Das Jahr der Geburt - Teil sieben – Intermezzo: Die wichtigste Frage

*** Achtung bitte, dieser Text enthält Triggerkram. ***

 

 

Die Therapeutin, die uns auf unserem Weg begleitet, ist erfahren und kompetent. Dennoch haben wir den Eindruck, dass ihr es manchmal zusetzt, uns in unserem Leid und unseren Schmerzen zu erleben.

 

Ein Termin bei ihr läuft immer nach dem gleichen Schema ab:

1.    Wir beide haben eine kurze Vorbesprechung. Wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) sitzen dabei auf der Matte. Sie sitzt auf einem kleinen, bodennahen Hocker etwas entfernt und macht sich Notizen.

2.    Wir liegen auf der Matte und gehen in unseren Körper. Wir sind dann ganz Empfindung, Wiedererleben und Wiederfinden. Sie sitzt derweil schweigend auf ihrem Hocker und passt auf uns auf.

3.    Wir haben eine kurze Nachbesprechung. Sie sitzt auf ihrem Hocker, wir sitzen auf der der Matte. Wir schildern, was wir wiedergefunden und erlebt haben. Sie stellt dazu Fragen bzw. ordnet das ein. Dabei macht sie sich Notizen.

 

Und das ist es auch schon.

Es ist schlicht, es ist einfach, es ist vollkommen logisch. Kein Spuk, keine Magie, keine sinnentleerten Rituale, kein Brimborium, kein neurotypisches Geschwätz – nur die reine Therapie, sonst nichts. – Exakt so, wie wir das brauchen.

 

Auf der Matte liegen wir immer unter einer leichten Decke. Das machen wir so, weil es gut für uns ist, wenn es etwas wärmer ist. Und die Decke gibt uns einen gewissen Schutz.

 

Aber vor geraumer Zeit schon verlangten unsere Kleinen ultimativ:

„Brauch‘ n Helm!“

„Aber Kind, wo soll ich denn jetzt einen Helm hernehmen?“

„Brauch‘ n Helm!“

 

Die Dinge, die wir auf der Matte wiederfanden, waren so schwerwiegend und gefährlich, dass unsere Kleinen einen Helm brauchten. Am liebsten wäre ihnen ein Ganzkörperhelm gewesen. Aber sie begnügten sich damit, einen Helm für den Kopf zu bekommen.

 

Wir überlegten dann gemeinsam mit der Therapeutin.Sie schlug einen Motorradhelm vor. Aber das lehnten unsere Kleinen als zu unbequem und sperrig ab.

Wie üblich waren sie es, die die Lösung fanden:

Wir nahmen einfach eine zweite Decke mit in die Therapie. Und wenn wir auf der Matte liegen, wickeln wir die uns immer fest um den Kopf.

Und damit fühlen sich unsere Kleinen hinreichend geschützt, wenn wir dahin zurückgehen, wo wir herkamen.

 

Seit wir mit einem Helm in die Therapieliegungen gehen, kommen wir erheblich weiter und finden deutlich mehr.

 

Als wir aus einer dieser behelmten Liegungen zurückkamen, uns mühsam auf der Matte wieder aufsetzten und der Therapeutin Bericht gaben, wertete sie – ganz gegen ihre Gewohnheit – das, was sie erlebt hatte, als wir auf der Matte lagen:

 

„Das war aber ziemlich gewalttätig, heute.“

 

Dem konnten wir nur zustimmen. Bei uns auf der Matte geht es immer zur Sache. Wenn du vergewaltigt, gefoltert oder umgebracht wirst, dann wird es heftig. Aber an diesem Tag war es selbst für unsere Verhältnisse überbordend schlimm gewesen.

 

Und sie stellte diese eine Frage:

„Wie haben Sie das eigentlich überlebt?“

 

Und so banal diese Frage auch sein mag – wir können sie nicht beantworten.

Denn wir wissen dieses:

Sowas kann ein Kind nicht überleben. Das geht nicht, das ist völlig ausgeschlossen.

 

In Psychologie und Medizin ist man sich heute weitgehend einig, dass ein Kind sehr, sehr viel aushalten und überleben kann, wenn es einen Menschen in seinem Leben hat, der da ist und der gut ist. Oder der zumindest nicht ganz so zerstörerisch und gewalttätig ist wie der ganze Rest. Irgendjemand, an den das Kind sich halten kann, wenn es ihm ganz schlecht geht. Irgendwen, wo das Kind mit gutem Vertrauen hoffen kann: „Der wird wiederkommen, und dann wird das hier vorbei sein, und es wird gut sein.“

 

Im Mutterbauch hatten wir sowas mit dem anderen gehabt. (Siehe Text von vor drei Wochen). Aber der andere war tot. Wir hatten ihn verloren. Er würde nie wiederkommen.

