Die Fremde

Seit einiger Zeit habe ich beruflich mal wieder eine ganz neue Aufgabe. Ich begleite als eine Art Coach für Gruppen die strategische Veränderung eines kompletten Bereiches bei uns im Konzern. Die Aufbau- und Ablauforganisation wird umgestellt. Gleichzeitig bricht sich aber auch eine neue Führungskultur Bahn. Das muss begleitet werden. 

 

Und seitdem sause ich wieder kreuz und quer durch die Botanik wie in Vorcoronazeiten. In beinahe allen Landeshauptstädten Deutschlands mache ich Workshops mit Gruppen von ca. 15 Leuten, in denen wir besprechen, was diese Umstrukturierung und dieser kulturelle Wandel konkret bedeuten und wie man diese Veränderung gestalten und nutzen kann.

 

Höllisch kräftezehrend das ganze.

Deshalb habe ich Bedingungen gestellt, bevor ich diesen Auftrag annahm. Eine dieser Bedingungen war, dass ich bei diesen Workshops von einer Kollegin begleitet werde. Sie hat vor kurzem ihre Ausbildung zur Moderatorin abgeschlossen, und sie ist richtig gut.

 

Sie ist eine sehr gute Beobachterin und sieht zuverlässig die Dinge, die ich nicht sehe. Und wenn ich im Workshop gerade mal nicht weiter weiß, kann ich mich absolut darauf verlassen, dass ihr was einfällt und sie dann die Führung der Gruppe übernimmt. Sie ist so neurotypisch wie man nur sein kann. Aber in der Beobachtung und Steuerung von Gruppenprozessen kann sie es mit jedem Autisten aufnehmen.

 

Was sie außerdem auszeichnet, ist eine Fähigkeit zuzuhören und zu vertrauen, die wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) von NTs nicht gewohnt sind. Wenn wir (die Kollegin und ich) abends nach einem Workshop im Hotelrestaurant zusammensitzen, bringt sie regelmäßig Themen zur Sprache, die sie interessieren. Vor allem interessiert sie Psychokram. Sie ist von ihrer Berufsausbildung her in Sachen Psychologie in keiner Weise vorbelastet. Dennoch hat sie sich im Lauf ihres Berufslebens ein recht breites Wissen angeeignet und zahlreiche Zusatzausbildungen mit psychologischem Schwerpunkt durchlaufen.

 

Wenn sie Psychokram thematisiert, dann ist das kein Blabla im Sinne von

„Hab‘ ich mal gelesen“ oder

„Man sagt ja, dass …“ oder

„Meine Oma sagte immer …“

Nein, das hat Hand und Fuß (Sprachbild), was sie da sagt bzw. fragt. Und immer wird sie sehr konkret. Sie bleibt nicht im Ungefähren oder distanziert – abstrakt, sondern sie spricht von sich oder ihrer Familie. Es ist nicht das, was die Amerikaner so treffend mit „psychobabble“ bezeichnen (Psychogequatsche), sondern es ist das sehr ernsthafte Interesse an sich und an anderen, ohne dabei überkandidelt, esoterisch oder wehleidig zu sein. Schon bemerkenswert, sowas.

 

Und so kam es, dass sie schon nach einigen Begegnungen von mir erfuhr, dass wir Viele sind, dass wir Autist sind und was sich hinter diesen dürren Worten verbirgt. Wir können euch versichern, dass wir das nicht jedem erzählen. Oder präziser: Wir erzählen es eigentlich niemandem. Von diesem Doppelpack – wir sind Viele, und wir sind Autist - weiß außer ihr im gesamten Konzern (über zehntausend Beschäftigte) nur ein anderer Mensch. (Wir sind ja nicht bescheuert).

 

Das, was wir ihr auf ihre Fragen antworteten, wäre nicht zu verstehen gewesen ohne diesen Hintergrund, also beschlossen wir, sie ins Bild zu setzen (Sprachbild). Genauso erfuhren wir von ihr sehr Persönliches, was vermutlich auch kaum jemand von ihr weiß.

 

Sie hat eine sehr direkte aber auch sehr taktvolle Art, aus ihrer Kinderseite heraus Fragen an uns zu richten.

