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Ich sehe Stimmen

*** Diesen Text zu lesen kann triggernd sein. ***

 

 

Ich höre Stimmen. Wer tut das nicht? Wenn er nicht taub ist, meine ich. Wo Menschen sind, da sind auch Stimmen. Wir hören unsere eigene Stimme, und wir hören die Stimmen der anderen.

 

Was mich betrifft:

Ich bin Synästhet. Ich nehme buchstäblich jede Stimme als optischen Eindruck wahr. Jede Stimme, die ich sehe, hat Form, Färbung, Kontur, Konsistenz und Textur. Dadurch wird die Stimme für mich ein sehr potentes Mittel, um zu wahrzunehmen, wie es in einem Menschen aussieht.

 

Fast immer sage ich überhaupt nichts dazu, wenn ich was wahrnehme. Ich nehme wahr, und gut ist.

Aber Seminarteilnehmer bekommen von mir immer wieder Dinge zu hören wie diese:

 

„Als du über deine Frau gesprochen hast, ist deine Stimme nach rechts ausgefranst.

[Anmerkung: Ansonsten war sie von mattem Schwarz, das ungefähr so aussah, wie ein sehr dünnes Tuch aus einem Material, das etwas weniger fein war als Seide. Das Ganze schien sich sehr leicht im Wind zu bewegen. Was ich sah, war beinahe rund, und ungefähr handtellergroß. Es schwebte im Raum, ohne jeden Bezug zu etwas anderem. Aber das alles sage ich nicht].

Ich habe den Eindruck, dass es da vor einiger Zeit starke Spannungen gab.

[Anmerkung: Ich sehe an der Art, wie dieses schwarze Tuch rechts oben franst und flattert, dass eine alte Verletzung angeklungen ist, die entstand, als dieser Mensch zwei bis maximal drei Jahre alt war. Ohnmächtige Wut und starke Trauer werden sichtbar. Gleichzeit sehe ich Spuren von Eifersucht, die sich auf ein Geschwister beziehen müssen. Darüber hinaus sehe ich Einsamkeit und Verzweiflung, die beginnt, in Resignation überzugehen. Aber das sage ich alles nicht].“

 

Oder

 

„Ich kann den Wandel, von dem du sprichst, nicht hören. Kannst du das nochmal mit anderen Worten sagen?“

In diesem Fall sprach jemand von einer Veränderung in der Beziehung zu seinem Lebenspartner. Aber als er sprach, sah ich nur eine Art rotes Bauklötzchen aus Holz, quaderförmig, mit abgerundeten Ecken, hell glänzend. Es war von ebenmäßiger Struktur aber nach oben hin wurde es mehr und mehr konturlos. Ich nahm keine Veränderung in der Beziehung wahr, sondern nur, dass dieser Mensch sich resignativ in einer Illusion eingerichtet hatte, und dass er das zum Teil wahrhaben wollte, zum Teil nicht. Mir war nicht klar, ob er an dieser Illusion festhalten wollte oder nicht, deshalb bat ich ihn, das mit anderen Worten zu beschreiben, damit ich noch andere Bilder sehen konnte.

 

Oder

 

„Das, was du mir berichtest, sind alles wichtige Themen. Aber deshalb bist du nicht gekommen.“

In diesem Fall hatte mich eine Seminarteilnehmerin um ein Gespräch unter vier Augen nach dem Seminar gebeten. Wir saßen uns an einem Tisch im Seminarraum gegenüber. Was sie berichtete, war sehr schwerwiegend. Aber alles, was ich sah, wenn sie sprach, waren konturlose graue Schatten, die manchmal ins Dreidimensionale übergingen. Diese Schatten zogen in einem trottenden Tempo in einer sehr trostlosen, grauen Landschaft trist und einsam ins Nirgendwo. Sie kamen von nirgends und gingen nach nirgends.

 

Ich sagte ihr weiter:

„Wir können gerne weiter darüber sprechen. Aber du darfst auch das ansprechen, was dir auf dem Herzen liegt.“

 

Die Frau hielt inne und verstummte. Dann sagte sie mit einer ganz anderen, beinahe tonlosen Stimme sehr leise:

„Kann ich was zu Schreiben bekommen?“

In diesem Moment sah ich sehr harte gelbe und schwarze Konturen, beinahe so, als wäre eine Wespe ein kubistisches Gemälde aus Glas und Beton geworden. Sie hatte sich entschieden, und jetzt würden die wirklichen Themen zur Sprache kommen. Irgendwas extrem Gravierendes würde jetzt kommen. Ich bereitete mich innerlich vor.

