andere durchsetzen kannst. Das können auch Menschen ohne jedes Selbstbewusstsein).

 

Nach allem, was ich sehen kann, verstehen auch heute noch viele Eltern ihren Erziehungsauftrag nicht so, dass sie ihre Kinder auf dem Weg ins Leben begleiten sollen, sondern so, dass sie die Kinder formen müssen. Formen zu irgendwas, was irgendeinem Bild entspricht, das die Eltern in sich tragen. Aber wie soll ein Kind, das zu einem Bild von irgendwas geformt wurde, wissen, wer es selbst ist und das entsprechende Selbstbewusstsein entwickeln?

 

Die meisten kinderformenden Eltern, denen ich begegne, scheinen der Überzeugung zu sein, zum Besten des Kindes zu handeln.

Ich kann mich erinnern, dass mich gleich mehrere Spitzenführungskräfte eines internationalen Großkonzerns im Coaching auf ihre Kinder ansprachen. Diese Führungskräfte taten das unabhängig voneinander. Sie hatten in Gesprächen untereinander immer wieder festgestellt, dass die von ihnen beruflich am erfolgreichsten waren, die in ihrer Kindheit besonders schlecht von ihren Eltern behandelt worden waren. Sie fragten mich – unabhängig voneinander - ob sie ihre Kinder auch so schlecht behandeln sollten, damit sie später als Führungskräfte auch so erfolgreich würden – Einkommensmillionäre und so.

Ich dachte, ich hör‘ nicht recht.

Aber ich hörte recht.

Und ganz spontan sagte ich der ersten Führungskraft, die mich das im Coaching fragte:

„Und wenn Ihre Tochter jetzt nicht Führungskraft werden will wie Sie, sondern das Talent hat, zu einer gefeierten Konzertpianistin zu werden, was dann?“

Bei den nächsten Führungskräften dieses Konzerns, die zu mir ins Coaching kamen, war ich dann schon vorgewarnt und vorbereitet.

 

Nicht immer ist der Zusammenhang zwischen elterlichen Bildern und der Kinderformung so deutlich wie in diesem Fall. Aber sehr häufig erlebe ich es, dass Eltern an ihren Kindern herumerziehen, weil die Kinder nicht dem Bild entsprechen, das die Eltern sich von ihnen gemacht haben.

Und das Kind kann nicht anders. - Es muss sich anpassen, wenn es überleben will.

Und so vergisst es im Lauf der Zeit zu einem kleinen oder größeren Teil, wer es ist.

Wie oft kommen erwachsene Menschen zu mir, mit der festen Grundüberzeugung, so oder so zu sein bzw. den oder den Charakterzug zu haben, wo ich schon beim ersten flüchtigen Blick feststelle:

„Nein, so bist du nicht.“ oder „Nein, das ist kein Charakterzug von dir, das ist antrainiert.“

 

Manchmal sagen mir solche Eltern:

„Ich will doch nur das Beste für mein Kind!“

Wenn ich den Eindruck habe, verstanden zu werden, frage ich dann:

„Willst du für dein Kind dein Bestes oder das Beste des Kindes?“

Aber meistens habe ich nicht den Eindruck, mich verständlich machen zu können, deshalb nehme ich nur wahr, was die Eltern mir erzählen bzw. was sie tun und sage nichts dazu.

 

Den leisen Kindern wird gesagt, dass sie lauter sein sollen. Den lauten Kindern wird gesagt, dass sie leiser sein sollen. (Introvertierte Kinder neigen eher dazu, leise zu sein, extravertierte Kinder neigen eher dazu, laut zu sein).

 

Schüchternen Kindern wird gesagt, dass sie tougher auftreten und sich durchsetzen sollen. Kindern, die tough auftreten und ihre Interessen lautstark und nachdrücklich vertreten, wird gesagt, dass sie gefälligst zurückhaltender sein sollen.

 

Kindern, die viel und gerne lesen, wird gesagt: „Nun geh doch mal raus und spiel mit den anderen Kindern. Du kannst doch nicht immer nur über deinen Büchern sitzen!“

Kindern, die am liebsten draußen rumtoben und durch die Gegend strolchen wird gesagt:

„Nun lies‘ doch mal was.“

 

Und so weiter.

Ich denke, das Muster ist klar geworden.

 

Besonders schlimm scheint es zu werden, wenn

a)    Das Kind charakterlich so gar nicht nach Vater oder Mutter kommt

b)    Das Kind charakterlich genauso ist wie Vater oder Mutter.

Mach‘ was dran.

 

Wozu führt fehlendes Selbstbewusstsein?

Außer zu schwerer seelischer und körperlicher Schädigung und Krankheit meine ich.

 

Es führt dazu, dass man das Leben eines anderen führt bzw. ein Leben nur simuliert und permanent rätselt, wer man selber ist.

