Ich bin ein sehr ängstlicher Mensch. Immer schon gewesen. Ich bin schreckhafter als ein Kaninchen und beinahe immer auf Alarm und Gefahr gepolt. Dass ich mich wirklich entspanne und sicher fühle, wenn andere Menschen zugegen sind, kommt beinahe nie vor. „Hochaufmerksam und wachsam“ ist bei mir die Grundeinstellung, wenn Menschen in Reichweite sind.
Vor ein paar Monaten lernte ich, dass dieser Zustand „Dauervigilanz“ genannt wird und dass das eine Eigenschaft ist, die beinahe alle schwer traumatisierten Menschen auszeichnet. Klingt ja auch irgendwie sinnvoll.
Als ich Jugendlicher und junger Erwachsener war, wurde die dauernde Angst in mir derart überbordend, dass das anfing, mein Leben erheblich einzuschränken. Es war nicht so, dass ich phobisch war, aber ich erlebte die dauernde Angst als lähmend – bis hin zur ganz starken Verlangsamung von Bewegungen (beinahe Erstarrung) – und als etwas, was wirklich begann, mein Leben zu beherrschen. Die Angst wucherte in mir wie ein Pilz und ließ sich nicht mehr stoppen.
Wie konnte ich mit dieser Angst umgehen? Wie konnte ich sie loswerden?
Ich las einiges dazu. Ich hörte mir einiges dazu an, was Experten und andere wohlmeinende Menschen zu diesem Thema sagten.
Ich konnte das alles in die Tonne kloppen (Sprachbild). Was immer ich da auch hörte oder las – es schien mich nicht zu betreffen oder es schien bei mir nicht zu funktionieren.
Dann gab’s da natürlich ganz oft auch die Version: „Ist halt so, finde dich damit ab. Das wird dich dein ganzes Leben lang begleiten. Alles, was du tun kannst, ist, dich damit häuslich einzurichten.“
Das war natürlich erst recht nichts für mich.
Ich war noch nie der Mensch, der sich damit abfinden wollte, dass irgendeine seelische Verletzung nicht heilen kann.
Also – was tun?
Ich hatte keine Ahnung.
Ich probierte dies und das und jenes aus und kam damit einigermaßen über die Runden.
Aber wer in ähnlicher Situation ist, kann das sicher bestätigen:
Ein Leben in dauernder Angst oder in Dauervigilanz gehört nicht zu dem, was ein Mensch als angenehm erlebt. Man erlebt es als alltäglich und normal und kann sich etwas anderes gar nicht mehr vorstellen, aber angenehm geht anders.
Als ich dann mit meiner ersten Psychotherapie begann, kam Dynamik in die Sache: Wie bei den meisten wirksamen Psychotherapien verschlimmerte sich bei mir erst mal die Symptomatik. Das war nicht angenehm aber notwendig. – Wenn du dich in einer wirksamen Therapie deinen Ängsten näherst oder sogar stellst, dann werden sie erst mal stärker und größer. Das ist so, als würdest du dein ganzes Leben vor einem Elefanten davonlaufen, der dich ständig verfolgt. Wenn du dann stehenbleibst und dich umdrehst, kommt dieser Elefant natürlich näher und wird größer. Das liegt in der Natur der Dinge. Und wie’s dann weitergehen soll, das weißt du auch nicht, weil diese Situation völlig neu für dich ist. Du kannst dann natürlich deinen Impulsen nachgeben und wieder weglaufen. Aber dann läuft da die ganze Zeit wieder dieser Elefant hinter dir her, und das ist ja nicht wirklich was neues für dich. Das hattest du dein ganzes Leben schon, und du hattest diese Therapie ja begonnen, damit sich an deinem Leben endlich was ändert.
Gut, wenn du dann einen kompetenten und erfahrenen Therapeuten an deiner Seite weißt.
Erschießen kannst du diesen Elefanten nicht, du kannst ihn auch nicht wegzaubern oder einfach verschwinden lassen. Zähmen – so ganz auf die Schnelle natürlich – geht auch nicht. Was also tun?
In der Therapieform, die ich gewählt hatte, geht man in die Ängste rein (lässt sich also vom Elefanten überrennen), bleibt in ihnen, bis man alles, was es da wahrzunehmen und zu fühlen gibt, wahrgenommen und gefühlt hat und geht dann auf der anderen Seite wieder aus der Angst raus.
Diese Angst ist dann weg und kommt auch nie mehr wieder – das war für mich damals eine völlig neue Erfahrung.
Das kann sogar eine euphorisierende Erfahrung sein. Eine sehr euphorisierende Erfahrung:
Endlich hast du das Allheilmittel gegen all deine Ängste gefunden.
Das geht so lange, bis du feststellst, dass hinter dem Elefanten, vor dem du immer weggerannt bist, ein zweiter, größerer Elefant kommt. Der war immer hinter dem ersten Elefanten hergerannt. Du hast ihn aber nicht gesehen, weil er immer vom ersten Elefanten verdeckt worden war – dein ganzes Leben lang.
