*** All den Menschen gewidmet, die in einem Großkonzern arbeiten. ***
Die anderen dürfen das natürlich auch lesen.
Schon seit Jahrzehnten arbeite ich in einem gigantischen internationalen Konzern der Finanzbranche. Er ist in jedem wirtschaftlich bedeutenden Land der Erde vertreten – wuchtig vertreten. Er bewegt regelrechte Gebirge von Geld rund um den Globus. Und wenn ich am Ende eines Berichtsjahres die konsolidierte Bilanzsumme dieses Konzerns sehe, dann habe ich immer den Eindruck, auf die Rückseite eines modernen Elektrogerätes zu schauen – da stehen auch immer so ewig lange Ziffernfolgen.
Nach meinem Empfinden ist dieser Konzern pseudoreligiös aufgestellt. Wenn man seiner Außendarstellung glauben darf, dann gehört es zu den beglückendsten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann, Kunde bei uns zu sein. Das wird – so jedenfalls unsere Außendarstellung - nur noch getoppt von den Glücksgefühlen, die man entwickelt, wenn man bei uns arbeiten darf. Dann gehört man zu den ganz besonders glücklich Auserwählten, zum innersten Zirkel, zu denen, die dem Paradies schon sehr nahe sind. Es ist geradezu unglaublich – wir sind ein derart toller Haufen, eine so dermaßen eingeschworene Gemeinschaft, etwas so ganz besonderes und einzigartiges … das kann man schon gar nicht mehr mit Worten beschreiben. Das kann man kaum noch als irdisch bezeichnen. Wir haben uns alle ganz doll lieb, wir unterstützen einander, wo wir nur können – auch beim Umzug oder beim Räderwechsel -, wir wachsen aneinander und lassen alle irdischen Fesseln zurück, die uns an unser altes Geschick banden … und kaum jemand von uns scheint sich noch an die trostlose und graue Zeit erinnern zu können, als er noch nicht Teil dieser glückseligen Gemeinschaft war: So sehr gehen wir alle in diesem intensiven Gefühl auf, Teil dieses Konzerns zu sein. Wer braucht bitteschön noch einen Sinn des Lebens, wenn er Teil dieses erlauchten Kreises sein darf?
Da ist natürlich die Frage statthaft, ob die, die für unsere Außenwirkung verantwortlich sind, eigentlich noch ganz dicht sind. Aber vielleicht rauchen sie auch nur ständig irgendein ganz wüstes Kraut, das auf sämtlichen schwarzen Listen steht und haben echt gute Bezugsquellen – wer kann das schon wissen?
Schon seit Jahrzehnten gehe ich nur dann in die Konzernzentrale, wenn es sich überhaupt nicht vermeiden lässt. - Der pseudoreligiöse Schwurbelquatsch, der mich da allenthalben von Plakaten, Spruchbändern, Fotos, Stellwänden und anderen Medien anbrandet, ist für mich unerträglich. Und viel zu zahlreich sind die, die diesen Mist auch noch glauben oder zumindest öffentlich nachbeten. Wie leer muss das Leben einer Führungskraft sein, die mir ernsthaft weismachen will, dass es für sie „immer wieder ein Gänsehauterlebnis“ sei, für diese Firma arbeiten zu dürfen.
Die Führung des Konzerns ist in den letzten Jahrzehnten in ihrer Orientierungs- und Hilflosigkeit buchstäblich jeder Managementmode hinterhergelaufen. Erst war es „Business reengineering“ – komplett mit „Quality-Management“, „Total Quality Management” und “ISO 9000” sowie „ISO 9001“. Dann war auf einmal alles ein „Prozess“, und die „Black Belts“ und die „Green Belts“ machten das Unternehmen unsicher, schwadronierten irgendwas von „Six Sigma“ und „New Six Sigma“ und verbrauchten dabei Unmengen von Sauerstoff und anderen knappen Ressourcen. Als sich diese Mode der Konkursbeschleunigung allmählich verbraucht hatte, wurde plötzlich alles „agil“ und „disruptiv“. „Agile Master“, Tribe-Leader“, „Product-Owner“, „Squads“ und „Chapter“ tauchen seitdem in Scharen auf, wie nebelhafte Gespenstergestalten in einem alten Horrorfilm. Zum Ausgleich gibt’s jetzt allenthalben Kicker in den Besprechungsräumen, Basketballkörbe an den Wänden und jede Menge gläserne Raumteiler in den schmucken Großraumbüros – kaum zu glauben, womit sich das Management einer Firma beschäftigen kann, während die Nichtleitenden die wirkliche, reale Arbeit tun.