 

Und ansonsten hatten wir niemanden in unserem Leben. Wir konnten nicht zu irgendeinem Menschen gehen. Schon vor Monaten hatten wir der Therapeutin unsere Lage mit einer kleinen Vorführung deutlich gemacht:

 

In der Vorbesprechung hatten wir kein Wort gesagt, sondern nur unser kleines Reiseschachspiel aufgebaut, mit dem wir immer Schach trainieren. Wir hatten das Spielbrett ausgepackt und in aller Seelenruhe alle Figuren aufgestellt. Erst die weißen, dann die schwarzen. Schweigend.

 

Die Therapeutin hatte sich das genauso schweigend angeschaut, sagte dann aber irgendwann:

„Aber ich muss doch jetzt nicht Schach gegen Sie spielen?“

 

Wir hatten das Schachspiel komplett aufgebaut.

Dann holten wir eine weitere Figur hervor – eine kleine rote Figur aus einem Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel.

Diese rote Figur stellten wir auf die Mitte des Brettes.

Die Therapeutin schaute uns erwartungsvoll an.

Wir schwiegen beide.

 

Dann sagte ich:

„Das sind die einen“ (ich zeigte auf die weißen Figuren), „das ist meine Familie.“

Danach zeigte ich auf die schwarzen Figuren:

„Und das sind die anderen. Das sind die Verwandten, die manchmal da sind, das sind die Folterer, an die wir verkauft wurden, das sind die Kinderschänder, an die wir vermietet wurde. Das sind einfach alle anderen, die irgendwie da sind.“

Ich zeigte auf die rote Figur, die auf der Mitte des Brettes stand:

„Und das hier – das sind wir.“

 

Die Therapeutin nickte verstehend und schwieg.

Wir fuhren fort:

 

„Die hier“ (ich zeigte auf die weißen Figuren), „die spielen gegen uns – alle. Ihr Ziel ist es, uns zu vernichten. Sie sind viele, sie sind viel stärker als wir, und sie sind alle darauf aus uns zu vernichten. Das ist der Zweck dieses Spiels.“

 

Die Therapeutin nickte verstehend und schwieg.

 

„Und die hier“ (ich zeigte auf die schwarzen Figuren), „die spielen auch alle gegen uns. Die kommen von der anderen Seite und wollen uns vernichten. Das ist der ganze Zweck des Spiels. Wir haben überhaupt keine Chance gegen sie. Es sind ganz viele. Und bald wird das ganze Brett voll sein mit weißen und schwarzen Figuren, und sie werden uns finden. Und dann ist es aus mit uns.“

 

Ich schwieg.

Die Therapeutin schwieg.

 

Ich fuhr fort:

„Und vom Brett hüpfen können wir nicht. Das geht nicht. Wir sind total ausgeliefert. Die einzige Chance, die wir überhaupt haben, ist, ständig auf dem Brett in Bewegung zu sein. Wir müssen ständig herumsausen und irgendwoanders sein. Vielleicht haben wir dann eine ganz kleineChance, ihren Schlägen zu entgehen und zu überleben.“

 

Die Therapeutin nickte verstehend und schwieg.

Wir räumten schweigend das Schachbrett wieder weg.

Wir hatten alles gesagt, was es in dieser Sache zu sagen gab.

 

Für uns hatte es nie einen Platz gegeben – nirgendwo.

Nie hatte sich eine Hand für uns gerührt.

Nie hatte irgendein Erwachsener für uns eingegriffen oder seine Stimme für uns erhoben – im Gegenteil.

Unser Gedächtnis ist derart gut und unserer Erinnerung ist derart lückenlos, dass wir das mit ziemlicher Sicherheit sagen können.

 

Und alle Erwachsenen, die in unserem Leben auftauchten, arbeiteten und kämpften gegen uns. Alle – ohne jede Ausnahme.

 

„Wie haben Sie das eigentlich überlebt?“

 

Wir wissen es nicht.

Und oft genug scheint es uns die wichtigste Frage in unserem Leben zu sein.

Eigentlich müssten wir tot sein. Das, was wir als Säugling erlebt haben, das war der Overkill. Das hätte für mehr als hundert Tode gereicht.

Und dennoch – irgendwer bzw. irgendwas hat überlebt. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Ob wir das sind, der da überlebt hat oder jemand anderer, das wissen wir nicht. Das können wir nicht wissen. (Siehe: Descartes „Meditationes“). Aber irgendwer oder irgendwas hat überlebt. Das ist unabweisbar sicher.

 

Wie kann das sein?

Wir wissen es nicht.

Wir haben Hypothesen und Vermutungen. Aber wenn die richtig sind, dann weist das weit hinaus aus der Welt, die wir kennen und teilen. Dann ist die Wirklichkeit, wie wir sie kennen, nur ein klitzekleiner (und recht unbedeutender) Ausschnitt dessen, was ist.

