Das Jahr der Geburt - Teil 1 – Die Höhle und der Garten

***Achtung bitte, ab hier enthalten die Texte Triggerkram ***

 

Als ich 22 Jahre alt war, hatte ich mein Leben so komplett an die Wand gefahren, dass mir letztlich nur noch zwei Möglichkeiten blieben:

 

1

Ich beginne eine Psychotherapie, die tatsächlich funktioniert und beginne zu heilen.

 

2

Ich sterbe irgendwann in den nächsten 18 Monaten.

 

Das führte natürlich nicht dazu, dass ich in aller Ruhe und ganz gelassen aus dem Riesenstrauß an möglichen Therapieformen und Therapien was auswählen konnte. Mir war völlig klar:

„Ich habe nur einen Schuss.“

 

Ich konnte nicht zehn Therapeuten und fünf Therapieformen durchprobieren, bis ich das richtige gefunden hatte. Es musste beim ersten Mal schon das richtige sein. Ich war aber komplett unerfahren in solchen Dingen. Und den rechten Überblick über die Therapieszene hatte ich auch nicht. Nach welchen Kriterien sollte ich wählen?

 

Sehr spontan und sehr sicher entschied ich mich für dieses Vorgehen:

„Ich verlasse mich auf mein Glück.“

 

Für jemanden, der im bisherigen Leben so wenig Glück gehabt hatte, war das eine ganz bemerkenswerte Entscheidung. Aber letztlich hat es funktioniert, und nur darauf kommt es an.

 

Wie schwer ich tatsächlich geschädigt war, konnte ich damals nicht überblicken. Nicht mal im Ansatz. Manchmal war ich mir sicher, dass ich schon nach ein paar Wochen Therapie wiederhergestellt sein würde. Manchmal akzeptierte ich aber auch seufzend, dass es bis zu anderthalb Jahren dauern konnte, bis ich geheilt war. So lange! Aber auch, wenn es wirklich so lange dauern sollte: irgendwas entscheidendes musste jetzt in meinem Leben geschehen.

 

Da es schon immer meine Art gewesen war, nach einer Entscheidung nicht lange rumzufackeln, sondern den Stier bei den Hörnern zu packen (Sprachbild), wählte ich als Therapieform die härteste Psychotherapie, die ich kannte. Wenn schon denn schon. Und nach anderthalb Jahren intensiver Psychotherapie hatte ich immer noch den Eindruck, erst ganz am Anfang zu stehen.

 

So kann‘s kommen.

 

Ich machte ausschließlich Gruppentherapie. In all diesen Jahren habe ich nicht ein einziges Mal eine Einzelstunde gehabt. Die Gruppe traf sich viermal im Monat, und das ging dann immer von 18:00 bis ungefähr 22:00. Diese Therapie wurde von zwei Ärzten durchgeführt – Mann und Frau – er hatte eindeutig das Heft in der Hand (Sprachbild), und sie war immer die Co-Therapeutin.

 

In dieser Psychotherapie geht man schrittweise in seine Vergangenheit, in seine Kindheit zurück. Mein Psychotherapeut war ein sehr erfahrener Mann. Und er erzählte seinen Klienten immer wieder, dass man in dieser Therapie pro Jahr Psychotherapie etwa vier Lebensjahre zurückgehen konnte. Ganz lange merkte ich überhaupt nichts davon, dass ich in irgendeiner Weise substanziell zurückging in meine Kindheit. Aber ich war recht hartnäckig. Und als ich 33 Jahre alt war – nach 11 Jahren Therapie - war ich dann bei meiner Geburt angekommen. Ich war also pro Jahr Therapie drei Lebensjahre zurückgegangen. Angesichts dessen, dass ich in Sachen Therapie so viel langsamer und schwerer von Begriff bin als andere, fand ich das ein sehr gutes Ergebnis.

 

Was bedeutet es, in einer körperorientierten Psychotherapie bei der Geburt anzukommen?

Ich will das an drei Beispielen aus dieser Zeit erläutern:

 

1

Ich war mit den Jahren in der Therapie innerlich immer kleiner geworden. Irgendwann hatte ich das Säuglingsstadium erreicht. Wenn ich mit der Therapie fertig war (also so gegen 22:00), fühlte sich mein Körper so klein und so schrumpelig an wie damals.

 

Bei einer dieser Therapieliegungen kam die Psychotherapeutin zu mir an die Matte und schaute, was mein Körper da so anstellte. Wie üblich hatte ich keine Ahnung, worum es ging und ließ meinen Körper einfach mal machen.

„Ich glaube, du willst geboren werden“, sagte sie zu mir.