Also stellst du dich auch dem zweiten Elefanten – du weißt inzwischen ja, wie das geht.
Funktioniert auch.
Aber hinter dem kommt der dritte Elefant. Und hinter dem kommt – richtig geraten – der vierte Elefant … und so weiter.
Deine Euphorie lässt etwas nach.
In seine schlimmsten Ängste reinzugehen, bloß um wenig später festzustellen, dass dahinter noch was viel Schlimmeres kommt (gefolgt von noch viel, viel, viel schlimmeren Ängsten), das ist nicht jedermanns Sache. Ich erlebte viele Menschen, die diese Therapie irgendwann abbrachen. Dass da – gefühlt – unendlich viele Elefanten unterwegs sind, um dich zu vernichten … damit musst du erst mal klarkommen.
Ich blieb weit über ein Jahrzehnt bei diesem Therapeuten.
Nach dem ersten Jahr, wo ich ganz unterschiedliche Themen in der Therapie bearbeitete, schoss sich mein Körper auf das Thema Angst ein – und blieb beinahe vier Jahre dabei: Beinahe vier Jahre in einer wirklich intensiven Therapie, wo man über Gefühle nicht spricht, sondern sie erlebt - nichts als Angst, Angst, Angst, Angst, Angst … eine nicht endende Kette von immer schlimmer werdenden Ängsten … einmal in der Woche viele Stunden lang (Gruppentherapie) … und die Ängste, vor denen du immer davongelaufen bist, die begleiten dich natürlich auch im Alltag … wie gesagt: Das ist nicht jedermanns Sache.
Aber wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) befreiten uns allmählich. Wir sind schon immer sehr hartnäckig und ausdauernd gewesen. Und wenn wir was wollen, dann wollen wir das. Da lassen wir nicht locker.
Und wenn so viele Ängste, die bislang ständig in deinem Leben präsent waren – so präsent, dass du sie gar nicht mehr wahrgenommen hast – dein Leben verlassen und nie wiederkehren, dann merkst du das irgendwann. Du gewinnst erheblich an Lebensqualität dazu – auch, wenn du weiterhin randvoll mit Ängsten bist und da ständig neue noch schlimmere Ängste nachdrängen.
Diese neugewonnene Lebensqualität hat nichts mit Euphorie aber ganz viel mit Gelassenheit und Entspannung zu tun. Neue Lebenshorizonte eröffnen sich …
Doch wie gehe ich denn jetzt mit Ängsten um?
(Immerhin ist die Überschrift dieses Textes ja „Umgang mit Angst“).
Ich kann da kaum Hinweise geben. Jeder muss da seinen eigenen Weg finden. Aber ich wollte mal von einer Begebenheit erzählen, bei der ich viel gelernt habe.
Ich war da schon zwei oder drei Jahre in der Therapie, die Kommunikation mit meinen Kleinen lief schon einigermaßen flüssig, und ich wurde nicht mehr ganz so viel angepöbelt und angeranzt wie in der ersten Zeit, wenn ich mich bei meinen Kleinen blicken ließ.
Es war die Jahreszeit, wo der Winter allmählich endet, die Tage aber immer noch ziemlich kurz sind. Und wir wollten im Wald spazieren gehen. Wälder haben uns schon immer sehr viel bedeutet. Und mit „Wald“ meinen wir tatsächlich Wald und nicht „Stadtpark“ oder „Allee“ oder ähnliches.
Der Wald riecht in jeder Jahreszeit anders. Und wenn der Winter fast vorbei ist, der Frühling sich ankündigt, aber noch nicht da ist, dann riecht er immer besonders gut.
Aber gefühlt wird es im Wald zu dieser Jahreszeit immer so gegen halb sechs Uhr abends dunkel.
Ziemlich dunkel.
Jo.
Im dunklen Wald.
Wer fürchtet sich denn im dunklen Wald ?!
Wir !! – und zwar terrormäßig !
Das war nicht nur so ein bisschen Angst oder „irgendwie unheimlich“ oder so … wenn wir im dunklen Wald unterwegs waren, überfiel uns die Angst wie der reine Terror. Das hörte schlagartig auf, wenn auch nur eine einzige andere Person bei uns war – egal, ob wir diesen Menschen kannten oder nicht. Aber wenn wir alleine im dunklen Wald unterwegs waren – das war der blanke Horror und sonst gar nichts.
Aber wir wollten im Wald spazieren gehen. Wald bedeutete uns sehr viel. Und wir wollten uns nicht von der Tageszeit oder vom Sonnenstand vorschreiben lassen, wann wir im Wald waren und wann nicht.
Ja, und jetzt?
