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Non sequitur

*** Aus der deutschsprachigen Wikipedia:

„Non sequitur (lat. für „es folgt nicht“) ist ein Fehlschluss innerhalb der Argumentation eines Beweises, der darauf basiert, dass die gefolgerte These nicht aus den zugrundeliegenden Prämissen abgeleitet werden kann.“ ***

 

 

1

Ich war sieben oder acht Jahre alt, als ich mit meinem leiblichen Vater auf dem Teppich des Kinderzimmers saß. Er reihte vor mir zehn Murmeln auf:

 

OOOOOOOOOO

 

Er ließ mich die Murmeln zählen. Es waren tatsächlich zehn Stück.

Dann nahm er eine Murmel weg:

 

OOOOOOOOO.

 

Er ließ mich die Murmeln erneut zählen. Es waren neun.

 

So weit, so gut.

Dann erzählte er mir eine Geschichte:

 

„Es waren mal zwei Knechte, die sollten auf einem Wagen zehn Säcke Getreide zur Mühle bringen …“

Mein leiblicher Vater legte die fehlende Murmel wieder zu den anderen – es waren zehn Murmeln. Dann fuhr er fort:

„… auf dem Weg zur Mühle kamen sie mit ihrem Wagen bei einem Wirtshaus vorbei und begannen zu trinken. Sie tranken viel. Und als sie bezahlen mussten, hatten sie kein Geld dabei und bezahlten den Wirt mit einem Sack Mehl.“

 

Mein leiblicher Vater nahm demonstrativ eine der zehn Murmeln wieder weg. Es waren neun:

OOOOOOOOO

 

„Als die Knechte zur Mühle kamen, fingen sie an, die Säcke abzuladen:

‚Das ist der zehnte Sack‘.“

Mein leiblicher Vater nahm eine weitere Murmel weg.

Auf dem Teppich sah es jetzt so aus:

OOOOOOOO

 

„‘Das ist der neunte Sack.‘“

OOOOOOO

 

„‘Das ist der achte Sack.‘“

O OOOOO

 

„‘Das ist der siebte Sack.‘“

OOOOO

 

„‘Das ist der sechste Sack.‘“

OOOO

 

„Und dann sagten die Knechte: ‚Da oben auf dem Wagen – da sind noch vier weitere Säcke. Sechs und vier macht zehn. Wir haben dir also zehn Säcke gebracht.‘“

 

Ich war ein kleines Kind. Ich fiel aus allen Wolken (Sprachbild). Ich zählte nach:

Da lagen vier Murmeln auf dem Teppich.

Wir hatten aber mit neun Murmeln begonnen – einen Sack hatten die beiden Knechte ja im Wirtshaus gelassen. Wieso kamen da jetzt trotzdem zehn Säcke bei raus? Denn sechs und vier ergaben zehn, das stand außer Frage.

 

Wie üblich erklärte mir mein leiblicher Vater nichts und ließ mich mit meinen Fragen und den Murmeln alleine. Dutzende Male probierte ich auf dem Teppich aus, was er mir erzählt hatte und kam immer darauf, dass die beiden Knechte zwar nur neun Murmeln gehabt hatten aber trotzdem zehn abgeliefert hatten.

 

Es dauerte zwei ganze Tage, bis ich darauf kam, wie dieser Trick funktionierte.

 

Und ich beschloss, nie mehr darauf hereinzufallen, wenn jemand von vorne und von rückwärts zählte und so tat, als sei beides dasselbe.

 

 

2

1985 war ich bereits ein junger Erwachsener.

In diesem Jahr erschien ein dickes Buch von Hoimar von Ditfurth auf dem Markt: „So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen – Es ist so weit.“

 

Ich schätzte diesen Autor als Wissenschaftler sehr. Er hatte viele populärwissenschaftliche Bücher herausgebracht, die mir große Bereiche unserer komplexen Welt sehr verständlich erklärt und nahegebracht hatten.

 

Jetzt schrieb Hoimar von Ditfurth über das Ende der Menschheit. 432 Seiten voller wissenschaftlicher Argumentation. Leicht und flüssig und für den Laien verständlich geschrieben.

 

„“So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen …“

Das bezog sich auf ein populäres Zitat von Martin Luther:

„Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“

 

Das Buch war inhaltlich in etwa zwei gleich große Teile geteilt. Im ersten Teil wies von Ditfurth mit schlagenden Argumenten nach, dass die Menschheit dem Untergang geweiht war. Das Ende der Menschheit war unabweisbar und schon sehr nahe.

Dieser Teil des Buches endete mit den Worten:

„Wir werden also sterben. Was ist dazu sonst noch zu sagen?“

 

Ich war erschüttert. Ich war wirklich zutiefst erschüttert.