 

Wortlos schob ich ihr meinen Notizblock über den Tisch. Auf den Block legte ich meinen Stift. Ich sagte nichts. Sie sagte nichts. Wir saßen nur da. Das blieb eine Weile so. Dann richtete sie den Blick zur Decke. Sie rang mit sich. Sie nahm sich Block und Stift und machte mehrere Ansätze, etwas zu schreiben. Aber immer, wenn sie den Stift auf’s Papier senkte, um zu beginnen, hielt sie inne und zog ihn wieder zurück.

Ich schwieg und war einfach nur da.

Eine Weile schien gar nichts zu passieren, außer dass sie sich blockierte.

Aber das war völlig ok. Wer sich blockiert, der hat gute Gründe dafür. Die muss er auch nicht mitteilen oder sonstwie kommunizieren. Das darf alles sein.

 

Sie gab sich einen Ruck und schrieb mit sehr eckigen Bewegungen ein paar Worte auf das Papier. Dabei drückte sie extrem fest auf. Sie schaute sich wortlos an, was sie da geschrieben hatte. Dann schob sie den Notizblock mit einer ruckartigen Bewegung rüber zu mir. Sie legte den Stift vor sich auf den Tisch, dass er beinahe parallel zur Tischkante lag.Diese Bewegung war vorsichtig, beinahe behutsam. Dann lehnte sie sich wortlos in ihrem Stuhl zurück. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und schaute mit einem sehr düsteren Blick zu mir herüber und ins Leere. Sie fokussierte mir ihrem Blick gar nichts, nahm mich aber wahr.

 

Ich schaute auf den Block:

„Ich denke die ganze Zeit, wie es wäre, tot zu sein.“

 

Schweigend schaute ich hoch zu ihr.

Wir saßen beide nur da.

„Darüber können wir reden“, informierte ich sie.

 

 

Ich höre also Stimmen und sehe dabei, wie es in den Menschen aussieht, die da sprechen. Und ich versichere euch: Das kann wirklich die Hölle sein.

 

1

Ich gehe durch die Fußgängerzone einer x-beliebigen Großstadt. Dabei trage ich immer Ohrenstöpsel. Immer. Wenn ich mich nicht mit aller Macht abschirmen würde, würde ich ungefiltert dieses erleben:

 

Die Leute, an denen ich vorbeikomme, reden miteinander. Ich verstehe zwar beinahe nie, was sie da sagen, weil ich schwerhörig bin. (Ich habe nur ca. 50% des normalen Hörvermögens). Aber ich sehe, wie es in ihnen aussieht. Und ich kann euch versichern: Beinahe immer sieht es schauerlich in ihnen aus.

 

Was ich wahrnehme, pendelt sich irgendwo ein zwischen Dantes Inferno und irgendeinem ganz kranken Werbefilmchen, das auf Endlosschleife läuft:

 

Hass, Verzweiflung, emotionale Verwahrlosung bis zum Äußersten. Einsamkeit und seelische Kälte von epischen Ausmaßen. Emotionale Schmerzen, die so stark sind, dass die Leute krank davon geworden sind. Ganz viele sind innerlich derart abgestumpft, dass sie nur noch zu zehn bis zwanzig Prozent lebendig zu sein scheinen. Ich sehe also sehr viel Vierschrötigkeit, rohe Dumpfheit und eine starke allgemeine Gewaltbereitschaft.

 

Ich höre die Stimmen derer, an denen ich vorbeikomme, und wahre Sturzfluten von Bildern prasseln über mich herein. Und das, was ich zu sehen bekomme, ist derart furchtbar, dass ich danach erst mal ziemlich lange in die Dekontamination muss. Das alles wahrzunehmen ist wirklich nicht gut für mich.

 

(Hinzu kommt, dass ich ja auch die Körperspannung der Menschen wahrnehme. Diese Körperspannung kann ich beinahe so lesen wie die Stimmen der Menschen. Jede Körperspannung, die ich wahrnehme, produziert also zusätzliche Bilder in mir. Und diese Bilder sind auch beinahe immer entsetzlich).

 

 

2

Menschen reden mit verstellten Stimmen.

Das haben sie wohl immer schon getan. Aber seit einiger Zeit scheint dieser Trend deutlich zuzunehmen:

Wissenschaftssendungen, Nachrichten, Berichte über irgendwelche Ereignisse … immer häufiger erlebe ich, dass die Menschen, die in den Medien über irgendwas berichten, nicht mit klarer und nüchterner Stimme berichten, was ist oder war, sondern dass sie mit übergeschnappten und verstellten Stimmen reden.

Was das soll, weiß ich nicht. Vermutlich handelt es sich um irgendeinen Scheißdreck, der „Infotainment“ sein soll. Für mich und meine Innenteile ist das eine schauerliche Vision der Hölle.

