***Achtung bitte – das kann triggernd sein. ***
Vor einigen Jahren hatte ich die Ehre, auf einem Weiterbildungskongress für Psychiater sprechen zu dürfen. Wenn ich es richtig verstanden habe, müssen Psychiater sich regelmäßig weiterbilden, um weiterhin praktizieren zu dürfen. Sie besuchen dafür dann irgendwelche eigens zu diesem Zweck ausgerichteten Kongresse und hören sich da Vorträge an und bekommen dafür Weiterbildungspunkte.
Ich sollte über Autismus sprechen. In einem Kongresssaal rappelvoll mit Psychiatern. Weit über hundert. Vermutlich alle zutiefst davon überzeugt, dass Autismus eine tiefgreifende Entwicklungsstörung ist, dass ich dringend therapiebedürftig bin, ein Mängelwesen, arm dran, völlig falsch und anders, im Grunde unverstehbar, ein kranker und behinderter NT … und so weiter. Jedenfalls sind Psychiater mir bislang fast immer auf diese Weise gegenübergetreten. Der meiste Unsinn, den ich bislang über Autismus gelesen habe, stammte von Psychiatern. Am schlimmsten scheinen die zu sein, die sich auf Autismus spezialisiert haben. Ich weiß auch nicht, wie das kommt.
Wie das so meine Art ist, sprach ich von Anfang an Klartext. Ich stellte kurz mich und meinen Werdegang vor und sagte den Zuhörern:
„Da Sie alle Psychiater sind, bin ich sicher, dass Sie jetzt eine ganze Menge Fachbegriffe für mich haben. Aber das macht nichts. Ich bin Psychologe. Ich habe auch eine ganze Menge Fachbegriffe für Sie.“
Es entstand Unruhe im Saal. Eine derartige Ansprache waren diese Leute offenbar nicht gewohnt.
Wie das so meine Art ist, war mir das ziemlich egal. Wenn ich über Autismus spreche, dann spreche ich nicht, um den Leuten zu gefallen, sondern um bestimmte Botschaften zu vermitteln. Eine von diesen Botschaften ist:
„Wie Fachleute über Autisten sprechen, ist nur in den seltensten Fällen wertschätzend und akzeptierend. Ich werde Ihnen mal vormachen, wie das ist, indem ich auf diese Weise über Sie spreche, und Sie können dann mal schauen, wie man sich fühlt, wenn auf diese Weise über einen gesprochen wird.“
Die Psychiater fühlten sich augenscheinlich nicht wohl. Das war durchaus beabsichtigt. Wer austeilt muss auch einstecken können. Mit jeder Minute, die der Vortrag dauerte, wurde deutlich, dass die Psychiater es nicht gewohnt waren, einzustecken. Das kannten sie offenbar nicht. Ich hatte Vorträge dieser Art schon oft vor vollbesetzten Sälen gehalten, aber noch nie hatten die zuhörenden NTs einen solchen Widerwillen entwickelt. Die Leute begannen, den Saal zu verlassen. Das fand ich interessant. Ich informierte meine Zuhörer, dass der Fachbegriff, den Psychologen für dieses Verhalten haben „aus dem Feld gehen“ ist. Normalerweise gehen in konfliktären Situationen die Menschen aus dem Feld, die sich der Situation entziehen wollen oder sich ihr nicht gewachsen fühlen.
Der Vortrag schritt voran, und mehr und mehr Psychiater gingen aus dem Feld. Es wurde gezischt und getuschelt. Sehr interessantes Verhalten. Nach zwanzig Minuten waren nur noch zwei Drittel der Anfangspopulation da. Sowas hatte ich bis dahin noch nie erlebt. Aber – wie gesagt – bei solchen Vorträgen ist meine Zielsetzung nicht, dem Publikum zu gefallen, sondern eine bestimmte Wirklichkeit zu erzeugen, in der die Zuhörer mit sich selbst konfrontiert werden. Diese Psychiater wollten sich offenbar nicht selber begegnen. Das war ihr gutes Recht.