Das, was Hoimar von Ditfurth geschrieben hatte, war derart logisch aufgebaut, dass ich keinerlei Lücke oder Schwachstelle in seiner Argumentation erkennen konnte. Er war Wissenschaftler. Er war Professor. Er wusste Bescheid.

 

Die Jahre gingen ins Land, und ich lernte im Studium (Psychologie) sowie in meiner ersten Therapie (Psycho) sehr viel darüber, was Menschen im Inneren erleben, und aus welchen Gründen sie sich so verhalten, wie sie sich eben verhalten.

 

Ein wichtiger Grundsatz, den ich gründlich lernte, war, dass Menschen dazu neigen, das, was sie in sich nicht wahrhaben können (oder wollen) im Außen zu finden und dort zu bearbeiten oder zu bekämpfen.

 

Die Jahre gingen ins Land. Vier Jahre nach Erscheinen dieses Buches war die Menschheit immer noch nicht untergegangen. Aber Hoimar von Ditfurth starb an Krebs. Und mir wurde schlagartig klar, dass der letzte Satz des ersten Teils seines Buches hätte lauten müssen:

 

Ich werde also sterben. Was ist dazu sonst noch zu sagen.“

Offenbar hatte er seine Krebsdiagnose bekommen, angefangen, sich ernsthaft mit seiner eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen und das dann alles nach außen projiziert. Er wollte in Gedanken also die gesamte Menschheit mit in den Tod reißen, um nicht alleine sterben zu müssen. – Das übliche halt.

 

Ähnlich wie Seneca und viele Geistesgrößen vor ihm hatte er Bücher geschrieben, die seine eigene Verfassung ins Außen transportierten und ihm Mut und Trost zusprechen sollten.

 

Und wir erinnerten uns, wie der an Depressionen leidende Kirchenlieddichter Paul Gerhardt (1607 – 1676) getextet hatte:

„Geh aus, mein Herz und suche Freud …“

 

Und ganz genauso wie bei all den Weltuntergangspropheten in den Jahrtausenden vor ihm, ergab sich bei Hoimar von Ditfurth diese Situation:

Der Weltuntergangsprophet starb.

Und die Menschheit lebte weiter. Und weiter. Und weiter. Und weiter. Und weiter …

 

Und nichts ging unter.

 

Die Christen warten seit rund 2.000 Jahren auf das Weltende und die Wiederkunft des Herrn.

Die Juden warten schon etwas länger.

So kann man seine Zeit auch verbringen.

 

Als ich umzog, warf ich Ditfurths Buch ins Altpapier.

Und ich beschloss, bei Weltuntergangspropheten in Zukunft ganz genau hinzuschauen.

 

 

3

Vor ein paar Wochen spielte mir der Algorithmus von YouTube den Link zu einem Vortrag von einem Physikprofessor zu. Ich kannte diesen Mann nicht. Aber er hatte eine allgemeinzugängliche Vorlesung gehalten, die zum Thema hatte, ob wir alleine im All sind, und wie eine Kommunikation zwischen den Spezies möglich sein konnte.

 

Da meine Kleinen seit Jahren schon an der Drake-Gleichung rumbasteln, interessierte uns das tatsächlich.

Wir schauten uns das an.

 

Dieser Professor wies in seinem Vortrag anhand anerkannter mathematischer Verfahren eine ganze Menge nach. Vor allem ging es ihm darum, wie lange denn eine Spezies überhaupt bestehen muss, bis sie sich so weit entwickelt hat, dass sie technische Kommunikation beherrscht, die über ihren Heimatplaneten hinausgeht und andere Kulturen auf anderen Planeten erreichen kann. Beim Menschen hat das ja immerhinein paar Millionen Jahre gedauert.

 

Das kannten wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) zwar schon alles, es war aber trotzdem interessant.

 

Aber dann zauberte dieser Professor auf einmal Formeln und Berechnungen aus dem Hut (Sprachbild), die schlüssig nachwiesen, dass die Menschheit mit einer Wahrscheinlichkeit von über 95% nur noch wenige Jahrhunderte zu leben hat.

 

Wir waren verblüfft.

Zum einen war hier wieder ein Weltuntergangsprophet. An seinem Gesicht und an seiner Körperspannung konnten wir ganz klar sehen, dass er hier etwas nach außen transportierte, was er in seinem Inneren nicht wahrhaben konnte oder wollte.

 

Aber wir kannten diese Formeln. Wir kannten diese Art, Wahrscheinlichkeiten zu berechnen. Und was dieser Professor da von sich gab, schien uns alles sehr, sehr logisch und folgerichtig zu sein.