Ich konnte weder zustimmen noch verneinen. Ich wusste nicht, wo ich war und was los war. Ich war der reine Körper, die reine Empfindung, das reine Gefühl.

 

Sie simulierte mit mir dann auf der Matte eine Geburt, indem sie mit ihrem Körper über mir einen Tunnel bildete, durch den ich allmählich durchglitt. Und mein Körper reaktivierte alle Erinnerungen, die er aus dieser Situation gespeichert hatte.

 

Das war eine enorm intensive und beeindruckende Erfahrung.

Noch heute – Jahrzehnte später - ist das in meinem Körper so präsent und abrufbar wie damals.

 

 

2

Ein paar Monate später war ich bei einem sogenannten „Intensiv“. Ein „Intensiv“ war ein ganzes Wochenende Psychotherapie. Das fing am Freitag um 18:00 an und endete am Sonntag gegen 12:00. Und in der Zwischenzeit waren wir Körper und Gefühl und machten alle möglichen Übungen, die dabei halfen, Altes wiederzufinden.

 

Ich war vor einigen Wochen zum ersten Mal Vater geworden und daheim wartete meine kleine Tochter auf mich. Jetzt hatte ich also Geburt und Neugeborenes daheim und auf der Matte in der Therapie – der Doppelwhopper.

 

Wie immer bei solchen Intensivs übernachtete ich in diesem Therapiekeller. Ich blieb einfach auf einer dieser Matten liegen und schlief.

In dieser Nacht schwitzte ich wie blöd, ohne das zu merken. Warum ich so schwitzte, weiß ich bis heute nicht. Es war nicht wärmer oder kälter als sonst auch in diesem Keller. Aber als ich am Morgen aufwachte, konnte ich das Sweatshirt, in dem ich geschlafen hatte, buchstäblich auswringen. Sehr merkwürdig.

Als ich mein Sweatshirt auszog und über den Kopf streifte, fiel mir der intensive Geruch dieses nassen Sweatshirts auf – es roch ganz intensiv nach Neugeborenem. Genauso roch meine Tochter daheim immer. – Wie gesagt: Ich war 33 Jahre alt.

 

 

3

Wenn ich in dieser Psychotherapie war, dann war ich immer sehr stark in meiner Bilderwelt unterwegs. Ich lag auf der Matte, hatte intensive Gefühle, die ich nicht zuordnen konnte und dazu stiegen genauso intensive Bilder in mir auf. Es war oft so, als könnte ich diese Bilder mit den Händen greifen.

 

In den Wochen, als ich bei meiner Geburt ankam, erlebte ich auf der Matte dieses:

Ich war in einer bergigen Waldgegend unterwegs, die mich sehr an den Harz erinnerte. Mein Weg führte mich bergauf durch den Wald. Keine Straße, kein Pfad, nichts. Ich musste querfeldein durch diesen Buchenwald nach oben, und ich wusste genau, was mein Weg war.

 

Mein Weg führte mich zu einer großen Höhle, die in den Berg eingelassen war. Und ich wusste, dass ich in diese Höhle hinein und durch sie hindurch musste.

Als ich in die Höhlenöffnung eintreten wollte, bemerkte ich, dass das nicht ging. Ich kam keinen Schritt weiter. Eine unsichtbare Sperre verhinderte jedes Vorwärtskommen.

 

Neben der Höhlenöffnung stand ein alter, kräftiger und hochgewachsener Mann. Er stützte sich auf einen Speer und sah recht grimmig aus.

„Du kannst hier nicht rein“, beschied er mich.

Das wollte ich nicht einsehen: Mein Weg führte eindeutig in diese Höhle. Also versuchte ich es erneut. Aber es ging tatsächlich nicht.

„Wer bist du?“ wollte ich von diesem Mann wissen.

„Ich bin der Hüter des Misstrauens.“

Mehr sagte er nicht.

Er stand da und bewachte den Höhleneingang. Wenn ich an ihm vorbei ins Höhleninnere schaute, konnte ich im Dunkeln ganz diffus einen großen schwarzen Stein erkennen. Der sah aus wie eine Art Altar oder sowas. Beunruhigende Gerüche gingen von ihm aus.

 

Aber ich kam nicht weiter – keinen Millimeter.

Der Hüter des Misstrauens ließ mich nicht durch.

Ich ging an der Höhle vorbei den Berg hinauf und merkte sofort, dass ich meinen Weg verloren hatte. Also wieder zurück zum Höhleneingang.

Da stand ungerührt und stumm der Hürter des Misstrauens und ließ mich nicht durch.

Ich stand da, und die Zeit verging (auch ganz real verging die kostbare Zeit auf der Matte) und nichts geschah, und ich wusste nicht weiter. 