„Steht mir das?“

„Passt das zu mir?“

„Was soll ich essen?“

„Findest du, dass er der richtige für mich ist?“

„Was meinst du – soll ich mich für diesen Job bewerben?“

„Trennkost soll ja gut sein.“

„Ich weiß nicht, was ich denken soll.“

„Im Internet habe ich gelesen, dass …“

„Ich glaube, ich bin verliebt.“

„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“

Und so weiter.

 

Aber solche Menschen, die solange nach einem Bild geformt wurden, bis sie vergessen haben, wer sie sind, haben Glück (Ironie):

Die Welt ist voller Menschen, die ihren Lebensauftrag darin sehen, anderen zu erzählen, wer sie sind bzw. wie sie zu sein haben. Ohne jeden Auftrag (und in der Regel auch völlig schmerzbefreit und distanzlos) sagen sie dir, wer du bist und erziehen an dir rum:

 

„Das sagt man nicht mehr.“

„Das war jetzt aber unhöflich von dir.“

„Du guckst so komisch – ist irgendwas mit dir?“

„Ein Lächeln kostet nichts – schenk es jedem.“

„Da musst du aber noch sehr an dir arbeiten!“

„So wird das nie was mit dir!“

„Du bist ja bloß neidisch.“

„Das steht dir aber gar nicht.“

„Da musst du noch sehr viel lernen!“

„Du musst mehr Ballaststoffe essen.“

„Du musst selbstbewusster werden. Ich kann dir da ein Buch empfehlen, das musst du unbedingt mal lesen.“

„Du siehst so traurig aus.“

„Sei doch nicht immer so verschlossen. Komm – setz‘ dich doch mal zu uns!

Und so weiter.

 

 

Das Verhalten mancher Menschen ist also eindeutig ein Teil des Problems und nicht ein Teil der Lösung.

 

Und falls du selber versuchst, dich nach einem Bild zu formen (weil du es nicht anders gelernt hast) … sagen wir, du willst

erfolgreicher

glücklicher

beliebter

fitter

positiver

werden.

 

 

Meine Erfahrung ist, dass du zu deinem schlimmsten Feind mutierst, wenn du das tust.

Nach meiner Erfahrung kommt es im Leben überhaupt nicht darauf an,

erfolgreicher

glücklicher

beliebter

fitter

positiver

zu werden.

 

Am Ende deines Lebens wird nicht zählen, ob du

erfolgreicher

glücklicher

beliebter

fitter

positiver

geworden bist.

 

Es wird zählen, ob du dein Leben gelebt hast oder das eines anderen (oder ob du ein Leben nur simuliert hast).

In den letzten Jahren bekomme ich immer häufiger, sehr ergreifende und geradezu bestürzende Rückmeldung von Menschen, die dem Tod nahe sind und feststellen, dass sie ihr Leben damit vergeudet haben,

erfolgreicher

glücklicher

beliebter

fitter

positiver

zu werden.

 

 

Wenn du dein Leben damit vergeudest, dich nach irgendeinem Bild zu formen, dann ist es so, als würdest du dein ödes, leeres und fades Leben mit wohlgeformten Styroporflocken ausstopfen, damit es sich schön rund und voll anfühlt.

 

Und wenn auf jeder dieser Styroporflocken mit zuckersüßer Schrift steht: „Ein Stück vom Glück“ oder „positiv“, dann ändert das nichts daran, dass dein Leben nicht glücklich oder positiv war, sondern eine mit Glücksimitaten vollgestopfte positive Simulation des Lebens. Dann stellst du am Ende deines Lebens entsetzt fest, dass das Leben die ganze Zeit woanders stattfand, während du dich „positiv“ und „glücklich“ und „beliebt“ und „fit“ und „erfolgreich“ nach einem Bild geformt hast.

 

Wenn du dein Leben damit verbringst, dich nach einem Bild zu formen und es deshalb mit Styroporflocken ausstopfst, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass du, wenn du am Ende deines Lebensweges dein Leben auf eine Waage legst, feststellst, dass es kaum was wiegt.

 

Nach allem, was ich sehen kann, ist das eine der bittersten Erfahrungen, die man machen kann. Offenbar kann es sehr hilfreich und nützlich sein, frühzeitig an seinem Selbstbewusstsein zu arbeiten.

 

Ich sage:

Arbeite nicht an dir.

Forme nicht an dir.

Erziehe nicht an dir rum. 

Überlege nicht, wer oder wie du gerne wärst, sondern finde raus, wer du tatsächlich bist.

Wer du tatsächlich bist, wenn du all das von dir abziehst, was gemeinhin „Erziehung“ genannt wird. Wer bist du hinter all dieser antrainierten Maskerade und diesem antrainierten Scheinsein?

Finde zu dir.

 

Da hast du genug zu tun.

Das reicht für Jahrzehnte.

Das reicht für ein ganzes Leben.

 

Für ein ganzes und erfülltes Leben.

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