· 

Der Mars ist aufgegangen

1

Es war ein Sommer vor fast 25 Jahren. Ich trug meine ältere Tochter (anderthalb Jahre alt) durch das Dorf, in dem wir damals wohnten. Der Abend ging allmählich in die Nacht über, und die Hitze des Tages wich einer angenehmen Wärme. Die Tochter schlief auf meinem Arm – sie lag mit dem Rücken auf meinem Unterarm, ihr Kopf war gegen meinen Oberarm gelehnt. Ihren Windelpo hielt ich mit beiden Händen, und ihre Beine baumelten frei in der warmen Sommerluft herum.

 

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, hatte sich an diesem Abend mal frei genommen, um mit ihren Freundinnen was zu unternehmen. Und so trug ich unsere schlafende Tochter im Dorf herum, damit der Abend für die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, auch frei blieb.

 

Ich hatte mir das so gedacht:

Wenn unsere Tochter bei uns daheim aufwachte, dann würde sie alsbald nach ihrer Mutter verlangen. Wenn sie aber aufwachte, wenn sie draußen im Dorf war, dann würde sie sich vor allem für die Tiere dort interessieren. Da gab es die Ziegen, die sie immer so gerne fütterte, da gab es die Babykühe, denen sie immer ausgiebig auf der Nase rumtatschte, es gab da die Hofhündin Asta, die ihre Freundin war, weiter unten im Dorf gab es die Babyschweine …

 

Die Leute im Dorf kannten das schon: Da ging dieser merkwürdige, große und absolut schweigsame Mann langsam mit seiner schlafenden Tochter auf dem Arm durch‘s Dorf und die angrenzenden Wiesen, Felder und Wälder – stundenlang. Und wenn die Tochter aufwachte, dann wollte sie Tiere sehen und mit ihnen sprechen. Meine Tochter durfte in alle Ställe und auf alle Höfe –sie war schon immer ein Mensch, dem alle Herzen zuflogen, und da konnten die örtlichen Landwirte nicht nein sagen, wenn sie Tiere sehen wollte. Und da sie natürlich nicht alleine in den Ställen rumlaufen durfte, hatten mir die örtlichen Landwirte erlaubt, sie zu begleiten.

 

Ich trug meine Tochter auf einer sorgfältig geplanten Strecke – egal, wo wir auf dieser Strecke waren, immer waren binnen weniger Minuten irgendwelche Tiere erreichbar. Der volle Mond ging direkt über uns am wolkenlosen Himmel auf und überstrahlte die wenigen Sterne, die bislang sichtbar gewesen waren. Meine Tochter schlief weiterhin ruhig und friedlich. Ich schritt langsam meine Strecke ab.

 

Dann wachte meine Tochter auf. Sie hielt die Augen noch geschlossen und räkelte sich ein wenig auf meinem Arm. Wir waren ganz in der Nähe der Ziegen: Glück gehabt – sie würde nicht fragen, wo die Mama war, sondern zu den Ziegen wollen.

Meine Tochter öffnete die Augen und lag ganz ruhig. Ihre Augen wurden immer größer und glänzender. Sie staunte und staunte. Überrascht folgte ich ihrem Blick.

„Das ist der Mond, Kind“, informierte ich sie.

Meine Tochter war das reine Entzücken und Staunen. Sie ging vollkommen in dieser Situation auf. Ihre Augen waren riesengroß.

Ganz langsam streckte sie ihre beiden Ärmchen nach dem Mond aus und sagte leise und langsam:

„Haben!“

Ein tiefer, weher Schmerz durchfuhr mich. Nie würde dieses Kind diesen wunderbaren Mond haben können. Und ich sah, wie sehr sie das wollte, wie sehr sie sich danach sehnte.

„Der ist zu weit weg, Kind“, sagte ich ihr leise. „Den kann niemand haben. Den kann man nur anschauen.“

 

Noch lange hielt meine Tochter die Arme ausgestreckt und schaute nur diesen vollen, runden Mond an. Es war für sie wohl das schönste, was sie je gesehen hatte. Für mich war das halt der Mond. Aber ich konnte sie verstehen.

 

Noch ganz lange schaute sie nur den Mond an, während ich sie weiterhin durch’s Dorf trug. Ziegen, Babykühe und Babyschweine – sie alle mussten heute warten. Heute gab es für meine Tochter nur den Mond.

