Jeden Abend

***

 

Jeden Abend denk‘ ich beim Spazierengeh‘n:

„Warum ist hier draußen kein Mensch zu seh‘n?“

Doch die Nachbarn interessiert kein Abendstern.

Alle sehen wie ein Blick durch’s Fenster zeigt nur fern.

 

Aus dem Lied eines Künstlers, dessen Werk uns immer wieder viel bedeutet. ***

 

 

Dunkel is‘ es draußen.

Und kalt.

Muss wohl an der Jahreszeit liegen.

Wie auch immer – auch in dieser Jahreszeit bin ich oft zum Spazierengehen draußen. Es ist kalt, es ist dunkel, und warm eingepackt latsch‘ ich durch den Taunus. Stunde um Stunde um Stunde.

 

Mein Weg führt mich dabei oft an kleinen Dörfern und Vororten vorbei, wo ich in Neubaugebieten die Möglichkeit habe, mir mal genau anzuschauen, wie die Menschen so wohnen und was sie in ihren Wohnungen so alles treiben.

 

Keine Ahnung, wer solche Häuser entwirft und baut. Keine Ahnung, wer sich solche Häuser freiwillig kauft und sie dann auch noch bewohnt.

Auf jeden Fall – wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) erkennen einen neuen Trend bei der zeitgenössischen Architektur: Das durchsichtige Haus.

 

Natürlich sind die Häuser nicht komplett durchsichtig. Aber die Fenster sind riesig. Und ich meine RIESIG. Darüber hinaus sind sie so angeordnet, dass man vorne ins Haus reingucken kann, sodann durch das Haus hindurch und auf der anderen Seite wieder hinaus. Jedenfalls dann, wenn es draußen dunkel und drinnen hell ist. Und in dieser Jahreszeit ist es oft so, dass es draußen dunkel (und kalt) ist und innen in den Häusern hell (und warm).

 

Und so latsche ich viele Stunden durch den winterkalten Taunus und bekomme allenthalben vorgeführt, wie die Leute so leben. Das alles geht ohne Ton, was sehr angenehm für uns ist. Zum einen tragen wir Stöpsel in den Ohren und zum anderen sind diese Fenster vergleichsweise schalldicht. Wenn die Menschen in diesen Wohnungen miteinander reden, dann sehen wir, wie sich ihre Gesichter bewegen und welche Gesten diese Menschen machen, aber wir hören keinen einzigen Ton. Wie gesagt – sehr angenehm.

 

Und typischerweise geht das ungefähr so:

Wir latschen eine Stunde durch den Wald und an Weiden vorbei. Wir beobachten die Natur oder erzählen uns Geschichten. Dann führt der Weg durch ein kleines Dorf und an so einem Neubaugebiet vorbei. Wenn die Häuser schon bezogen sind, fühlen wir uns eingeladen, eingehende Beobachtungen menschlichen Verhaltens im natürlichen Habitat zu machen. Die Leute sehen ja nicht, dass wir da draußen sind (wir sind von oben bis unten schwarz gekleidet und keinerlei Licht ist an uns).

 

Dann führt unser Weg wieder in den dunklen Wald und wir haben eine Stunde oder so Zeit, das Gesehene zu besprechen und zu bearbeiten, bevor wir am nächsten Dorf vorbeikommen.

 

So geht das tatsächlich beinahe jeden Abend.

 

Und letztens haben wir uns gedacht:

So wird das doch normalerweise in Filmen und auf Postkarten gehandhabt:

Da läuft jemand einsam und verzweifelt (am besten ganz in Schwarz gekleidet und ganz ohne Licht) durch Kälte und Dunkelheit. Er weiß nicht mehr weiter, und seine – ach – verflossene Liebe schmerzt ihn so sehr, und sein böser Stiefonkel hat ihn enterbt und verstoßen, so dass er jetzt nur noch von Buchenrinde und Eicheln lebt …

 

… immer wieder kommt er an erleuchteten Häusern vorbei und weiß, dass die Leute da drin es warm haben, dass sie satt und glücklich sind, dass sie ein wunderbares Leben leben, aber sein grässliches Geschick – oh weh und ach! – ist das des rastlosen Wanderers … immer auf der Flucht vor seinen Häschern, immer einer Sehnsucht folgend, die ja doch nie erfüllt werden wird. Der Menschheit ganzer Jammer fasst ihn an.

 

Sehnsüchtig und verzweifelt, aber immer wieder auch voller Groll und Neid schaut er vorbeischreitend in die erleuchteten Fenster, wo das Glück und die Wärme (und der dampfende Schweinebraten) unerreichbar für ihn sind. Das wird er nie haben, so sehr er sich danach auch sehnt! Warum haben alle anderen das in Überfülle, was ihm sein arges Schicksal verwehrt?! Ja, oh weh und ach!