 

Dieses Erlebnis beschäftigte mich in den kommenden Tagen beinahe rund um die Uhr:

Was war geschehen?

Was konnte ich tun?

Ich hatte keine Ahnung, was diese Bilder bedeuteten. Ich wusste nur, dass ich in diese Höhle musste. Aber wie sollte ich das anstellen?

Ich besprach mich intensiv mit meinen Innenteilen, und wir beschlossen dieses:

·           Wir werden auf keinen Fall von unserem Weg abweichen.

·           Wir werden keinerlei Gewalt anwenden, um in diese Höhle zu kommen.

·           Wir werden auch nicht überreden, manipulieren, täuschen, bestechen oder was auch immer.

·           Und wenn es sein muss, dann werde ich vor dieser Höhle warten bis ans Ende meiner Tage.

 

So gerüstet fuhren wir eine Woche später erneut hunderte Kilometer zur Psychotherapie.

 

Als wir dann auf der Matte lagen, war ich binnen Minuten wieder in exakt dieser Bilderwelt:

Ich stand wieder in diesem Bergwald vor dem Höhleneingang.

Der Hüter des Misstrauens stützte sich auf seinen Speer und hielt Wache und ließ mich nicht durch.

Und ich kam keinen Millimeter weiter.

Also wartete ich.

Ich stand da und schwieg und wartete.

 

Nach wenige Minuten passierte dieses:

Aus der Höhle rief es nach mir – die Stimme eines kleinen Kindes. Es war ein sehr entschlossenes Kind, das genau wusste, was es wollte und brauchte. Es war sehr viel Energie und Bestimmtheit in dieser Stimme.

Ich schaute mich nach dem Hüter des Misstrauens um – der war verschwunden.

Und ich war in der Höhle.

 

Das, was ich in der Höhle fand, war sehr beunruhigend und bedrückend. Ich geriet in ein ausgedehntes Gräberfeld – ein riesiger Friedhof. Lauter tote Kinder. All diese Kinder war ich mal gewesen. Und meine Aufgabe war es, diese Kinder wieder zu wecken, indem ich den Tod, den sie damals gestorben waren, wiedererlebte. – Sehr unangenehm das ganze. Aber das war meine Aufgabe, und es gab keinen anderen Weg. Also ging ich in den nächsten Jahren in den Tod – hunderte Male. Und mehr und mehr Kleine wurden wieder wach. Im Lauf der Monate und Jahre wurde aus diesem Gräberfeld allmählich der Garten.

 

In diesem Garten wohnen meine Kleinen auch heute noch. Er ist von einer hohen, unüberwindbaren Backsteinmauer umgeben. Meine Kleinen sind dort absolut sicher. Es gibt ein schmiedeeisernes Tor, durch das man in den Garten gelangen kann. Vor diesem Tor steht der, der früher der Hüter des Misstrauens war. Heute ist er schlicht und einfach der Wächter. Er ist mit einer Energie ausgestattet, die unüberwindbar ist.

 

Der Garten ist in all den Jahren sehr gewachsen. Er ist ein riesiges Areal geworden. Man kann ihn tagelang durchwandern, ohne an sein Ende zu kommen. Weiter hinten wird er etwas düsterer - dort sind brombeerüberwucherte Gräber. Da liegen immer noch tote Kinder. Meine Aufgabe ist es, mich ihnen zu widmen. Meine Kleinen gehen nicht in diesen Bereich des Gartens, dort bin ich meistens alleine.

Wenn ich in die andere Richtung schaue, dann sehe ich die schmalen steinernen Brücken, die vom Garten ins andere Land führen, da gehen meine Kleinen auch nicht hin.

 

Aber ansonsten wuseln, kichern und wispern sie den ganzen Tag durch den Garten. Sie spielen dort oder strolchen da rum. Sie erzählen sich Geschichten. Sie liegen im Gras oder sitzen am Bach. Am Bach stehen einige Bäume, und da haben sie sich Schaukeln gebaut. Und sie machen den ganzen Tag Unsinn. Sobald sie mich im Garten sehen, kommen sie angewuselt und angekichert. Sie sind dann überall um mich rum. Sie stellen mir Fragen (sie sind unheimlich neugierig und wollen immer die ganze Welt erklärt bekommen), sie foppen mich, sie spielen mir dumme Streiche, sie wollen von mir rumgetragen werden und überhaupt all das tun, was kichernde, kleine Wusels den ganzen Tag so tun, wenn der Meister da ist. Sie wispern und kichern den ganzen Tag, und das Leben ist schön, da, wo sie sind.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0