 

 

2

Einige Tage später war ich mit meiner kleinen Familie abends in der nächstgelegenen Kleinstadt unterwegs. Ich weiß nicht mehr, was wir da zu tun hatten. Aber als es langsam Nacht wurde, waren wir damit fertig, und die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin und ich setzten uns in ein Straßencafé am Marktplatz. Wir tranken Mineralwasser, und unsere Tochter strolchte auf dem gepflasterten Marktplatz herum und suchte Auas.

 

Mit den Auas hatte es folgendes auf sich:

Seit meine Tochter laufen konnte, wollte sie auf dem Marktplatz rumlaufen, wenn wir dort waren – es gab da so viel zu entdecken für sie! Sie hatte eine Vorliebe für alles, was glitzerte und glänzte, und da sie aufgrund ihrer geringen Größe und starken Biegsamkeit vor allem bodennah unterwegs war, fand sie dort allerlei, was dem prüfenden Auge Erwachsener normalerweise entging. Vor allem fand sie bunte Glasscherben.

 

Als sie mir das erste Mal freudestrahlend eine halbe Handvoll Glasscherben gezeigt hatte, die sie gefunden hatte, hatte ich entsetzt reagiert:

„Kind, nicht! Das macht aua!“

Dann hatte ich sie zu einem der Mülleimer geführt, die da allenthalben an den Laternenpfählen hingen, und sie hatte ihre Schätze da hineingeworfen – der Papa wollte das so.

 

Das hinderte sie aber nicht daran, mir zehn Minuten später die nächste Handvoll Glasscherben zu präsentieren:

„Aua!“ verkündete sie stolz.

Und wieder gingen wir gemeinsam zum nächstgelegenen Mülleimer.

 

Über die Wochen hatte ich festgestellt, dass sie überall Auas fand – egal wo. Und dass sie sich niemals verletzte. Keine Ahnung, wie sie das machte. Aber sie konnte Glasscherben, abgebrochene Rasierklingen oder sonst was finden – nie hat sie sich auch nur im Geringsten verletzt. Sie liebte den entsetzten Blick in meinen Augen, wenn sie mir wieder ihre Schätze präsentierte, und so hatte sich mit der Zeit ein Ritual entwickelt:

Wenn wir auf den Markt kamen, dann strolchte sie so lange in der Gegend rum, bis sie zwei Hände voll Auas gesammelt hatte. Die hielt sie mir stolz entgegen, und wir beide gingen dann zum nächstgelegenen Mülleimer, wo ich sie hochhob, damit sie ihre Auas stolz dort versenken konnte.

 

An diesem Abend saß ich also mit der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, auf der Terrasse eines kleinen Straßencafés. Meine Tochter strolchte durch die Gegend und sammelte wieder ihre Auas. Hin und wieder sah ich, wie sie sich bückte und was aufhob. Ich unterhielt mich mit der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin. Auf einmal hörte ich meine Tochter laut rufen.

 

Ich schaute zu ihr hinüber. Sie hatte all ihre Auas fallen gelassen und tanzte auf dem Marktplatz ausgelassen herum. Sie hüpfte von einem Bein auf das andere. Beide Ärmchen hatte sie weit in die Höhe gereckt, um nach oben zu zeigen.

„Kumma!“ (guck mal) hörte ich sie rufen, „Kumma! Mond! Mond!“

Sie tanzte und hüpfte ausgelassen herum. Sie freute und freute und freute sich, dass sie ihren geliebten Mond wieder sehen konnte.

„Kumma! Mond!“

 

 

3

Als wir an diesem Abend nach Hause kamen, schwärmte sie immer noch vom Mond. Ich sagte ihr, dass man den auch von der Wohnung aus sehen konnte. Da war sie begeistert. Ich führte sie zum Küchenfenster und stellte sie auf’s Fensterbrett. Ich stand direkt hinter ihr, damit sie sich an mich lehnen konnte. Sie stand da und starrte hinaus und war die reine Begeisterung und brabbelte mir beständig was von ihrem Mond vor.