Der Professor, der mich eingeladen hatte, hatte auch im Publikum gesessen. Nach dem Vortrag sagte er mir, dass er von etlichen Menschen, die hinter ihm gesessen hatten, gehört hätte, ich sei falsch diagnostiziert worden. Ich wäre kein Autist, sondern hätte eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Hochinteressant. Selbstbewusste Autisten kommen in der Welt mancher Psychiater augenscheinlich nicht vor. Autisten haben bei manchen Menschen offenbar verschüchtert, sozial inkompetent und behindert zu sein, sonst sind sie nicht zu akzeptieren.
Ich kam mit einigen anderen Professoren ins Gespräch. Ich staunte darüber, wie viele Psychiatrieprofessoren bei diesem Kongress waren. Einer sprach mich an, er wolle mich unbedingt mal kennenlernen, ich sei ja eine wirklich hochinteressante Persönlichkeit. Ich runzelte die Stirn. Was war das jetzt wieder für ein Quatsch? Wollte er mich auf Narzissmus testen oder was? Ich antwortete ihm:
„Das halte ich für unwahrscheinlich.“
„Was halten Sie für unwahrscheinlich?“
„Dass Sie mich kennenlernen wollen. Wenn Sie von außen auf mein Leben gucken, würde Ihnen das vermutlich unfassbar fade und öde vorkommen – keinerlei soziale Kontakte, fast immer wird geschwiegen, und meistens gucke ich einfach nur stumpf vor mich hin oder lese was.“
„Aber das, was Sie uns erzählt haben … das war wirklich eine interessante Sichtweise.“
„Das ist ja möglich. Aber Sie sind neurotypisch. Ich glaube nicht, dass es irgendwas an meinem Leben gibt, was Sie interessant finden würden. Wenn ich Seminare gebe, dann sage ich dazu: „Mir beim Leben zuzuschauen ist so interessant wie die Kontinentaldrift zu beobachten oder den Stalagmiten beim Wachsen zuzugucken.““
Ich kenne das von Kongressen: Wenn ich gesprochen habe, passiert es oft, dass da auf einmal irgendwelche Leute um mich rum sind, die irgendwas von mir wollen. Irgendwelche Zeitungsleute wollen Interviews. Autoren wollen Buchprojekte mit mir besprechen. Irgendwer will mich kennenlernen. Den Vogel schoss eine Frau vom ZDF ab, die unbedingt ein „fünfzehnminütiges Feature“ über mich drehen wollte. Selbstverständlich. Ein Feature. Über mich. Fünfzehn Minuten. Ausgestrahlt irgendwann nach dem Wort zum Sonntag. Mit der einzigen Folge, dass noch mehr klebrige Leute an mir rumnerven, die unbedingt Kontakt mit mir wollen, mir ihr Leben aufdrängen und ich noch weniger in Ruhe gelassen werde als eh schon. Aus welchem Grund sollte ich meine Zustimmung zu sowas geben?!
Natürlich schmeichelt mir das. Aber wenn ich die Folgen bedenke, dann komme ich immer sehr schnell auf den nüchternen Boden der Tatsachen zurück.
Der Professor, der mich ansprach, ließ nicht locker. Ich sei „besonders“ sagte er mir. Ich antwortete ihm:
„Wir sind alle besonders. Sie sind das, ich bin das, und alle anderen, die Sie hier sehen, sind das auch. Uns alle gibt’s nur einmal auf der Welt. Niemand kommt uns gleich. Wir sind alle sehr besonders.“
Und damit ließ ich ihn stehen. Wir hatten uns nichts zu sagen, und ich wollte meine Zeit lieber anders verbringen. Aber ich dachte nach über das, was er mir gesagt hatte. Und mit den Jahren dämmerte mir, dass ich ihn vielleicht nicht richtig verstanden hatte. Vielleicht hatte er wie viele andere Menschen auch Schwierigkeiten, die Worte „besonders“ und „wertvoll“ auseinanderzuhalten.