„Kanban board“ erfuhr ich neulich … das kanban board sei jetzt die neue Monstranz der neuen Managementreligion. Das absolut neue und absolut angesagte tool, mit dem sich absolut sämtliche Probleme lösen lassen – vom eingewachsenen Fußnagel bis zur kniffligsten Steuererklärung. Und wer es absolut ständig nutzt, der bekommt automatisch die absolute Absolution – der absolute Wahnsinn also, dieses Teil.
Ich hatte aber absolut keine Ahnung, was das sein sollte, ein „kanban board“. Absolut nie gehört. Also bat ich die Eingeweihten, mir zu erklären, worum es ging. Das taten sie. Gleichzeitig sagten sie mir, ich solle ab jetzt alle meine Aufgaben und alle Fortschritte bei meinen Aufgaben in das kanban board eintragen. Das würden jetzt alle so tun. Das wäre jetzt Pflicht. Und wenn ich das nicht täte, dann wäre ich ein sehr, sehr böser Mensch.
Ich gab diesen Leuten sehr spontan und sehr energisch zu verstehen, dass sie sich ihr kanban board mit Gleitcreme einschmieren sollten, um es sich dann dahin zu schieben, wo die Sonne nicht scheint. Ich werde dafür bezahlt, dass ich Probleme meiner Kunden löse, nicht dafür, dass ich irgendwelchen schwachsinnigen Managementmoden nachlaufe.
Vermutlich bin ich jetzt ein sehr, sehr böser Mensch.
Aber damit werde ich wohl fürderhin leben müssen, denn irgendein schweres Schicksal hat ja jeder zu tragen.
Es steht schon in der Bibel: „Ein jeder verleugne sich selbst und nehme sein kanban board täglich auf sich“ (Ungefähr zitiert nach Luk 9,23). Das sollte uns wirklich zu denken geben.
Im Zuge all dieser Maßnahmen verkündet die Unternehmensleitung seit einiger Zeit neue „Werte“. Ja, tatsächlich – wir als Unternehmen haben „Werte“.
Das ist für diesen Konzern jetzt nicht etwas grundsätzlich neues. „Werte“ verkündet die oberste Unternehmensleitung (die in der Hauptstadt eines befreundeten Landes residiert) schon seit immer. Alle zwei, drei Jahre kommen die neuen „Werte“. Die werden dann mit viel Tamtam und mit viel Tra-ra verkündet: Schaut her: Das sind unsere „Werte“. Daran „glauben“ wir jetzt alle.
Dass Werte sich dadurch auszeichnen, dass sie zeitlos beständig sind und nicht dadurch, dass man alle zwei, drei Jahre völlig neue hat, das weiß in der Konzernführung offenbar niemand. Oder zumindest weiß das dort niemand, der irgendwas zu sagen hat.
Und dann versuchen sie, uns weiszumachen, dass wir ein „werteorientiertes“ Unternehmen seien. Dass wir als Unternehmen „wertegesteuert“ handeln würden. Kaum zu glauben. Noch kaumer zu glauben ist für mich jedes Mal, dass unsere Führungskräfte das kritiklos nachbeten: „Ja, unsere „Werte“, an die wir alle „glauben“ …“
Vor Jahren fragte mich mein damaliger Chef, ob ich von den neuen Werten des Unternehmens auch so überzeugt sei.
Ich antwortete ihm spontan:
„Ja, wir haben immer schon gegen Eurasien gekämpft.“
Er verstand offenbar gar nichts.
Das war mir auch recht. Mein Motto ist: „Jeder Tag ist ein guter Tag, um an seinem Ruf als Spinner zu arbeiten.“
Ich ließ ihn stehen und beschäftigte mich wieder mit was sinnvollem.
Die neuen Werte meines Arbeitsgebers sind – wieder einmal – dem heiligen Zeitgeist abgeschaut. Wir sind jetzt nachhaltig, divers, klimaoptimiert und auch ansonsten so ziemlich alles, was einen bei Fridays For Future und den politisch Korrekten der Seligsprechung näherbringt. Sogar Unisex-Toiletten haben wir jetzt in der Konzernzentrale. Wir tun als Konzern einfach alles, um bei den Heiligen der Letzten Tage punkten zu können.
Vermutlich bekommt demnächst auch jeder von uns ein Dienstlastenfahrrad. Sinnvoll wäre es, denn irgendwie müssen wir ja unsere ganzen Heiligenscheine ja nach Hause transportieren.
Und selbstverständlich habe ich in einem mehrstündigen Onlinekurs mein „Klimazertifikat“ gemacht, jawohl. Das war verpflichtend – nach deutschem Arbeitsrecht darf der Arbeitgeber sowas anordnen -, und so weiß ich jetzt zum Beispiel, dass das Erstellen und Versenden einer Email bis zu 120 Gramm CO2 produziert. Jawohl.