So kam es vorgestern am frühen Morgen zu dieser Situation, als wir beide gerade alleine im Tagungsraum standen:

 

Ich stand an einer Metaplanwand und machte das was. (Erläuterung: Eine Metaplanwand ist eine Art sehr großer, stabiler Notizzettel, den man nutzen kann, um den Verlauf von Diskussionen mitzuvisualisieren).

Sie stand etwas abseits an einem Tisch, auf dem sie irgendwas ordnete und umschichtete.

Wir schwiegen beide und waren vertieft in unsere Arbeit.

Plötzlich richtete sie sich auf und schaute mich an. Und dann kam es zu diesem kurzen Dialog – von jetzt auf gleich:

 

Sie: „Hast du eigentlich Mädchen?“

Stiller: „Wie jetzt?“

(Erklärung: Sie weiß, dass ich Vater zwei Töchter bin. Wir haben uns oft über sie unterhalten. Ich wusste überhaupt nicht, was sie von mir wollte).

Sie: „Ja, hast du Mädchen?“

Stiller: „Das kann jetzt von zwei Verben abgeleitet sein. Willst du wissen, ob ich Mädchen habe, oder willst du wissen, ob ich Mädchen hasse?

Sie (zeigt mit dem Finger auf mich): „Nein, du in dir drin. Du bist doch Viele. Sind da eigentlich auch Mädchen bei?“

Stiller: „Ja, zwei. Aber die bekomme ich nie deutlich zu sehen. Ich weiß nur, dass sie da sind, und dass sie sich da sehr wohl fühlen.“

 

Und damit war der Dialog zu Ende. Jeder von uns wandte sich wieder schweigend seinen Aufgaben zu.

 

Sie ist so neurotypisch, dass mir der Kitt aus der Brille fliegt (Sprachbild), wenn sie mir davon berichtet, wie sie ihr Leben gestaltet – soziale Kontakte ohne Ende, Bekanntschaften, Freundschaften, Besuche mit ihrem Mann bei befreundeten Paaren, Wochenenden bei den Schwiegereltern, Plausch mit dem Nachbarn, gemeinsam dies, gemeinsam das, tanzen, feiern, gemütliches Beisammensein, gemeinsam, gemeinsam, gemeinsam, sozial, sozial … Die Hölle auf Erden.

 

Aber sie ist nicht aufdringlich damit. Sie nötigt uns ihr Leben und ihre Art, in der Welt zu sein, nicht auf. Und aus irgendwelchen Gründen fällt es ihr leicht, die Distanz zu uns zu wahren, die wir brauchen, um sein zu können. Und wenn wir zusammenarbeiten, dann textet und quatscht sie uns auch nicht voll. Sie kommt in ihrer Sprache fast immer sehr präzise auf den Punkt, und wenn es mal nichts zu sagen gibt, dann neigt sie dazu, auch mal still zu sein. Ja, auch sowas gibt es bei Neurotypischen. 

 

Sie berichtete uns vor einiger Zeit von einer Begebenheit aus einer Ehe, die sie führte, bevor sie mit ihrem jetzigen Mann verheiratet war. Sie war mit ihrem damaligen Mann zum Paartherapeuten gegangen, und der hatte ihr dringend geraten, sich mal mit dem Märchen „Der Froschkönig“ auseinanderzusetzen. Dazu hatte er ihr ein Buch empfohlen, das die psychologischen Hintergründe dieses Märchens erhellte.

 

Sie: „Ich wusste bis dahin gar nicht, dass man solche Märchen auch psychologisch deuten kann.“

Stiller: ???

Sie: „Du siehst so fragend aus?“

Stiller: „Ja, wie denn sonst? Kindermärchen bilden eine psychologische Realität ab, die in uns ist. Das ist so ziemlich ihre einzige Funktion. Deshalb sind sie so erfolgreich.“

Sie: „Ja, gilt das denn für alle Märchen?“

 

Wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) machten dann einen Parforceritt (Sprachbild) durch ein paar bekannte Märchen und skizzierten ihr kurz die psychologischen Hintergründe von Dornröschen, Schneewittchen und Rumpelstielzchen.