 

Als wir dann unter das Dach in unser gemeinsames Schlafzimmer gingen, sah sie durch’s Dachfenster und erlebte ihre nächste freudige Überraschung:

„Noch’n Mond!“ schrie sie begeistert aus. „Lauter Mönde!“

 

Ich sagte ihr, dass das derselbe Mond sei, nur aus unterschiedlichen Fenstern betrachtet. Aber das störte sie nicht im geringsten. Sie ließ sich von mir hoch an das Dachfenster halten, damit sie ihren geliebten Mond anschauen konnte.

 

 

4

Ich selber hab’s jetzt nicht so mit Sonne, Mond und Sternen. Ich bin so romantisch wie eine Streichholzschachtel. Und Sterne dienen mir vor allem zur Orientierung. Seit frühester Kindheit kann ich das Sternbild des Großen Wagens erkennen und weiß, wie man von dort den Polarstern findet.

 

Natürlich habe ich schon als kleines Kind in den Lexika, in denen ich so viel blätterte, viele Sternbilder gefunden. Aber nehmen wir zum Beispiel das Sternbild Fische – ich konnte in dieser Sternenansammlung selbst beim besten Willen keine Fische erkennen. Das waren einfach ein Haufen Sterne und fertig. Und all die anderen Sternbilder – Wassermann, Waage, Zwillinge … keines dieser Sternbilder ergab irgendeinen Sinn (außer der Große Wagen, der tatsächlich aussah wie ein großer Bollerwagen). Ich sah da irgendwelche Sterne aber keinen Wassermann, keine Waage, keine Zwillinge. Und ich wusste schon damals, dass sämtliche Erwachsene total bekloppt waren. Jetzt hatten sie halt den Sternen irgendwelche Bilder dazugedichtet – die Erwachsenen waren allesamt unzurechnungsfähig. Hinter dem, was sie taten, verbarg sich niemals irgendein Sinn, sondern immer nur die reine Willkür.

 

Ich erkannte am Sternenhimmel eine Konstellation, die mich sehr an einen markanten Schraubenschlüssel erinnerte, den mein leiblicher Vater in seiner Werkzeugkiste aufhob. Dieser Sternenhaufen war für mich dann das Sternbild des Schraubenschlüssels. Aber mehr als diese beiden Sternbilder habe ich nie am Himmel gesehen.

 

 

5

Als meine beiden Töchter älter wurden und in den Kindergarten und zur Schule gingen, wollten sie oft, dass ich ihnen zum Einschlafen vorsang. Ich kann alles mögliche – Kartoffeln schälen, Schuhe zubinden, im Regen spazieren gehen … aber singen? Wenn ich laut singe, dann kann das als Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz (KrWaffKontrG) gewertet werden. Und das kann böse Folgen haben – Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren! War meinen Töchtern egal. Papa sollte singen. Und am liebsten war ihnen: „Der Mond ist aufgegangen“ – ausgerechnet! Sagen wir es mal so: „Der Mond ist aufgegangen“ zählt nicht unbedingt zu meinen Lieblingsliedern.

 

Und so ging das viele Wochen und Monate. Hunderte Male habe ich das für meine Töchter gesungen.

Der Mond ist aufgegangen.

Die gold‘nen Sternlein prangen …

 

Ja, ganz allerliebst. Ich hab‘ in meinem ganzen Leben am Sternenhimmel noch keinen einzigen goldenen Stern gesehen. Aber wenn beim Abgott der deutschen Sprache (Goethe) ein goldener Baum grün sein kann (und ich denk‘ immer nur: „Hä?! Was denn jetzt – golden oder grün?!“), dann ist vermutlich auch ein goldenes Sternengeprange möglich. Und es ging letztlich ja auch nur darum, dass meine beiden Töchter glücklich und zufrieden einschlafen konnten.

 

Und jetzt alle:

„Der Mond ist zugegangen!“

 

Wenn ich mir solchen Mist erlaubte, wurde ich von meiner jüngeren Tochter immer gehauen:

Rumms!

„Papa! Richtig singen!“

Und ich sagte dann immer sowas wie:

„Oh, Tschuldigung, ich dachte, er wäre heute zugegangen.“

„Issa nich‘!“ (Rumms! Ich wurde nochmal gehauen). „Richtig singen!“

„Ok, ok.“

 

Und dann sang ich wieder los.