Es hat sehr lange Jahre in meinem Leben gegeben, da glaubte ich, ich müsste etwas besonderes sein, um ein wertvoller Mensch zu sein oder eine Lebensberechtigung zu haben. Meine leiblichen Eltern waren in beinahe keiner Weise liebesfähig. Sie hatten aber vier Kinder in die Welt gesetzt. Und wie die meisten Eltern in so einer Situation spürten sie eine starke Spannung in sich, ohne dass sie ihnen bewusst wurde: Sie wollten ihre Kinder lieben, aber sie konnten es nicht. Und wie fast alle Eltern in dieser Situation entlasteten sie sich, indem sie ihren Kindern das alles aufhalsten: Sie erfanden Gründe, warum sie ihre Kinder nicht lieben konnten und taten so, als ob diese Gründe in den Kindern liegen würden: Wir waren nicht klug genug, wir waren nicht vernünftig genug, wir waren nicht artig genug, wir waren nicht gehorsam genug … und was sich verzweifelte Eltern in solchen Situationen eben so ausdenken. Es waren hunderte Gründe, aus denen wir nicht liebenswert waren.
Kinder, die in so einem lieblosen Umfeld groß werden, können das natürlich alles nicht durchschauen. Sie sind überzeugt davon, dass die Gründe, warum sie nicht geliebt werden, in ihnen liegen. Und so probieren sie buchstäblich jede Verhaltensweise aus, die ihnen zur Verfügung steht, um die Liebe, die sie zum Überleben brauchen, irgendwie doch noch zu bekommen. Aber mach‘ das mal bei Eltern, die fast völlig liebesunfähig sind! Solche Eltern stellen Bedingungen auf, die die Kinder erfüllen sollen, die nach menschlichem Ermessen unerreichbar sind. Und sollten die Kinder sie wider Erwarten doch erfüllen, setzen die Eltern die Grenzen geschwind noch höher oder ganz woanders hin.
In meinem Fall war das zum Beispiel Leistung. Meine leiblichen Eltern schufen in mir die starke und wirkmächtige Illusion, dass sie mich lieben würden, wenn ich nur mehr leisten würde. Und so bekam ich zum Beispiel, als ich fünf Jahre alt war, von meinen Eltern die völlig ernst gemeinte Aufgabe, das fünfte Buch der Dudenreihe, das Fremdwörterbuch, auswendig zu lernen. Ich weiß nicht, wie viele Wörterbücher ihr in eurem Leben schon auswendig gelernt habt. Ich kann euch versichern, dass es für einen fünfjährigen Jungen eine Aufgabe ist, die ihn zur völligen Verzweiflung führt. Aber ich habe mich bemüht! Monatelang habe ich mich über dieses Wörterbuch gebeugt und versucht, es auswendig zu lernen. Wenig später erfuhr ich dann, dass meine Aufgabe war, fließend Englisch zu sprechen. Kurz darauf hatte ich die Geschichte des Römischen Reiches auswendig zu lernen. Das wurde dann abgelöst vom intensiven Kartenstudium, und ich hatte zum Beispiel die Landkarte der Schweiz auswendig zu lernen, so dass ich sie aus dem Kopf aufzeichnen und richtig beschriften konnte. Und so weiter, und so weiter.
Ein Jahr später kam ich in die Schule, und die Anforderungen wurden entsprechend nach oben angepasst.
Das ist jetzt sicher ein Extremfall. Aber die zugrundeliegende psychische Dynamik ist bei allen Kindern liebesunfähiger Eltern dieselbe:
1
Das Kind erfährt, dass es wertlos ist und nicht geliebt werden kann.
Diese Überzeugung verinnerlicht es total.
„Ich bin völlig wertlos!“
„Mich kann man gar nicht lieben!“
2
Die Eltern stellen Bedingungen auf, wann das Kind wertvoll und liebenswert ist.
Das Kind verinnerlicht diese Überzeugungen total:
„Ich bin nur dann etwas wert, wenn …“
(Wenn ich etwas leiste, wenn ich dumm bin, wenn ich keine Widerworte gebe, wenn ich Papas Liebling bin, wenn ich krank bin, wenn ich erfolgreich bin, wenn ich schön bin, wenn ich selbständig bin, wenn ich mich umbringe etc. etc.)