Und wer weiß – vielleicht bietet der Konzern, in dem ich arbeite, demnächst Seminare und Workshops an, in denen man lernt, wirklich großartige und unersetzliche Kunstwerke zu beschädigen oder gar zu zerstören. Nach allem, was man hört, hilft beinahe nichts so gut gegen den Klimawandel wie Gewalt gegen Kunst. Und was kann es für ein Unternehmen größeres geben, als jungen und hoffnungsvollen Nachwuchsnarzissten und -fanatikern Wege aufzuzeigen, wie sie ihre Persönlichkeitsstörung so richtig zur Entfaltung bringen können. Lebenslang im Trotzalter steckenbleiben ist das Gebot der Stunde! Auf diese Weise hat es letztens in Amerika sogar einer bis zum Präsidenten gebracht. Das sollte uns allen ein Beispiel sein!
So.
Ironie aus jetzt.
Das ist alles der reine Quatsch.
Das Unternehmen, in dem ich arbeite, hat keine Werte. Es ist nicht wertegesteuert. Vielleicht sind einzelne Führungskräfte dieses Konzerns wertegesteuert, das mag ja sein. Aber dieser Konzern als solcher ist durch und durch zahlengesteuert. Die Zahlengurus in der Konzernzentrale haben festgestellt, dass die Zahlen besser werden, wenn wir nach außen verkünden, dass wir Werte haben und ein wertegesteuertes Unternehmen sind. Also hat die Unternehmensleitung das getan, was sie in so einem Fall immer tut: Sie hat durch Agenturen prüfen lassen, welche Werte sich zur Zeit am besten verkaufen und hat sich dieses Wertegerüst dann am Wertemarkt gekauft.
Wenn morgen andere Werte die angesagten Werte sind, dann wird das Unternehmen sich neue Werte verpassen und weiterhin lauthals verkünden, dass es werteorientiert arbeitet. – Mach was dran. Strafbar ist das ja nicht.
Und wer weiß – vielleicht dreht sich der Wind ja demnächst wieder (Sprachbild) und alles ist auf einmal national und patriotisch. Du meine Güte, wird sich dann der Konzern, in dem ich arbeite, aber durch Patriotismus und überschäumendes Nationalbewusstsein auszeichnen! Das wird vorbildlich sein! Das wird Maßstäbe setzen!
Und natürlich werden wir dann immer schon superpatriotisch und vorbildlich nationalistisch gewesen sein.
Ja, wir haben schon immer gegen Eurasien gekämpft.
Die reine Charade und Spiegelfechterei.
Wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) sagen:
Werte sind zeitlos.
An Werte „glaubst“ du auch nicht, du lebst sie. Sie steuern dein Handeln.
Da Werte zeitlos sind, lebst du deine Werte auch dann, wenn sie dem Zeitgeist völlig widersprechen und der Rest der Welt gegen dich ist.
Und deshalb kommt es nicht darauf an, was du über deine Werte sagst, sondern einzig darauf, was du tust oder nicht tust. Nur darin zeigen sich deine Werte. Alles andere ist Augenwischerei.
Wenn du sagst, dass du ein Menschenfreund bist und bei nächster Gelegenheit Kinder verdrischst, zählt für uns einzig das, was du tust und nicht das, was du sagst.
Wenn du sagst, dass du der Stellvertreter Christi auf Erden bist und die menschlichsten Werte vertrittst, die sich nur denken lassen, gleichzeitig aber der Chef des größten Kinderschänderringes der Welt bist, dann achten wir auf das, was du tust, nicht auf das, was du sagst.
Wenn du uns gegenüber freundlich bist, weil du gerade irgendwas von uns willst, aber zu einem anderen Menschen, von dem du gerade nichts willst, harsch, unfreundlich oder gleichgültig bist, dann registrieren wir das sehr genau.
Und so weiter.
Aus diesem Grund hören wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) auch nicht hin, wenn Politiker, Konzernlenker, Kirchenfürsten oder andere Mächtige und Ohnmächtige uns was von ihren „Werten“ erzählen. Das interessiert uns alles nicht, das zählt alles nicht.
All das Gerede um „Werte“, die Menschen angeblich haben und die sie wie eine Monstranz vor sich hertragen, ist in unseren Augen vollkommen wertlos.
Es kommt darauf an, was du tust oder nicht tust.
Kommentar schreiben
Enrico Pallazzo (Montag, 22 Mai 2023 17:38)
"immer wieder ein Gänsehauterlebnis" scheint mir eines jener Glaubensbekenntnisse zu sein, mit denen Nicht-Fühlende einander versichern, etwas fühlen zu können. Ich kenne nur ein Wesen, das "immer wieder ein Gänsehauterlebnis" hat und das ist die Gans.