Meine Kleinen schreien dann immer auf vor Schmerzen:

„Mann!Red‘ normal!!“

Und dann stellen wir sofort den Ton aus. Das ist völlig unerträglich für uns. Wir können da keine Sekunde zuhören. Das ist schlimmer für uns, als wenn jemand mit den Fingernägeln über eine grüne Schultafel kratzt. Viel schlimmer.

 

Börsenberichte, Nachrichten über irgendeine Tagung der UN, Naturdokumentationen, Kommentare zum Tagesgeschehen … - alles mit verstellter oder übergeschnappter Stimme berichtet …

 

Die Bilder, die ich dann sehe, wenn jemand so spricht, könnt ihr euch vorstellen wie Bilder des Höllenbreughel, die jemand in Leuchtreklame umgesetzt und dann animiert hat.

 

Dem können und wollen wir uns nicht aussetzen. Aber es greift zur Zeit ziemlich um sich.

 

 

3

Theateraufführungen

Der einzige Radiosender, den wir hören können, ist der Deutschlandfunk. (Auch wenn er sich in den letzten Jahren zielstrebig vom Deutschlandfunk zum „Rot-grün-gender-Funk“ entwickelt hat).

Auf langen Autofahrten lassen wir uns gerne informieren, wie die Welt aus der Perspektive dieser Menschen aussieht. Die machen da nicht nur in Nachrichten und Politik, die machen da auch in Kultur. Und immer wieder gibt’s dann Berichte über irgendwelche Uraufführungen oder besondere Inszenierungen an irgendwelchen besonderen Theatern, wo besondere Leute Regie führen.

 

Wenn von solchen Uraufführungen oder Inszenierungen berichtet wird, bekommt man immer wieder auch Aufnahmen von dem zu hören, was die Schauspieler auf der Bühne so von sich geben.

Und ausnahmslos immer stellen wir fest:

So redet niemand. Kein Mensch – weder bei klarem Verstand, noch in einer Krisensituation, noch in einem emotionalen Ausnahmezustand - redet so. So reden nur Schauspieler auf Bühnen.

 

Aber das istkein Schauspiel, was da geboten wird, das ist die reine Verstellung.

Das sind auch keine Gefühle, die die Schauspieler da mit ihren Stimmen ausdrücken. Das ist in irgendwelchen Theaterwerkstätten mühsam zusammengeschraubter und zusammengelöteter Emotionsschrott, den man am besten beim nächsten Sperrmüll auf die Straße stellt. Braucht kein Mensch, sowas.

Gefühle gehen anders.

 

Aber natürlich begeistern sich die Kritiker und das kundige Publikum beinahe bis ins Delir.

Atemlose Theaterbesucher sprechen dem Radiomenschen nach der Aufführung weise Worte ins Mikrofon:

„Also das war …  also … ich bin begeistert!“

„Mir sagt das alles!“

„Es war so … so aufwühlend!“

 

Ja stimmt, es war aufwühlend. Vor allem in der Magengegend.

Und jetzt entschuldigt mich, ich muss mal kurz brechen.

 

 

4

Mandatsträger im Deutschen Bundestag („Dem Deutschen Volke“) spielen Empörung.

Ich bin politisch sehr interessiert und tue mir regelmäßig an, wahrzunehmen, was die emotional verwahrlosten Vertreter des deutschen Volkes von sich geben, wenn sie in Debatten reden.

Es gab Zeiten, da konnte ich da stundenlang zuhören. Aber das ist Jahrzehnte her.

 

Mittlerweile nehme ich beinahe nur noch Kunstgefühle bei euch wahr - und Gefühle aus der Konserve. Leute, was immer ihr da auch tut … echte Gefühle gehen anders. Ihr schraubt euch da mühsam in irgendwelche emotionalen Zustände, die ihr für Gefühle haltet, keine Frage. Und so wie ich das wahrnehme, wisst ihr es nicht besser und kennt es nicht anders. Aber das ist beinahe immer ein Armutszeugnis.

 

Ob das sachlich richtig oder berechtigt ist, was ihr da inhaltlich von euch gebt, das kann ich nicht beurteilen. Ich nehme wahr, dass ihr sehr viel eurer kostbaren Zeit und Energie nicht dafür aufwendet, Probleme zu lösen, sondern die jeweils aktuelle Schuldfrage zu klären. Aber wer jeweils schuld ist, das kann ich nicht beurteilen, und es interessiert mich auch nicht. Nach meiner Erfahrung löst es beinahe nie ein Problem, wenn man klärt, wer schuld ist. Mit anderen Worten – ihr vergeudet höchstwahrscheinlich sehr viel kostbare Zeit und Energie mit der Simulation von Arbeit. Ihr wurdet gewählt, um Probleme zu lösen, nicht um zu klären, wer schuld an den Problemen ist.