 

Aus Hollywoodfilmen kennen wir das:

Wenn dieser unglückselige, einsame und verlorene Wanderer dann aber doch ganz viel Glück hat, und wenn ein freundliches Drehbuch es gut mit ihm meint, dann wird er nach ganz vielen Verwicklungen durch dieses Leid geläutert und als dauerpubertierender Schriftsteller weltberühmt, weil keiner so gut und so anrührend all die Seelenfinsternisse beschreiben kann, die er durchwandert hat …

 

Fremd bin ich eingezogen.

Fremd zieh‘ ich wieder aus.

 

Wir latschen in Dunkelheit und Kälte vorbei an diesen hell erleuchteten Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichen und halbe Häuserfronten einnehmen, so dass man den Leuten fast bis in den Magen gucken kann, wenn sie gähnen. Wir sehen, was sie machen und tun, wir sehen, wie sie miteinander umgehen, wir sehen, wie sie wohnen – zehn bis fünfzehn Minuten Stummfilm in Farbe, bis wir auch an diesem Dorf wieder vorbei sind und uns der nachtdunkle Wald umfängt.

 

Da wir warm eingepackt sind, stört uns die Kälte nicht im Geringsten.

Und dass es so dunkel ist, ist uns gerade recht. Unsere Augen sind derart lichtempfindlich, dass wir auch nachts fast immer entspannt und gut sehen können. Aber die normalsichtigen Leute sehen uns eher nicht – sehr angenehm … vermutlich für beide Seiten sehr angenehm. Viele Menschen fürchten sich vor uns oder erschrecken regelrecht, wenn wir da als große und breite Gestalt – beinahe lautlos und ganz in Schwarz gekleidet – plötzlich aus der Dunkelheit auftauchen. Irgendsoein finsterer, absolut schweigsamer Typ … vermutlich der Vorbote von Gevatter Tod oder sein Kundschafter. So einem geht man lieber aus dem Weg.

 

Da ist es besser, wenn wir für die normalsichtigen Menschen beinahe unsichtbar sind.

 

 

Ja, und die Sehnsucht und die Anziehungskraft dieser hell erleuchteten warmen Stuben, wo der Lebkuchen duftet und der vegane Auflauf aus der ultramodernen Mikrowelle genommen wird?

Und erst die Fernseher, die größer sind als jedes Bettlaken …

 

Jeden Abend.

 

Jeden Abend.

 

Jeden Abend denk‘ ich beim Spazierengeh’n:

„Nee, eher nicht.“

 

Das alles hat keine Strahlkraft für mich. Keinerlei Anziehung, keinerlei Sehnsucht. Und ich betrete danach auch nicht unter unendlichen Seufzern irgendwelche Zypressenhaine, um erregt und zutiefst aufgewühlt irgendwelche unsterblichen Gedichte und Romanfragmente in mein Notizbuch zu kritzeln. Bin ich der Hermann Hesse für Arme oder was?

 

So wie diese Leute wollen wir nicht leben. Auf gar keinen Fall. Nicht für Geld und nicht für gute Worte. Aber wir finden es richtig gut, dass die beinahe grenzenlose Distanzlosigkeit, die wir bei so vielen NTs erleben, endlich ihren sicht- und fühlbaren Niederschlag in der zeitgenössischen Wohnarchitektur findet: Das Großraumbüro für daheim - was für eine wunderbare Idee! Für Menschen, die Großraumbüros gut finden, muss es herrlich sein, auch daheim so leben zu können, dass alle jederzeit mitbekommen, wo alle anderen sind, wie es ihnen geht, was sie machen … Alle Gerüche, alle Geräusche, alle Gedanken werden miteinander geteilt, jederzeit und überall. Und wahrscheinlich läuft die ganze Zeit im Hintergrund irgendeine Wohlfühl-Dudel-Dudel-Musik, und die Duftkerzen sind derart aromatisch, dass es die Tapete von den Wänden ätzt, und der Plätscherbrunnen im Wohnzimmer, der Tag und Nacht läuft und all die Bilder und Schmuckteller an den Wänden, all der Zierrat und Nippeskram, der auf den Gesimsen und Möbelecken steht, und erst der riiiiiesige Fernseher, der beinahe ununterbrochen läuft …

 

Jeden Abend.

 

Jeden Abend machen wir stummes Sightseeing in der Hölle.

 

Ihr habt euer Paradies, wir haben unseres.

Und wir sind heilfroh, dass diese Paradiese getrennt sind und getrennt bleiben.

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