 

Sie: „Und was bedeutet der Froschkönig?“

Stiller: „Das kommt darauf an, wo du da den Schwerpunkt legst. Der ist unterschiedlich interpretierbar. Was ist denn für dich das Bedeutsame an diesem Märchen?“

 

Sie berichtete dann ein wenig von diesem Märchen und fasste es dann so zusammen:

 

Sie: „Ja, für mich ist es eigentlich immer diese goldene Kugel.“

Stiller: „Ja, was passiert denn mit dieser Kugel?“

Sie: „Ja, das Mädchen spielt damit.“

Stiller: „Wie spielt das Mädchen damit?“

Sie: „Sie wirft die Kugel hoch in die Luft und fängt sie wieder auf.“

Stiller: „Und dann?“

Sie: „Dann fällt sie in einen Brunnen.“

Stiller: „Und dann?“

Sie: „Ja, und dann ist sie weg.“

Stiller: „Wie geht es dem Mädchen damit?“

Sie: „Sie will sie unbedingt wiederhaben.“

Stiller: „Warum will sie das?“

Sie: „Ja, weiß nicht. Weil ihr was ganz wichtiges fehlt.“

Stiller: „Und? Kommt sie wieder an die Kugel?“

Sie: „Nein, dafür braucht sie ja diesen Frosch.“

 

Das Gespräch drehte sich dann darum, dass das Märchen so verstanden werden konnte, dass sie etwas ganz wichtiges in ihrem Leben verloren hatte, als sie noch ein Kind war und sich seitdem intensiv danach sehnte, es wiederzubekommen. Wir schilderten ihr, was das zum Beispiel in unserem Leben gewesen war.

 

Sie: „Ja, aber mir fehlt nichts in meinem Leben.“

Stiller: „Dann ist ja alles in Ordnung.“

Sie: „Nein, ich fühl‘ da nichts. Ich vermisse nichts in meinem Leben. Oder siehst du da was?"

Stiller: „Was ist das für ein Schmuckstück, das du da um deinen Hals trägst?“

Sie (befingert ein centstückgroßes Schmuckstück, das sie an einer goldenen Kette um den Hals trägt): „Das ist mein Lieblingsschmuckstück.“

Stiller: „Ich weiß. Du trägst das sehr oft.“

Sie: „Das soll der ‚Baum des Lebens‘ sein.“

Stiller: „Welche Farbe hat es?“

Sie: „Es ist golden.“

Stiller: „Welche Form hat es?“

Sie: „Ja, es soll ein Baum sein.“

Stiller: „Die Form?“

Sie: „Rund.“

Stiller: „Hättest du eine Möglichkeit, ein Schmuckstück zu tragen, das noch mehr einer goldenen Kugel gleichkommt als dieses?“

Sie: ???

Schweigen.

Schweigen.

Sie: „Ja, aber meine Kinder haben es mir geschenkt.“

Stiller: „Und du hast es heute Morgen angelegt. Du trägst deine „goldene Kugel“ ganz oft um den Hals.“

Sie: ???

Schweigen.

Schweigen.

Sie: „Und was ist es, was ich da verloren habe?“

Stiller: „Ich weiß es nicht.“

Sie: „Weißt du es nicht, oder willst du es mir bloß nicht sagen.“

Stiller: „Ich weiß es nicht. Und wenn ich es wüsste, wäre es sehr wahrscheinlich falsch und schädlich, es dir zu sagen. Den Weg zu seinem Herzen muss jeder selbst finden. Da gibt es keine Abkürzungen.“

Sie: „Kannst du mir wenigstens sagen, wann ich das verloren habe?“

Stiller (schließt die Augen und konzentriert sich).

Schweigen.

Stiller: „Drei Jahre. Zweieinhalb. Eher drei Jahre als zweieinhalb.“

Sie: „Und was habe ich verloren.“

Stiller: „Ich weiß es nicht.“

Sie: „Ich muss mal meine Mutter fragen. Vielleicht weiß die was.“

Stiller: „Tu das. Mütter erinnern manchmal erstaunliche Sachen.“

 

 

Gestern hatten wir wieder einen dieser Workshops. Beim Mittagessen saßen wir beide alleine an einem Tisch und unterhielten uns.

