Das Jahr der Geburt - Teil acht – Onk! 1/2

*** Achtung bitte, dieser Text enthält Triggerkram. ***

 

 

Im Februar 2019 begannen wir mit unserer zweiten Psychotherapie. (Die erste hatten wir als junger Erwachsener gemacht, wir streifen sie kurz im ersten Text dieser Serie).

 

Im Sommer 2019 waren wir im Urlaub wieder im Hochgebirge unterwegs. Wir stellten fest, dass ganz viele von uns noch nie im Gebirge gewesen waren. Schritttechnik im weglosen Gelände, Verhalten im Klettersteig, Routeneinteilung usw. – wir mussten das alles neu lernen.

 

Wir waren in gut 2.000 Metern Höhe auf einem recht einfachen Gebirgspfad unterwegs, als sich auf einmal ein Teil von uns vorstellte, den wir noch nie gesehen hatten. Er sprach direkt mich, den Meister, an. Und er sprach Englisch mit mir.

 

Er sagte, dass sein Name Onk! sei. Er würde uns schon eine Weile beobachten und hätte einen guten Eindruck von uns.

 

Als Meister nahm ich das zur Kenntnis. Ich schwieg. Unsere wuseligen Kleinen scharten sich hinter dem Meister und schauten aus dieser Sicherheit neugierig zu. Sie wollten wissen, was das für einer war und wie das jetzt weitergehen würde. Wir stiegen weiter nach oben. Für diesen Tag hatten wir uns einiges vorgenommen.

 

Onk! stellte mir, dem Meister, seine Stärke und seine Macht vor. Es wurde sofort deutlich, dass er über enorme Energien verfügte. Er musste ein sehr großer Teil von uns sein. Aber wie gesagt – nie gesehen, den Typ.

 

Onk! kam ziemlich schnell zur Sache. Er schlug mir vor, eine Diktatur zu zweit zu errichten. Wir beide sollten über alle andere Teile herrschen und alles zum Guten wenden. Insbesondere sollte ein ganz, ganz starker anderer Teil von uns, der sich gerade entwickelte und enttarnte, dabei übergangen werden.

 

Als Meister bin ich der Herr im Haus. Ich entscheide, was bei uns läuft und was nicht. Oder präziser: Ich gebe den Rahmen vor, in dem sich das alles bewegen kann. Ich bin bei uns der Kanzler und der Außenminister. Wenn ich eine Anweisung gebe, dann wird die befolgt. Wenn ich einen Befehl gebe, dann ist der ohne Murren und ohne Diskussion sofort auszuführen.

 

Ich bin kein Tyrann. Niemand in uns muss tun, was ich sage. Aber wenn jemand in uns sich nicht an meine Anweisungen oder Befehle hält, dann hat er entweder (a) einen wirklich guten Grund dafür oder er hat (b) ein wirklich ernstes Problem. Unsere Kleinen und unsere Innenteile wissen, wie streng und durchsetzungsstark ich als Meister bin. Mein Wort gilt. Viele von uns erinnern sich noch an die Zeiten, als mein Wort noch nicht galt und jeder machte, was er wollte. Zu diesem Chaos, zu dieser Anarchie, zu dieser Verwahrlosung will keiner in uns zurück. Mit mir ist zu diskutieren – es sei denn, es ist Gefahr im Verzug, und ich habe einen Befehl gegeben. Bei uns gilt immer: Nicht der Meister regiert, sondern das bessere Argument. Und wenn jemand ein besseres Argument vorbringt als ich, dann werde ich das selbstverständlich akzeptieren und mich dementsprechend verhalten.

 

Was aber auf gar keinen Fall geht, ist, dass jemand mit mir eine Diktatur zu zweit errichten will. Ich bin der Meister, aber ich bin kein Herrscher. Und ein Diktator bin ich schon gar nicht. Ich sagte Onk! das in dieser Deutlichkeit, und er verstand. Er verschwand wieder in der Dunkelheit, aus der er gekommen war. Er ließ keinerlei Spur zurück. Es war in uns so, als hätte es ihn nie gegeben.