Wenn ich den Eindruck hatte, dass meine Töchter dann wirklich eingeschlafen waren, sang ich entweder immer leiser werdend oder baute neue Feinheiten in den Text ein:

„Wie ist der Mond so stille -

Mit einer Sonnenbrille

Aus Blaulicht und aus Gold

Und eine Wäscheklammer …“

 

Wenn das niemandem mehr auffiel und ich nicht gehauen wurde, dann konnte ich mit dem Singen allmählich aufhören. Und ich dachte mir sehr viele solcher Variationen aus, damit ich immer eine zur Hand hatte.

 

„Seht ihr den Mond dort liegen,

Er hört nun auf zu fliegen

Und setzt sich einfach hin …“

 

„Seht ihr den Mond dort sitzen?

Sich auf die Ärmchen stützen –

Ob die Sonne endlich untergeht …“

 

„So legt denn nun den Flieder

Zum Abendessen nieder

Und lebt nur von Kartoffelstampf …“

 

„… und aus den Wiesen steiget

Der kranke Nachbar wunderbar.“

 

Manchmal wurde ich gehauen, manchmal nicht.

 

 

6

Im letzten Winter fing es an, dass meine Kleinen einen anderen Zugang zu den Sternen fanden:

Wir gingen in der winterlichen Nacht in ländlicher Stille zwischen kleineren Dörfern spazieren. Sie guckten in den wolkenlosen Himmel und blieben plötzlich ruckartig stehen.

„Ja?“ fragte ich sie.

„Der Stern da …“, sagten sie.

Ich guckte in die angegebene Richtung. Da stand ein besonders hell leuchtender Stern.

„Ja?“ fragte ich sie.

„Wie heißt der?“ wollten sie wissen.

„Weiß ich nich‘. Ich kenn‘ keine Sterne.“

„Rauskriegen“, befahlen sie in der ihnen eigenen kurzangebundenen Art.

 

Als wir wieder daheim waren, googelte ich den winterlichen Sternenhimmel. Wir hatten es schnell gefunden:

„Sirius“, sagte ich ihnen. Sie waren zufrieden.

„Sirius!“ wiederholten sie und nickten bekräftigend.

 

Am nächsten Abend waren wir wieder zwischen den Dörfern unterwegs. Wieder war der Himmel wolkenlos und sternenklar.

„Sirius“, verlangten meine Kleinen, „wo ist Sirius?“

„Weiß ich nich‘“, sagte ich ihnen.

„Suchen!“

Wir wirbelten einmal auf dem Absatz um unsere eigene Achse, den Blick immer fest nach oben gerichtet. Unsere Kleinen hatten Sirius sofort gefunden.

„Da!“ sagten sie zufrieden und zeigten in den Sternenhimmel, und wir konnten weiter gehen.

Aber an diesem Abend guckten sie noch häufig nach ihrem Sirius.

 

So ging das viele Tage und Wochen. Ich fragte meine Kleinen abends, ob sie mitkommen wollten spazieren, und sie sagten sofort begeistert:

„Sirius gucken!“

Und so wie wir vor die Tür traten, machten sie lange Hälse und guckten in alle Richtungen in den Himmel.

Und selbst, wenn es bedeckt war, und nur ganz wenige Sterne zu sehen waren, fanden sie ihren geliebten Sirius fast immer sofort und sicher.

 

Ich kann mich gut an eine Situation erinnern, wo der nachtdunkle Himmel ziemlich bedeckt war und sie Sirius nicht direkt fanden. Ich zeigte auf einen hell leuchtenden Stern und fragte sie, ob das nicht Sirius sei. Sie winkten unwirsch ab:

„Sirius klingt anders.“

Sie erkennen alle Sterne an ihrem Klang. Wir sind Synästhet und so ziemlich alle optischen Eindrücke werden bei uns sofort in Klangbilder transformiert (und umgekehrt). Sehen und Hören sind für uns sehr oft eins. … Und Sirius klingt halt anders. Wenn unsere Kleinen das sagen, dann stimmt das.

 

 

7

Sirius ist ein Stern, der in unseren Breiten vor allem im Winter zu sehen ist. Im Gefolge von Sirius lernten unsere Kleinen noch das Sternbild Orion zu erkennen sowie Procyon, einen sehr hellen Stern in Sirius‘ Nachbarschaft.

 

Aber dann wandelte sich der nächtliche Sternenhimmel mit der Jahreszeit, und unsere Kleinen verloren sehr schnell das Interesse. Wenn sie ihren Sirius nicht sehen konnten, interessierte sie das alles nicht.