 

Sie: „Ich habe meine Mutter jetzt mal gefragt wegen der Kugel.“

Stiller (schweigt).

Sie: „Also meine Eltern haben mich wohl mal, als ich klein war, im Auto zurückgelassen, als sie spazieren waren. Und als sie zurückkamen, waren da ganz viele Leute um das Auto, die auch schon die Polizei gerufen hatten (lacht). Die dachten wohl, dass meine Eltern mich da irgendwie ausgesetzt hätten (lacht).“

Stiller (schweigt).

Sie: „Dabei haben die mir nur was Gutes tun wollen. Ich hab‘ geschlafen, als die zu ihrem Spaziergang losgingen (lacht). Da wollten die mich nicht wecken und sagten: „Lass das Kind mal schlafen.“ Und als meine Eltern zurückkamen, war ich schon wieder wach, aber meine Mutter hat mir gesagt, dass ich quietschvergnügt war.“

Stiller (schweigt).

Schweigen.

Stiller: „Wie lange bist du da im Auto alleine gewesen?“

Sie: „Weiß nicht. Ein paar Minuten vielleicht (lacht). Als meine Eltern da mit meinen beiden älteren Geschwistern zurückkamen, muss die Leute wohl der Schlag getroffen haben, dass die noch zwei Kinder hatten und meinen Eltern erzählt haben, was sie für Rabeneltern wären (lacht). Aber meine Mutter hat mir gesagt, dass ich quietschvergnügt war.“

Stiller (schweigt).

Sie: „Und dann gibt’s da noch eine Szene aus dieser Zeit. Da gibt‘s eine Aufnahme von mir, wo mich meine Eltern allein im Wald zurückgelassen haben (lacht). Natürlich haben die mich nicht in echt zurückgelassen, sonst hätten sie diese Aufnahme ja gar nicht machen können. Aber ich hab‘ da wohl meinen Willen durchsetzen wollen, so nach dem Motto: „Ich will aber da lang!“ (macht das pantomimisch vor), und dann haben meine Eltern gesagt, dass sie mich dann halt da lassen (lacht). Aber natürlich haben sie mich da nicht zurückgelassen.“

Stiller (schweigt).

Sie: „Aber das war auch alles an Szenen aus dieser Zeit, die mir meine Mutter berichten konnte. Da ist nichts gewesen, und sie sagt, dass es mir immer gut gegangen ist.“

Schweigen.

Schweigen.

Sie: „Und dann gibt’s da noch eine Szene, wo ich mit meinen Brüdern gemeinsam meine Puppen zerschnitten habe.“

Stiller (entsetzt): „Du hast deine Puppen zerschnitten?“

Sie: „Ja, mit meinen Brüdern gemeinsam. Ich war nie so der Puppenmensch, weißt du. Da muss ich auch so drei Jahre alt gewesen sein.“

Stiller: „Welches Werkzeug habt ihr dabei eingesetzt?“

Sie: „Weiß nicht. Küchenmesser und Schere glaube ich. Aber ich hab‘ die Puppen eh nie gemocht.“

Schweigen.

Schweigen.

Sie: „Und sonst gab es da wohl nichts.“

Schweigen.

Sie: „Oder siehst du da was?“

Stiller: „Darf ich dir Rückmeldung dazu geben, wie du erzählt hast?“

Sie: „Ja.“

Stiller: „Ich erlebe keinerlei Verbindung zwischen dir und dem kleinen Mädchen, das du mal warst, wenn du erzählst. Du sprichst über das Mädchen, das du mal warst, wie über eine völlig Fremde.“

Sie (nachdenklich): „Ja, das stimmt. Ich habe keinerlei Erinnerung daran. Und ich fühl‘ da auch nichts.“

Stiller (seufzend): „Ja, ich weiß.“

 

 

 

Epilog

 

Ich schreibe hier so ausführlich von dieser Frau, weil ich sie sehr schätze, und weil ich finde, dass sie in der Wüste der Androiden, in der ich mich normalerweise bewege, sehr außergewöhnlich ist.