 

Wenn unsere Hypothesen und Vermutungen richtig sind, dann tun sich hier ganz neue Welten und Perspektiven auf.

 

Und ganz neue Fragen.

 

Wir sind Wissenschaftler. Das sind wir in jeder Situation, auch in dieser.

Wir lehnen jedes Erklärkonzept ab, das unlogisch ist.

Wenn wir Hypothesen bilden, um etwas zu erklären, folgen wir immerOckham’s Razor:

1.    Von mehreren hinreichenden Erklärungen ist die vorzuziehen, die die einfachste ist.

2.    Eine Erklärung ist einfach, wenn sie

a)    vollkommen logisch (also widerspruchsfrei) ist

b)    mit möglichst wenig wenigen Variablen auskommt.

 

Wir können euch versichern:

Wenn du nach Lage der Dinge ganz sicher tot sein müsstest, aber augenscheinlich irgendwas überlebt hat, dann wirft das Fragen auf. Und diese Fragen sind existenziell. Die sind wirklich existenziell. Dagegen verblasst fast alles andere.  

 

Wir sind Wissenschaftler.

Wir sind ausgesprochen esoterikavers.

Und dennoch muss die Welt (die Realität), in der wir leben, deutlich größer und umfassender sein als das, was wir im allgemeinen für die Welt (die Realität) halten, damit erklärbar wird, dass wir nicht tot sind.

 

Und damit meinen wir nicht:

„Denkt euch Götter und Geistwesen aus, um die Fragen zu beantworten, die euch so bedrängen, die ihr aber nicht beantworten könnt. Ihr werdet sehen: Wenn ihr nur an Götter und Geistwesen glaubt, dann lässt sich buchstäblich jede Frage sinnvoll beantworten, und alles wird gut.“

 

Es kann kein allmächtiges Wesen geben. Denn das wäre unlogisch.

Wenn dein Gott allmächtig ist, dann soll er doch mal einen Stein erschaffen, der so schwer ist, dass selbst er ihn nicht hochheben kann.

 

Und Geistwesen – Engel und dergleichen – was um alles in der Welt soll das schon wieder sein? Wir werden sehr misstrauisch, wenn uns Menschen, die an irgendwelche Götter glauben und die dazu neigen wöchentlich wechselnden Gurus nachzulaufen von irgendwelchen Wesen, Auren oder was auch immer erzählen wollen. Wenn du augenscheinlich nicht ganz dicht bist und auch dein Verstand nicht das ist, was man eine „Ressource“ nennen würde – welche Gründe sollte ich haben, mich mit den Produkten deiner Fantasie zu beschäftigen? Es freut uns für dich, wenn Engel dich auf all deinen Wegen begleiten und dich beschützen und leiten. Vermutlich ist das sehr gut für dich, lass uns aber bitte damit in Ruhe.

 

Wir sind Wissenschaftler.

Wir sind der Logik verpflichtet – durch und durch. Wenn ihr so wollt: Wir sind ein Vulkanier.

Und wir haben diese existenzielle Frage:

„Wie um alles in der Welt haben wir (oder wer auch immer) das überlebt?“

 

Wir können sie bis jetzt nicht schlüssig beantworten.

Wir haben bislang nur Hypothesen.

Diese Hypothesen prüfen wir.

 

Aber so weit sind wir schon mal – das können wir jetzt schon mit Sicherheit sagen, das ist logisch unabweisbar:

 

„Irgendwer oder irgendwas da draußen meint es entschieden gut mit uns.“

 

 

Und das ist auch schon mal was.

 

 

 

****

 

Erweiterung und Erläuterung

 

 

Einige Wochen, nachdem wir mit Hilfe unseres Reiseschachspiels der Therapeutin verdeutlicht hatten, wie unsere Situation war, erlebten wir dieses:

 

Wir lagen auf unserem Bett und trainierten Schach.

Dazu hatten wir unser Reiseschachspiel aufgebaut. Links von uns lag das Schachbuch mit der Stellung, die wir uns gerade genauer anschauen wollten.

 

Die Frau, mit der wir de jure verheiratet sind, kam herein und guckte, was wir machten.

Sie ging in die Hocke und zeigte auf das Schachbrett:

„Was machst du da?“ wollte sie wissen.

„Ich trainiere Schach.“

„Und was macht diese Figur da?“

Wir folgten ihrem Blick. Sie schaute auf das kleine, rote Mensch-ärgere-dich-nicht-Männchen.Das steht seit dieser Situation in der Therapie immer auf der Ecke des Schachbretts und guckt zu, wie wir trainieren.

Wir antworteten der Frau, mit der wir de jure verheiratet sind:

„Der steht da und ärgert die anderen.“

 

Die Frau, mit der wir de jure verheiratet sind, ging lachend und kopfschüttelnd wieder weg.

 

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