Als Meister fand ich das bedauerlich, aber ich zuckte mit den Achseln. Ich zwinge niemanden zur Zusammenarbeit. Unsere Innenteile vertrauen sich uns an oder sie lassen es – ihre Entscheidung. Wenn sie sich nicht zeigen und uns nicht vertrauen, dann werden sie sehr gute Gründe dafür haben, die aller Ehren wert sind. Wir nehmen es, wie’s kommt.

 

Wir stapften weiter auf diesem Gebirgspfad nach oben.

 

Im Spätsommer 2021 war Onk! auf einmal wieder da. Er tauchte während einer Therapieliegungauf – wir waren gerade mitten im Gefecht. Er unterstütze uns, indem er eine wichtige Flanke sicherte.

Uns war das recht. Im Kampf mit dem Feind sind wir für jede Unterstützung dankbar.

 

Was sich jetzt zwischen uns entwickelte, war seltsam und neu. Es begann schon an diesem Tag im Abklingbecken.

 

Einschub

Wenn wir mit Therapieliegung und Nachbesprechung fertig sind, stehen wir von der Matte auf und gehen zusammen mit der Therapeutin in eine ganz andere Ecke des Therapieraums, um sie zu bezahlen. Da stehen ein kleiner Tisch und zweischmale Campingstühle, wo wir uns zusammen hinsetzen. An diesem Tisch besprechen wir auch die administrativen und organisatorischen Themen dieser Therapie (Terminplanungen, Strukturveränderung etc.)

 

Danach ist für uns fast immer die Möglichkeit in einem anderen Therapieraum alleine für uns zu sein so lange wie wir wollen. Wir nennen das das „Abklingbecken“. Dort liegen wir dann in der Stille auf dem Fußboden, in Decken gehüllt und sind einfach nur da. Das, was in uns ist kann sein und nachklingen. Meistens dauert das nochmal so anderthalb Stunden.

 

Ohne das Abklingbecken wäre für uns die Therapie nicht durchführbar. Das, was wir auf der Matte wiederfinden, ist fast immer derart schwerwiegend, dass wir nicht direkt danach auf die Straße können.

 

Ein Kontakt mit der Therapeutin oder irgendwem anders kommt im Abklingbecken und auch danach nicht zustande. Wir sind dann immer vollkommen alleine.

Einschub Ende

 

Wir schliefen im Abklingbecken auf dem Fußboden ein und träumten, dass wir ein einfaches aber gut gehendes Restaurant hatten. Ich als Meister war der Eigner und der Leiter dieses Restaurants, andere Teile von uns waren Koch, Bedienung etc.

 

Das Restaurant sollte öffnen, und alles, was dafür notwendig war, wurde vorbereitet. Tische und Stühle wurden gerückt. Lichter wurden angemacht. Die Tische wurden gedeckt – was man eben so tut, kurz bevor das Restaurant aufmacht.

 

Onk! deckte die Tische. Ich war dabei, als er schwungvoll eine Hakenkreuzfahne als Tischdecke auf einen der Tische warf. Ich riss sie sofort herunter und machte ihm deutlich, dass das überhaupt nicht ginge. Er war da ganz anderer Ansicht. Für ihn war das genau die richtige Tischdecke.

 

Und damit endete der Traum.

 

Als ich aufwachte, wusste ich, dass ich ein Problem hatte. Wir sind in unserem Inneren alles mögliche aber keine Nazis. Jetzt hatte ich aber einen waschechten Nazi unter uns. Und das war nicht irgendeine belanglose Nebenfigur in uns. Nein, Onk! hatte derart viel Energie und Power, dass er einer der ganz Großen unter uns werden würde, wenn er dabliebe.

 

Als Meister dulde ich keine Nazis. Ganz sicher nicht!

Gleichzeitig gilt aber: Jeder, der kommt, ist herzlich willkommen und hat genauso ein Recht zu sein wie alle anderen.

Und jetzt?