 

Aber auch sie ist sich selber eine Fremde. Das erlebe ich bei beinahe allen erwachsenen Menschen so. Das, was sie innersten antreibt, was ihre tiefsten Sehnsüchte, Ängste, Verletzungen und Kräfte sind, das liegt alles in ihrer frühen Kindheit. Und wenn sie von sich als diesem kleinen Kind erzählen, dann erzählen sie über einen Menschen, der ihnen völlig fremd ist. Es ist nicht meine Aufgabe, sie darauf hinzuweisen oder das zu ändern. Aber ich nehme es wahr.

 

Diese Frau sieht das Offensichtliche nicht, weil sie es nicht sehen will. Sie will es nicht sehen, weil es offenbar noch nicht an der Zeit ist.

 

Was ist das Offensichtliche (unter anderem)?

 

1

Es braucht deutlich mehr als „ein paar Minuten“, bis besorgte Passanten (a) auf ein dreijähriges Kind aufmerksam werden, das in einem Auto zurückgelassen wurde, (b) alles mögliche versuchen, um es da rauszuholen, (c) die Polizei verständigen, damit sie den Wagen aufbricht.

 

2

Wenn viele fremde Menschen (plus Polizei) um ein Auto herumstehen (und alles mögliche tun), in dem sich ein dreijähriges Kind befindet, das nicht weiß, wo seine Eltern sind, dann ist dieses Kind alles mögliche, aber ganz sicher nicht „quietschvergnügt“.

 

3

Passanten werden nicht auf ein dreijähriges Kind in einem Auto aufmerksam, weil es „quietschvergnügt“ ist. Sie versuchen auch nicht, das Auto aufzubrechen, und sie verständigen auch nicht die Polizei, wenn es „quietschvergnügt“ ist.

 

4

Einem dreijährigen Kind, dem man sagt, dass man es im Wald zurücklassen wird, wenn es versucht, seinen Willen durchzusetzen, empfindet vor allem eins: Todesangst. Durchdringende und alles erfüllende Todesangst. So ein Wald ist riesig für so ein kleines Kind.

 

5

Wenn du als Kind einem Stofftier von dir oder einer Puppe von dir Gewalt antust, dann fügst du diese Gewalt dir selber zu. Du tust es zwar nur symbolisch, dennoch lässt sich diese Gewalt eins zu eins vom Stofftier oder der Puppe auf dich übertragen.

 

6

Wenn du ungewöhnlich viel lachst, wenn du von dir als Kind in Situationen erzählst, die objektiv weder komisch noch lustig sind, dann hast du etwas sehr schwerwiegendes zu verbergen. „Galgenlachen“ nennen manche Experten dieses Lachen an den Stellen, wo es nichts zu lachen gibt.

 

7

In diesen Erzählungen steckt noch sehr viel mehr drin, was offensichtlich ist. Aber ich belasse es mal bei diesen wenigen Punkten. Sie sind schwerwiegend genug.

 

 

Die allermeisten erwachsenen Menschen, die ich kenne, sehnen sich zutiefst nach etwas, was sie in ihrer frühen Kindheit unwiederbringlich verloren haben. Um es wiederfinden zu können, müssen sie mit dem Kind, das sie damals waren, in Kontakt treten. Aber dieses Kind ist ihnen derart fremd, dass kein Kontakt möglich zu sein scheint.

 

Wie es dann diesem Kind geht, (das in diesem Erwachsenen ja immer noch lebendig ist), brauche ich euch vermutlich nicht zu schildern.

 

Ich kann das alles sehen und fühlen. Und ich sehe und fühle das bei beinahe jedem erwachsenen Menschen. Wenn ich mich unter anderen Erwachsenen bewege, bewege ich mich fast immer in einer Welt, die zutiefst geprägt ist von ozeanischer Traurigkeit und einer schier unendlichen Einsamkeit. Und diese grenzenlose Wut und diese Ängste, die sich auftürmen wie ein Gebirge, die kann ich auch sehen.

 

Die Kinder dieser Welt liegen mir sehr am Herzen (und sonst beinahe nichts). Ich kann sie auch in den Erwachsenen sehen, und sie sehen fast immer, dass ich sie sehe. Aber das hilft ihnen auch nicht weiter, wenn der entsprechende Erwachsene sie nicht sehen und fühlen kann.