„Wenn ich nur das und das erreiche oder bin, dann werden sie mich lieben. Und dann wird alles gut werden.“
3
Das Kind richtet sein ganzes Leben danach aus, denn kein Kind kann überleben ohne die Liebe der Eltern.
Je weniger liebesfähig die Eltern sind, desto totaler stellt das Kind sein gesamtes Leben auf diese Anforderungen ein.
Aber das ist alles völlig vergeblich. Nur kann ein Kind sowas nicht erkennen.
Daraus resultiert dann häufig, dass erwachsene Menschen versuchen, etwas Besonderes zu sein, um wertvoll zu sein. Das kann natürlich nicht funktionieren. Denn der Wert von Menschen bemisst sich nicht an seiner Besonderheit. Jeder Mensch ist besonders, jeder ist wertvoll. Das ist er aus sich heraus, völlig unabhängig von dem, was er ist oder leistet. Alles andere ist unlogisch.
Viele erwachsene Menschen glauben, etwas besonderes sein zu müssen, um liebenswert oder wertvoll sein zu können und verkrampfen sich dann die ganze Zeit, um diesen Status des Besondersseins aufrechterhalten zu können.
Aber das kann alles nicht funktionieren.
Denn auch, wenn du was ganz besonderes bist und mit sozialer Zuwendung geradezu überschüttet wirst, stopft das nicht das Loch, das du seit deiner Kindheit im Herzen hast. Eine Million likes ersetzen nicht mal ein Gramm Liebe. Hunderttausend Follower ersetzen nicht mal einen einzigen echten Freund. Wenn du nicht aus dir selbst heraus wertvoll und liebenswert bist, dann kann dir das nicht von außen zugeführt werden: Wie sehr dir auch deine Umwelt wieder und wieder und immer wieder versichert, dass du ganz besonders wertvoll und liebenswert bist – es wird nie reichen, es wird sich immer sehr schnell verbrauchen. Dein innerer Hunger kann auf diese Weise nicht gestillt werden. Denn in deinem Inneren kannst du nicht glauben, dass du wertvoll und liebenswert bist und kannst es deshalb in deinem Innersten auch nicht annehmen.
Ich selber habe lange, lange Jahre sehr intensiver Psychotherapie gebraucht, um mein Kinderherz annehmen zu können und es heilen zu lassen. Dass ich irgendwelche Zuwendung von außen brauche, um mich wertvoll oder liebenswert zu fühlen ist – im Vergleich zu früher – sehr viel seltener und sehr viel weniger geworden. Ob du mich magst oder nicht, das ändert nichts an meinem Wohlbefinden. Ich nehm’s, wie’s kommt. Wenn ich mich nicht liebenswert fühle oder den Eindruck habe, dass ich wertlos bin – was immer wieder vorkommt -, dann muss ich nach innen schauen, nicht nach außen.
Und wenn irgendein Psychiatrieprofessor, der mich vorher noch nie gesehen hat, der praktisch überhaupt nichts von mir weiß, mir sagt, ich sei etwas ganz besonderes, dann schauen mich meine Kleinen an:
„Hä? Was soll das denn jetzt?“
Er kennt uns überhaupt nicht. Wie kann er da irgendwelche Aussagen dieser Art über uns machen? Das hat keinerlei Substanz.
Und dann zucken wir mit den Achseln, drehen uns um und beschäftigen uns mit was anderem.
Wir sind besonders.
Wir sind wertvoll.
Wir sind besonders wertvoll.
So, wie jeder andere Mensch auch.
Darüber brauchen wir wirklich kein Wort mehr zu verlieren.
Kommentar schreiben
Fischer (Sonntag, 13 November 2022)
Kompliment, zum ersten Teil... Ich musste herzlichst Lachen. Bei diesem Vortrag wäre ich gern dabei gewesen. Er hat einen großen wahren Ansichtspunkt gegenüber der Schulmedizin und ihrer Sichtweisen im Umgang mit Autisten und Co..