 

Aber darum soll es an dieser Stelle gar nicht gehen. Ich sehe, wie es in euch aussieht, wenn ihr da sprecht. Und glaubt mir – das ist kein schöner Anblick. Wie ihr mit euch umgeht (also nicht mit den Menschen, zu denen ihr zu sprechen glaubt, sondern mit euch selber), das ist wirklich furchtbar.

 

Gewalt, Verzweiflung, tiefste Einsamkeit, ganz starke emotionale Verwahrlosung, ganz viele seelische Verletzungen aus uralter Zeit … ja, glaubt ihr, ich seh‘ das nicht?!

Und beinahe nichts anderes sehe ich, wenn ihr in Debatten sprecht. Euch geht es seelisch so schlecht! Und das wendet ihr nach außen und kippt es über alle aus, die euch zuhören. Ihr spielt Facebook auf akustisch.

 

Das wahrzunehmen ist wirklich schrecklich für uns.

Lernt, euch zu lieben und euch anzunehmen. Dann wärt ihr, dann wären wir alle schon erheblich weiter.

Aber so beschäftigt ihr euch weiterhin damit, eure wahrhaft furchtbare Innenwelt im Außen zu realisieren, damit jedersehen kann, wie es in euch aussieht. Das kann man Politik nennen.

 

Man kann es auch lassen.

 

Realität geht anders.

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Kommentare: 3
  • #1

    Fischer (Donnerstag, 15 Dezember 2022 09:25)

    Ihre stimmgewaltiger harmonisch jedoch auf Widerspruch gebürsteter Sprachgebrauch, der auch einen tiefen Einblick in Ihre innerste Wahrnehmung der Stimme und unsere Sprache gibt, erinnert mich selbst an so manches was ich als Linkshänderin gewöhnt bin wegzudrücken. Sowohl in Wahrnehmung sich lieber abzuschotten, wie auch in Äußerungen lieber waage zu bleiben, da gegenüber einen eh nicht versteht. Einfach um in diesem Leben überhaupt leben zu können und sich nicht beständig aufzutreiben. Danke deshalb für diesen Einblick!
    MfG
    P. F.

  • #2

    Stiller (Donnerstag, 15 Dezember 2022 16:21)

    Wir verneigen uns.

    1
    Wir sind geborener Linkshänder, der jedoch von früh auf auf rechts trainiert wurde. Das führte dazu, dass wir heute eher eine Art Beidhänder sind. Wir schreiben mit rechts, wir werfen mit links. Aber zum Beispiel Werkzeuge - Hammer, Zange, Schraubenschlüssel etc. - bedienen wir gleich schnell und gut mit beiden Händen.

    2
    Unser Sprachgebrauch ist oft genug "auf Widerspruch gebürstet", in der Tat.
    Häufig sind wir uns nicht sicher, ob das darauf zurückzuführen ist, dass in uns noch so vieles unharmonisch und unerlöst ist - wir also unserer Inneres nach Außen stülpen - oder ob es daraus resultiert, dass wir uns gegen so viel Disharmonie und Gewalt, die von außen kommen, schützen müssen.

  • #3

    Fischer (Sonntag, 08 Januar 2023 23:48)

    Gesundes Neues Jahr noch Herr Stiller,
    Erst heute las ich Ihre Antwort. Leider begleitet mich derzeit viel Stress.
    Aber wenn Sie von Ihrer Händigkeit sprechen und in anderen Texten und Einblicken. von Trauma... ein Teil der Lösung, liegt somit auf der Hand. Wer, wie sie als Dipl. Psychologe wissen, seine angeborene Händigkeit nicht ausleben kann oder durfte, erfährt ein zusätzliches tiefes psychisches Trauma. Ob wir es selbst erkennen oder nicht, spielt keine Rolle. Ob wir uns daran gewöhnen und täglich einer anderen Welt mit anderen Gebrauchsmitteln, die meist nicht für uns gemacht sind... letztlich ein tägliches Trauma an Körper und Seele. Wer würde sich da nicht Teilen?
    Ich persönlich hatte zwar keine Hilfe weiter, was auch physisch nicht optimal ist. Aber wenigstens das Glück, dass man mich mit links schreiben ließ.
    Es gibt Möglichkeiten...vielleicht der Weg, etwas Entspannung zu bekommen. Familär musste ich erleben, was für Schäden solch ein früher körperlicher Missbrauch am Körper anrichten kann. Es hinterlässt immer Spuren.
    Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie viel Glück...
    Wer weiß, irgendwo in dem einen oder anderem Text findet man sich wieder. Ist das eine autistische Kind evtl. links? Nur eine Frage. Muss nicht sein. Aber Intelligenz in frühen Jahren kann sich negativ auf die Anpassung auswirken.
    MfG