 

Ich kann das alles sehen und fühlen – ich bin ja nicht blind oder taub. Aber es ist nicht an mir, irgendwen auf irgendwas hinzuweisen oder zu irgendwas zu bewegen. Du findest deinen Weg zu dir, oder du findest ihn nicht. Aber auf diesem Weg gibt es keine Abkürzungen, und nur du alleine weißt, wann der richtige Zeitpunkt ist, diesen Weg zu beginnen. Du entscheidest das und niemand sonst.

 

Ich mach‘ da nichts dran.

 

Ich bin nur da.

 

Ich bin nur da in einer Welt von Fremden.

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Kommentare: 2
  • #1

    Neo-Silver (Montag, 27 Juni 2022 08:53)

    Hallo Stiller,

    mich interessiert ob du aus deiner Erfahrung und Übung heraus so eine Situation direkt in der aktiven Situation analysieren kannst oder ob du dafür auch eine Reflektionszeit außerhalb der Situation benötigst.

    Ich bin in Situationen zu fokussiert und/oder naiv(?) als das ich zum Beispiel in deiner o.g. Schilderung direkt Schlüsse hätte ziehen können.
    Tatsächlich glaube ich den Worten meines Gesprächspartners in erster Linie und kann Merkwürdigkeiten meist erst in einer Reflektion nach der Situation erkennen.


    Zum Thema des Textes:
    Wenn ich versuche ein Leben zu betrachten, ist es ja fast logisch dass die meisten Menschen den Bezug zu ihrer inneren Welt verloren haben und auch kaum Möglichkeit haben darauf zuzugreifen.

    Die Fähigkeit seine Gefühle in das tiefste Innere zu verdrängen wird Tag ein Tag aus verfeinert.
    Die Fähigkeit dagegen seine Gefühle zuzulassen, sie zu verbalisieren, ihnen zu folgen wird dagegen meist extern unterbunden.

    Um dann im Erwachsenenalter eine Fähigkeit wieder aufzubauen und zusätzlich aus der Struktur einer jahrzehntelang genutzten Fähigkeit auszubrechen ist sehr schwer.

    Ein Mensch
    immer funktionierend
    trotzdem kaputt

  • #2

    Stiller (Mittwoch, 06 Juli 2022 08:40)

    Hallo Neo-Silver,

    1
    Das meiste, was ich hier als Analyse geschrieben habe, sehe ich unmittelbar in der Situation. Ich schau', wie meine Kleinen sich fühlen und wie mein Körper auf das reagiert, was ich da wahrnehme und bekomme dadurch ein sehr gutes Bild. Natürlich kommt noch einiges dazu, wenn ich später über die Situation nachdenke.

    2
    Ich selber bin in der Hinsicht "naiv", dass ich einem Gesprächspartner erst mal alles glaube. Da kann er mir so ziemlich alles erzählen - ich glaube ihm das. Aber wenn von ihm unmittelbare Botschaften abgesetzt werden - wie zum Beispiel dieses häufige Lachen an ganz unpassenden Stellen -, die mir signalisieren: "Du, ich erzähle dir gerade Unsinn!", dann glaube ich das auch. Auch wenn die Körperspannung nicht zum Gesagten passt, nehmen wir es wahr und interpretieren es entsprechend.

    3
    Wir finden, dass es nicht nur "fast", sondern ganz logisch ist, dass Menschen, wenn sie erwachsen werden, den Bezug zu ihrer Innenwelt verlieren. So sind alle Kulturen und Gesellschaften, die wir kennen, aufgebaut und konfiguriert. Ob Gesellschaften und Kulturen auch anders sein könnten, wissen wir nicht.

    4
    Nach unserer Erfahrung gehört es zum schwersten, was es gibt, als Erwachsener den Weg zurück zur Innenwelt zu finden. Wir nennen das: "real werden" oder "da sein". Wir beschäftigen uns mit beinahe nichts anderem.

    5
    Wir danken dir für deinen Kommentar. Wir finden ihn sehr klar und sehr berührend.