 

In der nächsten Woche berichtete ich der Therapeutin in der Vorbesprechung, wie die Dinge lagen. Wir hatten einen kurzen Dialog dazu. Sie zuckte mit den Achseln und sagte:

„Ich habe kein Problem damit, dass er ein Nazi ist.“

„Aber ich.“

 

Und dann schwiegen wir beide. Dann sagte sie:

„Wissen Sie denn, wieso er ein Nazi ist? Kein Kind wird als Nazi geboren. Ein Nazi wird man.“

Ich stimmte ihr zu und sagte ihr, dass ich nicht wüsste, welche Erfahrungen und Erlebnisse Onk! mitbrachte.

 

Und so hatten wir in unserem Inneren sehr schnell eine Vereinbarung, dass Onk! sein durfte, und dass wir uns anschauen würden, was er mitgebracht hatte.

Meine Aufgabe als Meister war, darauf zu achten, dass er sich an die Regeln und Gesetze hielt, die in unserem Inneren gelten. Und wenn er sich an die hielt, dann durfte er von mir aus Nazi sein, soviel er wollte.

 

Wir stellten schnell fest, dass Onk! mit Abstand der charismatischste von uns allen war. Er war (und ist) eine geborene Führernatur. Er will herrschen, er will die Dinge voranbringen, er will stürmen.

 

Aha.

 

Onk! wollte in den folgenden Tagen und Wochen die Herrschaft an sich reißen. Ich sagte ihm:

„Na, dann reiß mal.“

Onk! schaute sich in uns um und stellte fest, dass alle Kleinen und alle Innenteile mir folgen wollten und nicht ihm. Er war stinkig. Er verstand das nicht. Er war der geborene Führer, nicht ich. Warum folgten sie nicht ihm? Ich sagte ihm:

„Ich bin nicht der Meister, weil ich mich darum gerissen habe. Ich bin nicht der Meister, weil ich herrschen will. Ich bin der Meister, weil die alle das so wollen. Und solange die das wollen, bin ich der Meister. Solange ich dieses Mandat habe, werde ich es auch ausführen – mit aller Konsequenz, Entschlossenheit und Härte, die dafür notwendig ist. In dem Moment, wo die alle sagen, dass ich nicht mehr der Meister sein soll, trete ich beiseite und jemand anders kann das alles übernehmen. Und wenn du hier kräftig Propaganda machen willst, um die Massen hinter dir zu scharen – mach nur.“

 

Onk! ließ es lieber. Er wusste, mit welcher Hingabe unsere Kleinen und unsere Innenteile mir folgen. Er wusste, dass er dagegen keine Chance hatte. Aber er verstand das alles nicht. Warum war er nicht der Herrscher?! Ihm stand das doch alles zu! Er war doch ein so viel besserer Führer als ich!

Onk! war richtig stinkig, aber er verschwand nicht mehr in der Dunkelheit. Er war da, und er blieb da. Und er sägte an meinem Stuhl (Sprachbild), wo er nur konnte. Er kann bis heute nicht begreifen, dass Macht bei uns eine Währung ist, in der man nicht zahlt. Macht bedeutet in unserer Welt buchstäblich nichts.

 

In all den Monaten kam Onk! sehr viel in Kontakt mit meinen Kleinen und unseren Innenteilen. Und er bekam allmählich ein Gespür dafür, wie das bei uns alles läuft. Dass ich nicht in alles reinregiere, dass ich mir von den Kleinen auf der Nase rumtanzen lasse (Sprachbild), solange keine Gefahr droht, dass ich als Meister keinerlei Interesse habe, irgendwem irgendwas vorzuschreiben, es sei denn, er verletzt die Gesetze … und so weiter.

Wir sind im Inneren ein sehr liberaler Organismus – so ziemlich jeder kann machen, was er will -, und ich als Meister achte nur darauf, dass die Regeln, auf die wir uns geeinigt haben, eingehalten werden. In dieser Hinsicht bin ich sehr streng, energisch und konsequent. Ich herrsche aber nicht. Und Macht interessiert bei uns wirklich niemanden. Außer Onk! Der will Macht. Der will herrschen. Der will führen. Mit einer föderalen Rumkrakeeldemokratie wie wir sie sind kann er wirklich nichts anfangen.

 

Das war die eine Seite von Onk!

Die andere war, was er an Leuten und an Erfahrung mit sich brachte.

Und das hatte es wirklich in sich.

Davon will ich im nächsten Text berichten.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0