 

Als wir den Vortrag fertig geschaut hatten (das Ganze ging ungefähr zwei Stunden), machten wir den Rechner aus, und unsere Kleinen fragten:

„Und nun?“

Ich schaute sie an:

„Jetzt gehen wir erst mal spazieren.“

Und das machten wir auch.

 

Wir brauchten zwei volle Tage, um das (den?) non sequitur in diesem Argumentationsstrang zu finden. Und wir waren sehr verärgert:

Dieser Professor wusste, was er tat. Er war sehr versiert in der höheren Mathematik, die man für die Astrophysik braucht. Seine Fakten waren alle richtig und unanfechtbar. Aber die Schlüsse, die er aus diesen Fakten zog – das war ein rhetorischer Hütchenspielertrickgewesen. (Letztlich ging es wieder nur um Achill und seine Schildkröte – ein Paradoxon, das seit der Antike bekannt ist).

 

Wir sind kein Mathematiker. Wir sind ein an der Mathematik interessierter Laie. Beinahe immer haben wir eine mathematische Formelsammlung dabei, und wir mathematisieren gerne rum.

·      Aber wir haben große Lücken in der Trigonometrie.

·      In der Differential- und Integralrechnung waren wir schon mal wesentlich sattelfester als heute.

·      An den Dirac-Formeln sind wir schon zweimal krachend gescheitert – wir begreifen einfach zu wenig, was komplexe Zahlen tatsächlich sind.

·      Als wir neulich mit einer Problemstellung konfrontiert waren, für deren Lösung man den zweiten Strahlensatz brauchte, dachten wir: „Hochinteressant! Wir wären ja schon froh, wenn wir überhaupt einen Strahlensatz erinnern könnten.“ Und dann mussten wir die Strahlensätze – wieder einmal - nachschlagen.

·      Und so weiter.

·      Und so weiter.

 

Wir waren extrem verärgert, als wir diesem Professor sein non sequitur mathematisch nachweisen konnten. Zwei Tage hatten wir dafür gebraucht. Was für ein Zeitdiebstahl!

Und es sind gegenwärtig so viele Professoren als Weltuntergangspropheten in den Medien unterwegs, die sich einfach gerne selber reden hören und dabei weit, weit über ihren Kompetenzrahmen hinausgehen. Wenn ich zum Beispiel Harald Lesch nehme. Der ist Professor für Astrophysik. Der ist echt gescheit. Und er hat sehr vieles zur Astrophysik veröffentlicht, was wir für ausgesprochen gelungen halten.

 

Aber aus Gründen, die ich nicht kenne, schwingt er sich in den Medien mittlerweile zum Fachmann für beinahe alles auf – Recycling im Mittelalter, geschlechtergerechte Sprache, Weltuntergang (selbstverständlich), Klimawandel, Elektromobilität, Cannabis, Corona (selbstverständlich), Tempolimit, Fracking, Wale und andere Meeressäuger, Wahlmaschinen, Ernährungswissenschaft, Achtsamkeit,  … und so weiter, und so weiter. – Nenne Harald Lesch irgendein Thema, und er wird dir als wohlmeinender Experte mit sonorer Stimme erklären, wie die Dinge liegen. Harald Lesch ist der Experte für buchstäblich alles.

 

Und natürlich geht auch bei Harald Lesch die Welt unter – so wie bei allen Weltuntergangspropheten vor ihm. Und natürlich lässt sich dieses Ende noch abwenden, wenn wir nur alle Buße tun und umkehren – so wie bei den meisten Weltuntergangspropheten vor ihm.

 

Und nein, ich habe nicht die Zeit, ihm jedes einzelne seiner non sequiturs nachzuweisen. Im Gegensatz zu ihm (und den anderen professoralen Wissenschaftsschwurblern, die in den Medien rumgeistern, Experte für beinahe alles sind und die einen enormen Output haben), bin ich nicht Experte für alles. Und speziell im Bereich der Mathematik sind meine Fähigkeiten und Talente sehr begrenzt. Und ebenso ist meine Zeit extrem begrenzt. Ich überlege in meinem Leben sehr genau, wofür ich jede Minute ausgebe.

 

 

4

Vor ein paar Jahren fanden wir in einem Buch ein mathematisches Rätsel, das uns total faszinierte:

 

a = b

a2 = ab

2a2 = a2 + ab

2a2 - 2ab = a2 - ab

2a(a – b) = a(a – b)

2a = a

2 = 1

 

Wir lasen das und dachten: „Mich laust der Affe!“

Da wir nicht direkt darauf kamen, wo hier das non sequitur war, nahmen wir eine Kopie dieses Rätsels mit zu einer langweiligen Tagung, zu der wir ein paar Wochen später gehen mussten.