Ich besprach mich mit meinen Kleinen. Und wir beschlossen dies:
Wir gehen jetzt rein in den dunklen Wald. Wir nehmen eine starke Taschenlampe mit, und wenn die Angst zu stark wird, dann machen wir die an und funzeln uns auf dem schnellsten Weg wieder raus aus diesem Wald. Aber ich (als Großer) will jetzt wissen, was das für eine Angst ist, denn sie ist nicht real. In unseren Breiten ist ein nächtlicher Wald objektiv keine Gefahr für einen Menschen. Vor was fürchten wir uns eigentlich?
So wurde es gemacht.
Mit viel Herzklopfen gingen wir nachmittags in den Wald und ließen uns von der hereinbrechenden Dunkelheit überrollen. Wir haben sehr lichtempfindliche Augen und können daher auch im dunklen Wald unseren Weg sehen. (Einzige Ausnahme: Neunmondnächte, in denen auch die Sterne kein Licht spenden. Da können wir unsere eigenen Füße nicht mehr sehen).
Die Taschenlampe blieb also aus, und wir latschten auf einem Weg, der uns wohlvertraut war.
Unsere Kleinen begannen sich zu fürchten. Und dann erlebte ich plötzlich, wie ältere Kleine in mir anfingen, den jüngeren Kleinen Angst einzujagen:
„Guck‘ mal – sieht dieser Strauch nicht aus, wie ein Geist ?!“
„Da drüben hinter dem Baum! – Hast du gesehen ?! Der Schatten bewegt sich doch !“
Und so weiter.
Ich dachte, ich hör‘ nicht recht.
Und natürlich schrien unsere kleinen Kleinen vor Angst und wollten sofort raus aus dem Wald.
Ich griff als Großer sofort ein.
Ich gab den Befehl, dass die größeren Kleinen sofort still zu sein hatten.
Da ich mir in unserem Inneren eine gewisse Reputation erworben hatte, wurde es schlagartig still in uns.
Ich sagte den älteren Kleinen:
„Wenn ihr euch unbedingt fürchten wollt, dann geht da hin, wo es zum Fürchten ist und gruselt euch. Aber lasst die Kleinen in Ruhe!“
Ich sagte den kleineren Kleinen:
„Jeder, der Angst hat, kann zu mir kommen – ich stopf‘ ihn hier unter meinen Pullover, da ist er sicher und kann trotzdem was sehen, und dann gehen wir weiter.“
Und so wurde es gemacht:
Ich trug ganz viele Kleine direkt an meinem Körper – gewärmt und geschützt durch den Pullover -, die neugierig oben rausguckten und erwartungsvoll waren, was jetzt passieren würde.
Und die älteren Kleinen strolchten ein wenig herum. Sie merkten aber schnell, dass sie es selbst mit der Angst bekamen, wenn sie ihre Angst nicht an die kleineren Kleinen weitergeben konnten. – Also blieben auch sie in meiner Nähe, und so gingen wir gemeinsam durch den dunklen Wald.
Seit dieser Zeit latschen wir zu jeder Tages- und Nachtzeit durch den Wald. Wenn einer in uns sich fürchtet, kann er zu mir kommen – ich trag‘ und beschütze ihn.
Wir haben mit den Jahren gelernt, dass es nachts im Wald Stellen und Gegenden gibt, die objektiv gefährlich sind. Manche Bäume und manche Stellen sind so voller Hass und Bösartigkeit´, dass wir da nicht hingehen. Wir wissen nicht genau, woraus dieser Hass und diese Bösartigkeit sich speisen – ob das nur uns gilt oder allen Menschen oder allen Lebewesen oder der ganzen Welt. Aber das müssen wir auch nicht wissen. Wir gehen da einfach nicht hin. Der Wald signalisiert uns, dass diese Stellen tabu für uns sind, und wir hören auf ihn.
Aber ansonsten ist es im Wald in der Nacht ganz wunderbar. Und wann immer uns die Angst überfällt, bilden wir eine harmonische Einheit:
Die, die Angst haben, kommen nach innen – je ängstlicher, desto weiter nach innen. Die, die Tod und Teufel nicht fürchten (die gibt’s auch in uns, und die sind gar nicht so wenige), die kommen nach außen. So latschen wir quietschvergnügt und wachsam durch den Wald, bis Angst und das Gefühl der Bedrohung wieder nachlassen und alle Kleinen wieder wild durch die Gegend strolchen.
Und den wollen wir sehen – Mensch oder Tier -, der uns nachts im Wald angreift, wenn wir solch eine harmonische Einheit sind. Wir sind groß, wir sind stark. Wir haben sehr gute Reflexe. (Wenn das alles nicht wäre, würden wir uns bewaffnen – und wir können euch versichern: Wir wüssten ganz genau, wie man mit so einer Waffe umgeht).
Nichts und niemand hindert uns, nachts im dunklen Wald spazieren zu gehen oder zu wandern.
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