Mit dem ganzen Kindheitserlebnissen... Ich bin froh, dass Sie für sich bei dieser familiären Umgang mit Ihnen als Kind, es heut offensichtlich überwunden haben.
Bei uns ist dies eher anders. Sowohl in meiner Familie, wie auch in meiner, sollte trotz sehr großer Widrigkeiten, immer ein fröhliches Lachen da sein, das vom inneren Herzen kommt. Auch wenn die Zeiten oft sehr schwer waren, etwas Spaß musste sein.
In der Hochphase der autistischen Jugend, fiel jedoch es den jungen Erwachsenen schwerer dies zu erkennen. Wobei sie heute wissen, dass wir sie lieben.
Der Schulmedizin jedoch zu vermitteln, daß Kommunikation nicht eingleisig sein sollte, dies fällt wahrlich studierten Psychiatern und auch so manchen Psychologen und anderen Fachärzten schwer. Es scheint, dass durchaus auch in diesen Bereichen sich stereotyp an Katalogen der Diagnostik entlangehangelt wird, statt aufzustehen und den Menschen als ganzes zu sehen. Dem Denken selbst mächtig.
Also, danke für diese Einsicht und eine gute Woche.
MfG
P.Fischer
Neo-Silver (Dienstag, 15 November 2022 09:11)
Hallo Stiller,
ich möchte auf deine Kindheit eingehen, ohne dabei wertend oder zu indiskret zu werden.
Entschuldige wenn ich nicht die richtigen Worte finde.
Abseits von deinem Text hast du schon oft über deine Kindheit geschrieben und auf den erzieherischen Hohlraum hingewiesen.
Stiller: [...]In meinem Fall war das zum Beispiel Leistung. Meine leiblichen Eltern schufen in mir die starke und wirkmächtige Illusion, dass sie mich lieben würden, wenn ich nur mehr leisten würde.[...]
Nun schreibst du auch öfter davon das du als Narzist bezeichnet wirst.
Auch in den Kommentaren hier wurde das schon geschrieben.
Entwicklungspsychologisch könnte das, was du über deine Kindheit schreibst, einen guten Nährboden für die Entwicklung von Selbstwertproblemen dargestellt haben.
Du schreibst selber das du Jahre benötigt hast um die Kindheit aufzuarbeiten.
Jemand einfach als Narzist oder Autist oder Borderliner oder Psychopath oder.... zu bezeichnen ohne eine ausführliche Diagnostik ausgeführt und ihn für einen längeren Zeitraum begleitet zu haben ist unsinnig.
Ich bin ein Freund von der Darstellung des Charakters in Form sich überall überschneidender Spektren.
Niemand ist rein autistisch oder rein narzistisch.
Wenn ich also von narzistisch oder autistisch schreibe, ist damit immer nur ein Anteil des gesamten Charakters, nie eine stigmatisierende Tatsache oder Diagnose gemeint.
Eine Diagnose ist nur die gesellschaftliche Widerspiegelung der Tatsache das ein Spektrum im Verhältnis zu den Anderen so stark ausgeprägt ist, dass es dominant die anderen Spektren überschattet oder unterdrückt.
Mich interessiert deine Meinung dazu wie stark der narzistische Anteil in dir ausgeprägt ist und ob deine Strebsamkeit und dein, wie du es nennst, "selbstsicheres Auftreten", ein direktes Resultat dieses Leistungsanspruches und geringen Geborgenheit in der Erziehung deiner Eltern ist.
Als Psychologe weißt du selbst am besten wie prägend die frühe Kindheit, gar das Säuglingsalter schon ist.
Ist dieses aus der Kindheit resultierende Stigma des "leisten müssens" um den Selbstwert zu steigern und der Selbstwertverlust, welcher oft aus der autistischen Art in der Interaktion mit der Umwelt resultiert, eine Steigerung des narzistischen Anteils gewesen oder waren es eher Gegensätze die kollidiert sind?