 

Aber dann erlebte ich im Spätsommer dieses Jahres eine faustdicke Überraschung:

Wir waren wieder zwischen Abend und Nacht draußen unterwegs auf einem unserer langen, langen Spaziergänge. Unsere Kleinen sahen über dem östlichen Horizont einen sehr hellen Stern aufgehen, den sie nicht kannten. Sie blieben wie angewurzelt stehen:

„Der Stern da …!“

Ich wusste schon, worum es ging: Sie wollten wissen, was das für ein Stern war.

Und so googelten wir das daheim wieder.

 

Ich informierte meine Kleinen, dass es sich um Jupiter handelte. Sie nickten zufrieden. Aber als wir in den nächsten Nächten unterwegs waren, ließen sie überhaupt nicht mehr locker – die Nächte waren wolkenlos, und so viele helle Sterne waren zu sehen:

„Der Stern da!“ wollten sie wissen.

„Und der!“

„Und der!“

„Und der!“

„Der da!“

 

Ich als Großer war absolut überfordert. Also luden wir uns eine App herunter, mit der man Sterne am Nachthimmel bestimmen kann, wenn man das Handy in Richtung Himmel hält.

Und so lernten unsere Kleinen in kürzester Zeit Namen und Position von einigen Sternen:

Jupiter, Saturn, Altair, Vega, Arcturus, Capella, Pulcherrima, Gemma, Seginus, Fomalhaut … und so weiter.

 

 

8

In unserer Therapie sind wir zur Zeit in wirklich schwierigen Gewässern unterwegs. Es geht – mal wieder - um Leben und Tod. In einer dieser mörderischen Sessions, wo wir als Zweieinhalbjähriger um unser Leben kämpfen, lösten sich zwei Kleine von der dunklen Seite der Macht – wo sie seit über 50 Jahren feststeckten - und wechselten zu uns über. Es war das erste Mal, dass wir bei sowas buchstäblich zuschauen konnten. Diese beiden Kleinen wollten dann aber nicht in den Garten gebracht werden, sondern bei mir, dem Großen, bleiben. Auch gut.

 

Unsere Kleinen luden die beiden abends ein, mitzukommen auf einen unserer langen Spaziergänge. Sie wollten ihnen den nächtlichen Sternenhimmel zeigen. Die beiden neuen hatten noch nie irgendwelche Sterne gesehen. Sie waren skeptisch. Aber sie stimmten zu.

 

Und so latschten wir stundenlang durch den nachtdunklen Taunus. Ich hörte unsere Kleinen im Gespräch mit den beiden neuen:

„Und dass da ist Jupiter und da drüben, das ist Saturn. Und wenn ihr vom Saturn eine Linie zieht, dann seht ihr Altair – da – und dann noch weiter: Vega …“

 

Die beiden neuen waren völlig hin und weg und konnten sich am Sternenhimmel gar nicht sattsehen. Aber dann führte unser Weg ein längeres Stück durch den Wald, und es waren keine Sterne mehr zu sehen. Unsere Kleinen erklärten den beiden neuen derweil den Wald. Das fanden sie auch großartig.

 

Doch dann traten wir aus dem Wald wieder ins Freie, und die beiden neuen waren ganz wild drauf, selber mal einen Stern zu bestimmen. Sie fragten unsere Kleinen, in welche Richtung sie schauen mussten, und dann hatten sie es auch schon. Sie rissen ihre kleinen Ärmchen in die Höhe und jubelten laut:

„Juppitta!“

 

Manchmal ist es sehr praktisch, dass wir vor allem in stockdunkler Nacht im Taunus unterwegs sind. Denn selbstverständlich hätte ein Außenstehender wahrgenommen, wie ich die Arme hochriss und da durch die Nacht jubelte. Unsere Kleinen sind für andere unsichtbar und unhörbar.

Aber wenn alles stockdunkel ist und wir alleine im Wald sind, dann macht das nichts, dann merkt das ja keiner. Keiner bis auf ein paar Rehe und Wildschweine. Und die petzen nicht.

 

 

9

Ein paar Tage später lernte ich was völlig neues. Es war kurz vor Mitternacht. Wir näherten uns allmählich dem Ende unseres langen Spaziergangs. Die letzten zwei Stunden waren wir vor allem im Wald unterwegs gewesen und hatten kaum was von den Sternen gesehen.

