Das Jahr der Geburt - Teil fünf - Omaha Beach

*** Achtung bitte, dieser Text enthält Triggerkram. ***

 

 

Dann waren wir auf der Welt, und an uns wurde erst mal grob rumgezerrt. Riesengroße Hände hielten uns. Es roch nach Desinfektionsmittel. Wir waren die totale Angst – was wird jetzt wieder schlimmes passieren?! Welche Schmerzen werden uns jetzt überfluten?! Wir waren völlig orientierungslos und total ausgeliefert. Irgendwas wurde mit uns gemacht und wir erlebten zum ersten Mal in unserem Leben Textilien an unserer Haut. Das war sehr eigentümlich. Und es war zu hart. Das Zeug, auf dem wir da lagen, war zu hart.

 

Dann wurde wieder irgendwas mit uns gemacht, und wir wurden ganz viel und ganz oft körperlich verlagert. Der Therapeutin schilderten wir das mal in einer Abschlussbesprechung:

„Wie bei Amazon auf der Paketstraße.“

Wir wurden jedes Mal so angefasst, wie es nicht zu uns passte.

Unser kleiner Körper füllte sich bei jeder dieser Berührungen beinahe unendlich mit Spannung. Und jede weitere Berührung trug mehr zu dieser Spannung bei. Wir konnten schreien und weinensoviel wir wollten – sie hörten nicht auf, uns auf diese Weise anzufassen und zu berühren. Das war alles falsch. Völlig und total falsch.

Wir wussten, dass wir sterben müssen, wenn wir nicht berührt wurden. Wir wollten berührt werden – aber doch nicht so!

 

Und alles war viel, viel zu hell.

 

Wir waren nicht willkommen auf dieser Welt.

Alles war viel zu hell. Alles war viel zu laut. Es gab keinen Platz für uns auf dieser Welt. Alles war vollkommen falsch.

Wir waren voller Todesangst und körperlicher Schmerzen.

Unser kleiner Körper war komplett überflutet davon. Die ganze Welt bestand nur noch aus Angst und Schmerzen.

Wir haben diese Minuten als extrem traumatisch erlebt.

Wir wussten überhaupt nicht, was los war. Es war eine Kakophonie, es war eine Katastrophe, es war der Untergang.

 

Dann wurden wir irgendwo zwischengelagert, wo es still und ruhig war. Niemand fasste uns mehr an, niemand griff und zerrte an uns herum, als ob wir eine Waschmaschine wären, die repariert werden muss. Wir waren mit irgendwas abgefüllt worden, so dass wir zumindest keinen Hunger hatten, aber satt waren wir auch nicht. Und da lagen wir also erst mal in der Gegend rum und schliefen vermutlich erst mal eine Weile.

 

Textilien waren auf unserer Haut, und auch die waren viel zu hart und viel zu grob.

 

 

 

****

 

All dieses in der Therapie wiederzufinden dauerte ein paar Wochen.

In dieser Zeit verlangten unsere Kleinen von mir als Großem ultimativ, dass wir uns die ersten zehn Minuten des Films „Saving Private Ryan“ anschauten.

 

Als dieser Film rauskam (1998) hatten wir ihn uns im Kino angeschaut. Seitdem hatten wir praktisch nicht mehr an ihn gedacht. Aber das ist immer so in unserem Leben: Wenn wir einmal einen Film angeschaut haben, dann erinnern wir jede einzelne Sekunde – ein Leben lang. Und wenn es an der Zeit ist, dann kramen unsere Kleinen eine Erinnerung an einen Ausschnitt aus diesem Film wieder hervor und verlangen, dass wir uns das nochmal anschauen.

 

Also taten wir das.

 

Wen das interessiert:

Link zum Video

17:20 – 45:30

 

Und tatsächlich – es war eine sehr gute Metapher dafür, wie wir unsere Geburt und die Zeit unmittelbar erlebt hatten.

Natürlich kommt niemand in einer Kampfsituation wie damals bei Omaha-Beach zur Welt. Aber genauso fühlte es sich für uns damals an:

 

Wir müssen raus aus diesem Landungsboot (im Mutterbauch können wir ja nicht bleiben) – und sofort halten sie von vorne mit einem MG 42 auf uns drauf.

Und danach schießen sie mit allem auf uns, was sie haben. – Überall nur Tod, Schmerz, Angst, Sterben und Verletzung.

Und dann dieser nicht endende Lärm!

Und wir müssen weiter, wenn wir leben wollen. Wir können nicht am Strand bleiben. Zum Landungsboot können wir auch nicht zurück. Wir müssen uns da irgendwie nach vorne durchkämpfen und auf das beste hoffen. Wenn wir hier am Strand bleiben, dann machen sie uns mit Sicherheit fertig – dann haben wir überhaupt keine Überlebenschance.

 

Also weiter und nach vorne – against all odds! Um jeden Preis! Eine andere Möglichkeit haben wir nicht.

 

Wir wissen, dass kein Kind so auf die Welt kommen sollte.

Aber exakt so haben wir uns damals gefühlt.

 

Und unsere Kleinen verlangten ultimativ, dass wir uns diesen Ausschnitt des Films mehrfach anschauten.

 

Sie fühlten sich sehr verstanden.

 

 

Immer wieder lesen und hören wir davon, dass jemand schildert, er fühle sich wie neugeboren. Abstrakt und rational können wir in etwa nachvollziehen, was diese Leute damit meinen. Vielleicht wissen wir auch in etwa, was sie dann fühlen.

 

Aber in unserer Welt gibt es sowas nicht. – Hat es nie gegeben. Wenn wir uns wie neugeboren fühlen, dann werden wir an den Strand von Omaha-Beach versetzt an einem Vormittag im sonnigen Juni 1944. Angst, Tod, Vernichtung, Untergang. Und der ständige Kampf ums nackte Überleben in all den Schmerzen, in all der Angst, in all dem Lärm und dem viel zu hellen Licht.

 

Wir wollen nicht dahin zurück. Für uns ist das kein Sehnsuchtsort.

 

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