Schlussfolgernd resultiert bei mir die Darstellung des "zerrissen seins".
Zerrissen zwischen dem Streben nach Wert über Leistung und Annerkennung und der Tatsache das Wert ein der Existenz ansich angebundener Faktor und nicht erwerbbar ist.
Stiller (Dienstag, 15 November 2022 22:32)
Hallo Neo-Silver,
nach allem, was ich sehen kann, ist der "narzisstische Anteil" in mir nicht stärker ausgeprägt als in Menschen, die als nicht-narzisstisch diagnostiziert werden.
Bislang hat keiner der Psychiater oder Psychologen, die mich diagnostiziert haben, auch nur in Erwägung gezogen, dass ich Narzisst sein könnte.
Meine Strebsamkeit resultiert vermutlich aus dem, was "Selbstheilungskräfte" genannt wird. Ich habe dazu einen Blogtext geschrieben, der in ein paar Wochen erscheinen wird: "Sei dankbar!"
Sie resultiert nach allem, was ich sehen kann, nicht aus meinem Leistungsanspruch. Ich leiste im allgemeinen, weil ich gerne leiste, aber nicht, weil ich leisten muss, um damit Defizite zu kompensieren.
Mein selbstsicheres Auftreten bei Vorträgen resultiert nach allem, was ich sehen kann, aus meinen rhetorischen Fähigkeiten, die weit, weit über dem Durchschnitt liegen. Ich kenne tatsächlich kaum jemanden, der an die rhetorischen Fähigkeiten heranreicht, die mir frei fließend zur Verfügung stehen, wenn ich bei Vorträgen oder Reden "Betriebstemperatur" erreicht habe.
Vor Vorträgen bin ich immer schrecklich nervös und voller Lampenfieber.
Aber drück' mir ein Mikrofon in die Hand und stell' mich auf eine Bühne oder vorne in einen prallvollen Hörsaal, und ich weiß, dass alles gut werden wird.
Mein selbstsicheres Auftreten bei meiner Arbeit - wenn ich nicht als Redner agiere - speist sich aus mehreren Quellen:
1
Im Bereich der Psychologie fühle ich mich mittlerweile derart sicher, dass ich weiß, dass ich
a) das, was jetzt gleich kommen wird, meistern werde oder
b) direkt sagen kann: "Da bin ich nicht kompetent. Das muss ein anderer tun."
Ich gerate also nicht in eine Überforderung, sondern kann gelassen und ruhig meine Arbeit tun.
2
In dem Konzern, in dem ich arbeite, habe ich mir einen solchen Ruf erworben und so viel Erfahrung gesammelt, dass ich buchstäblich nichts mehr beweisen muss. Ich habe in meinem Beruf tatsächlich alles erreicht, was man in meinem Beruf erreichen kann, und dieses Bewusstsein führt bei mir zu innerer Gelassenheit.
3
Meine Wertschätzung mir gegenüber kommt aus mir selber und entspringt weitgehend dem, dass ich da bin bzw. dass es mich überhaupt gibt. Mehr muss ich in aller Regel nicht wissen, wenn es um Wertschätzung mir selber gegenüber geht. Daher sind Leistung bzw. Arbeitsergebnisse auf der einen Seite und Selbstschätzung auf der anderen Seite bei mir weitgehend entkoppelt.
Mein Auftreten bei der Arbeit ist oft derart uneitel, dass ich mir immer wieder in Tagungshotel Sätze anhöre wie:
"Als ich dich zuerst gesehen habe, habe ich gedacht, du wärst hier der Hausmeister."
Und zum Schluss:
Ich habe den Eindruck, dass es bei vielen Menschen, denen ich bei der Arbeit begegne, Unbehagen auslöst, wenn ich einen in der westlichen Kultur weit verbreiteten Glaubenssatz ignoriere und ins Gegenteil wende.
Der Glaubenssatz: "Eigenlob stinkt."
Was ich sage und lebe: "Eigenlob stimmt."
Wer sich selber nicht loben kann oder will, der schneidet sich eine der wichtigsten seelischen Kraftquellen ab.