 

Aber dann traten wir aus dem Wald und waren von Wiesen und Feldern umgeben. Während wir unseren üblichen Schritt gingen, schauten sich meine Kleinen in der Nacht um. Ihr Blick streifte den nordöstlichen Horizont. Von einer Sekunde auf die andere blieben sie stocksteif stehen.

„Was?“ fragte ich sie.

„Da hat kein Stern zu stehen“, antworteten sie mir.

„Wie, da hat kein Stern zu stehen?“ wollte ich wissen.

„Da drüben“, sie zeigten es mir. „Der Stern da gehört da nicht hin!“

„Na, dann wird das wohl wieder das Sternbild Flugzeug sein.“

 

Da, wo wir im Taunus unterwegs ist, ist der Flughafen Frankfurt nur wenige Flugminuten entfernt. Nachts narren uns sehr oft tieffliegende Flugzeuge, die im Landeanflug sind und ihre Scheinwerfer schon angemacht haben. Sie kriechen dann über den Horizont wie sehr langsame Lichtpunkte, und immer wieder dauert es Minuten, bis wir entschieden haben, ob wir gerade einen sehr hellen Stern sehen oder ein Flugzeug im Landeanflug.

 

So erbost unsere Kleinen über diese hellen Dinger auch sind, die wie Sterne aussehen aber keine sind – sie sind aus der Umgebung von Frankfurt nicht wegzudenken. „Sternbild Flugzeug“ haben wir diese Irrlichter getauft.

 

Jetzt standen wir kurz vor dem Ende unseres Spaziergangs auf unsere Stöcke gestützt still und starr und schauten auf den Horizont. Wenn dieser Stern zum Sternbild Flugzeug gehörte, dann musste er allmählich seine Position zum Hintergrund verändern.

 

Tat er aber nicht.

 

„Das ist ein Stern, Kinder“, entschied ich nach ungefähr fünf Minuten.

„Wie, das ist ein Stern?! Da gehört keiner hin!“

Wenn wir auch nur einen Bruchteil des Sternenhimmels kennen – es gibt Kleine in uns, die mit absoluter Sicherheit sagen können, ob ein Stern an der richtigen Stelle steht oder nicht. Sie haben da das absolute Gehör.

 

„Kinder, es ist ein Stern. Findet euch damit ab.“

„Wie? Was für ein Stern soll denn das sein?!“

Und plötzlich durchzuckte es einige von ihnen – dieser Stern schimmerte rötlich. Das musste der Mars sein!

Mit fieberhafter Hast fummelten wir unser Handy hervor. – Das ist immer ein ziemlicher Akt: Erst muss ich die Stöcke weglegen, weil sie den Kompass des Handys ablenken. Dann muss ich das Handy aus seiner Hülle nehmen. Diese Hülle hat einen Magnetverschluss – das muss also auch weit weg. Dann muss ich das Handy neu eichen, denn wenn der Kompass im Handy nicht auf das Erdmagnetfeld reagiert, sondern immer noch auf den Magnetverschluss, dann zeigt uns die Sternenapp sonstwas an. Da haben wir schon die tollsten Überraschungen erlebt …

All das kann ein paar Minuten in Anspruch nehmen.

 

Aber als es dann soweit war, kamen alle Kleinen zusammen und guckten wie gebannt auf das Handydisplay:

„Mars“ zeigte der Sternenanzeiger an. Eindeutig und schlicht.

Und meine Kleinen waren völlig hin und weg. Das war also der Mars. Aber was schimmerte da so rötlich rechts daneben? Hatte der Mars seinen kleinen Bruder mitgebracht?

Ich hielt das Handy in die Richtung:

„Aldebaran“ stand im Display. Aha. Das würden wir daheim mal googeln. Aber jetzt staunten unsere Kleinen erst mal den Mars an. Bestimmt eine Viertelstunde standen wir reglos in der stockdunklen Nacht. Wir standen da und schauten nur den Mars an.

 

Wir haben im Verlauf unseres Lebens vermutlich deutlich mehr Nächte unter freiem Himmel verbracht als die meisten anderen Menschen in Mitteleuropa. Aber noch nie hatten wir bewusst den Mars gesehen.

Unsere Kleinen waren hin und weg.