 

Und wir brauchten auf dieser Tagung über eine Viertelstunde, um rauszukriegen, wo hier der Fehler lag.

Wir sind sicher, dass ein Mathematiker das in wenigen Sekunden sieht.

 

Hier nochmal die Rechenschritte in Zeitlupe:

 

a = b

a2 = ab … beide Seiten wurden mit a multipliziert.

2a2 = a2 + ab … auf beiden Seiten wurde a2 addiert.

2a2 - 2ab = a2 – ab … auf beiden Seiten wurde 2ab subtrahiert.

2a(a – b) = a(a – b) … auf beiden Seiten wurde der Faktor (a-b) ausgeklammert.

2a = a … beide Seiten wurden durch den Faktor (a-b) dividiert.

2 = 1 … beide Seiten wurden durch a dividiert.

 

Jeder dieser Rechenschritte ist mathematisch richtig und vollkommen logisch.

Dennoch kommt der reine Stuss dabei raus. Also muss es sich um ein non sequitur handeln: Die Fakten sind absolut richtig, aber die Schlussfolgerung ist falsch.

 

Wo liegt der Fehler?

Wir haben etwas mehr als eine Viertelstunde gebraucht, um ihn zu finden.

Sind Sie schneller?

 

 

Die Welt von uns (meinen Kleinen, meinen Innenteilen und mir) ist voller non sequiturs. Und speziell, wenn Professoren, die ihren Kompetenzrahmen verlassen haben, uns was erzählen, wissen wir, dass wir ganz genau hingucken müssen. Im mathematischen Beispiel oben ist es offensichtlich, dass irgendwo im Argumentationsstrang ein non sequitur stecken muss, denn dass 2 nicht gleich 1 sein kann, ist offensichtlich.

Wenn Professoren ihren Kompetenzrahmen verlassen und anfangen zu schwurbeln, ist es wesentlich schwieriger, darauf zu kommen, dass in den Schlüssen, die sie aus den Fakten ziehen, irgendwo ein non sequitur stecken muss. Noch schwieriger ist es, das auch noch nachzuweisen.

 

Und in aller Regel sind wir schon vollauf damit ausgelastet, die non sequiturs, die wir selber produzieren, zu entdecken – wo verlassen wir die Realität, wo tun wir das nicht? Mit dieser Fragestellung beschäftigen wir uns jeden Tag viele Stunden.

 

Da brauchen wir nicht noch den Stuss, der in wissenschaftlicher Aufmachung von außen an uns herangetragen wird.

 

Manchmal sind wir da sehr verärgert.

 

 

5

Zusammenfassung

 

Vielen Menschen – Wissenschaftlern, Politikern, Medienaktiven – ist es überaus wichtig, zuverlässige Fakten zu haben, auf deren Basis sie argumentieren können. Sie (diese Menschen) investieren sehr viel Zeit, Geduld und Aufwand in Aktivitäten, die dazu führen, dass die Fakten, auf deren Basis sie argumentieren, wirklich fundiert sind.

 

Wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) schätzen das sehr. Wir finden es sehr wichtig, dass Argumentation auf grundsoliden Fakten beruht.

 

Gleichzeitig stellen wir fest, dass sehr viele Menschen (Wissenschaftler, Politiker, Medienaktive) offenbar davon ausgehen, dass die Schlussfolgerungen, die sie auf der Basis dieser Fakten ziehen, ebenfalls Fakten sind. Sie (diese Menschen) scheinen der Ansicht zu sein:

Wenn die Fakten grundsolide sind, dann sind die Schlussfolgerungen, die auf der Basis dieser Fakten gezogen wurden, ebenfalls – und ganz automatisch - grundsolide.

 

Diese Ansicht ist jedoch falsch.

Richtig ist:

Es ist möglich, aus richtigen Fakten die falschen Schlüsse zu ziehen.

Dass aus richtigen Fakten logisch falsche Schlüsse gezogen werden, ist ganz alltäglich und völlig normal.

Wenn aus richtigen Fakten unlogische Schlüsse gezogen werden, nennt man das non sequitur („Es folgt nicht“).

 

Wenn non sequiturs zur Grundlage von Handlungen werden, dann können die Folgen dieser Handlungen wirklich gravierend sein.

 

Solide Fakten sind fast immer notwendig, um zu guten Schlüssen und Handlungsanweisungen zu kommen.

Aber gute Fakten sind absolut keine Garantie dafür, dass die aus ihnen gezogenen Schlüsse und Handlungsanweisungen gut sind.

 

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