 

 

10

Wieder ein paar Nächte später verlangten unsere Kleinen auf unserem nächtlichen Spaziergang ultimativ, den Mars zu sehen.

„Der ist wohl noch nicht aufgegangen“, informierte ich sie.

„Wo wird der denn aufgehen?“ wollten sie wissen.

„Da im Osten“, zeigte ich ihnen „Wenn du eine Linie von Saturn zu Jupiter ziehst und sie bis zum Horizont verlängerst. Ziemlich genau da – etwas rechts von Capella.“

„Und wo ist der Mars jetzt?“

„Ja, eben noch nicht aufgegangen. Er wird noch unter dem Horizont stehen. Aber genau da wird er wohl aufgehen.“

Unsere Kleinen schauten wie gebannt auf die Stelle am Horizont, die ich ihnen zeigte. Aber so angestrengt sie auch guckten – da war kein Stern zu sehen, kein einziger.

„Wann geht der denn auf?“ wollten sie wissen.

 

Wir googelten das mit dem Handy.

„In einer Viertelstunde“, sagte ich ihnen.

„Dann setzen wir uns jetzt da hin und warten“, sagten sie.

Wir standen mitten im Taunus zwischen ein paar Weiden und Feldern. Unsere Kleinen deuteten auf das Sockelfundament eines Hochspannungsmastes, der am Wegrand stand. Da wollten sie sitzen und auf den Aufgang des Mars warten.

 

Und das taten wir auch.

 

Der Mars hatte einige Minuten Verspätung. Wir mussten zwanzig Minuten warten. Aber unsere Kleinen sind die Geduld selbst, wenn sie warten. Wir saßen einfach da und genossen die Stille, die Feuchte und den Geruch der Nacht und warteten. Wir ließen das alles auf uns wirken und warteten in tiefem Schweigen.

 

Dann ging wie ein kleiner Rubin Mars am nordöstlichen Horizont auf. Und meine Kleinen waren wieder völlig begeistert und gefangen. Wir saßen da noch sehr lange und schauten nur auf Mars und Adebaran. Wir schauten und schauten, uns unsere Kleinen gingen völlig darin auf.

 

 

11

Als wir das nächste Mal in der Therapie waren, bekam ich von meinen Kleinen den Auftrag, der Therapeutin in der Vorbesprechung davon zu erzählen, wieviel ihnen die Sterne seit einiger Zeit bedeuteten. Ich erzählte ihr das. Ich erzählte ihr auch, wie wir gemeinsam auf diesem Betonfundament gesessen hatten und auf den Aufgang des Mars‘ gewartet hatten. Und wie sehr meine Kleinen darin aufgegangen waren.

 

Die Therapeutin machte sich wie üblich ihre Notizen und stellte einige Fragen zum Verständnis der Situation. Dann schwieg sie und ließ das auf sich wirken. Dann kam es zu einem unserer üblichen kurzen Dialoge:

 

Sie: „Vielleicht werden Sie jetzt ja romantisch.“

Wir: „Nun wollen wir mal nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen!“

 

 

P.S.

Ein paar Monate später.

 

Diesen Text habe ich vor ein paar Monaten geschrieben. Mittlerweile war ich mit meinen Kleinen öfters bei mondlosen, klaren Nächten draußen unterwegs – stundenlang. Und sie haben sich die Sterne angeguckt und ein anderes Verhältnis zu den Sternbildern entwickelt.

 

Tatsächlich können wir jetzt im Sternbild Orion ganz klar den Bogenschützen sehen, den die antiken Griechen in ihm sahen.

(Das Schaf (antike Sumerer), den Pflug (antike Germanen) oder den Gott Thor (antike Wikinger) erkennen wir in diesem markanten Sternbild nicht).

 

Unsere Kleinen fragten mich, den Großen neulich:

„Auf was schießt der da eigentlich?“

Ich prüfte das mit meinem Handy nach und antwortete ihnen:

„Er schießt auf Menkar im Sternbild Walfisch.“

„Na, das wird Greenpeace aber gar nicht gefallen!“

 

Und im Sternbild Löwe erkennen wir ganz klar den Löwen.

Aber die meisten anderen Sternbilder – zum Beispiel Walfisch:Wer da einen Wal sehen kann, der steht vermutlich unter dem Einfluss bewusstseinsverändernder Substanzen.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0