(Der Teil des Titels hinter dem Gedankenstrich ist ein Zitat aus einem Comic, den meine Kleinen sehr schätzen).
Wenn du Psychologie studierst, gehört zu den sieben Fächern, die du im Grundstudium (oder im Bachelor) hast, auch Wahrnehmungspsychologie. In Wahrnehmungspsychologie („Allgemeine Psychologie I“) geht es vor allem um das Auge und das Ohr. Wie sehen wir, wie hören wir? Was sehen wir, was hören wir? Wie werden diese Sinneseindrücke im Körper erzeugt und wie werden sie im Gehirn verarbeitet. Spannende Sache, das.
Und da der Mensch ein „Augentier“ ist, sind ungefähr neunzig Prozent aller Sinneseindrücke, die er verarbeitet, optische Eindrücke. Gegen das Sehen verblasst buchstäblich jeder andere Sinneskanal des Menschen.
Und dennoch:
Auch der Mensch hat als Lebewesen eine Geschichte. Auch der Mensch hat sich in vielen, vielen Millionen von Jahren aus viel einfacher strukturierten Lebensformen entwickelt. Wenn man sich diese Entwicklungslinie anschaut, dann stellt man fest, dass der ganze „optische Apparat“ des Menschen nicht sein ältestes Sinnessystem ist. Vor allem anderen kam das Riechen. Das Riechhirn ist stammesgeschichtlich deutlich älter als Sehhirn.
Es ist auch woanders lokalisiert. Und das fand ich schon immer total faszinierend:
Das Sehhirn ist ein riesiger separater Bereich im hinteren Teil des Großhirns (occipitaler Cortex). Das Sehhirn ist regelrecht ausgelagert und hat seinen eigenen sehr ausgedehnten Bereich im stammesgeschichtlich jüngsten Teil des Gehirns.
Das Riechhirn dagegen ist deutlich kleiner. Es liegt in einem Teil des Gehirns, der stammesgeschichtlich viel älter ist als das Großhirn. Es ist zu großen Teilen eingebettet in das limbische System. Und im limbischen System läuft – stark vereinfacht gesagt – so ziemlich alles zusammen, was im Gehirn mit Gefühlen zu tun hat.
Um es – stark vereinfacht - auf den Punkt zu bringen:
Das Sehen macht uns als Sinneswesen aus und bestimmt, wie wir in der Welt sind. Unsere optischen Eindrücke sind uns meistens bewusst, über sie können wir nachdenken, mit ihnen orientieren wir uns in der Welt.
Das Riechen betrifft unser Sein derart unmittelbar, dass wir darüber oft gar nicht nachdenken können. Viele unserer Riecheindrücke (olfaktorische Sinnesreize) können wir nicht mal bewusst wahrnehmen. Sie treffen uns in einem eher unbewussten, fühlenden Bereich unseres Seins. Aber sie treffen uns immer im Zentrum unseres Seins. Zu ihnen können wir keine innere Distanz aufbauen.
Wie gesagt – das ist stark vereinfacht dargestellt. Die Wirklichkeit ist – wie bei allem, was das Gehirn betrifft – wesentlich komplexer.
Wenn wir also einen anderen Menschen nicht riechen können, dann war’s das.
Da kann dieser Mensch noch so toll aussehen und noch so brillante Gedanken haben oder was auch immer. Wenn wir nicht leiden können, wie er riecht, dann können wir keine positive Beziehung zu ihm aufbauen. Das gilt aber für jeden Geruch, den wir als unangenehm empfinden: Wenn wir irgendeinen Geruch nicht leiden können, entwickeln wir eine derart starke Abneigung (Aversion) dagegen, dass so ziemlich alles andere in uns sich diesem Eindruck anschließt.
Aus diesem Grund nutzen Menschen, seit es sie gibt, duftende und wohlriechende Substanzen, um einander angenehmer zu sein.
Und hier gibt es eine Problemstellung, die das Zusammenleben von Asperger-Autisten (AS) und Nicht-Autisten (NTs) sehr häufig schwierig, wenn nicht sogar unmöglich macht:
Wenn wir Sinneseindrücke wahrnehmen, durchlaufen diese Eindrücke auf dem Weg in unser Bewusstsein erst mal einige Filter. Kein Mensch nimmt Sinneseindrücke ungefiltert auf. Das geht biologisch gar nicht. Aber die meisten NTs haben deutlich mehr Sinnesfilter im Kopf als AS. Mit anderen Worten: Die meisten AS sind bei Sinneseindrücken deutlich sensibler als die meisten NTs.
Ich bin optisch und akustisch hypersensibel. Und selbst unter den optisch und akustisch Hypersensiblen bin ich immer noch hypersensibel. Überspitzt ausgedrückt: Ich bin optisch und akustisch hypersensibel im Quadrat.
Olfaktorisch (also vom Geruchssinn her) bin ich nur hypersensibel. Ich habe AS kennengelernt, die olfaktorisch so sensibel wahrnehmen, dass ich nur staunen kann. Die sind olfaktorisch hypersensibel im Quadrat oder sogar im Kubik.
Und für diese AS ist die Welt, in der die NTs leben, oft einfach nur eine widerlich stinkende Hölle.
Ich will im weiteren nur von meinen Eindrücken berichten, da ich nicht für diese AS sprechen kann. Ich will nur darauf hinweisen, dass ich unter den AS nicht besonders hypersensibel bin, was den Geruch anbelangt.
Wenn ich im Wald spazieren gehe (was ich deutlich öfter und mehr tue als die meisten anderen Menschen), dann riech‘ und schnüffel‘ ich mich durch die Gegend. Da ich ein Synästhet bin, löst so ziemlich jeder Geruch eine Farbe oder eine Form aus, die ich sehe. Da gehe ich also durch den Wald und sehe hier eine ausgedehnte Wolke von zartem Blau mit roten Schlieren drin, da drüben wird es dann seltsam grünlich, wobei das Grün an den Seiten in grau und schwarz übergeht, da drüben sehe ich scharfe Kanten im Geruch … und so weiter.
Der Wald riecht ständig anders. Das hängt ab von der Jahreszeit, von der Tageszeit, von der Temperatur, von der Luftfeuchte, von der Höhe über dem Meeresspiegel, vom Bewuchs … und so weiter. Kleine Steine riechen ganz anders als große Felsen, Buchen riechen anders als Eichen, und wenn die Sonne morgens auf den die braunen Nadeln am Boden eines Kiefernwaldes scheint, dann riecht das ganz anders, als wenn sie das am Abend tut.
Und so weiter.
(Und natürlich sehe ich das alles als Bilder, Farben und Formen).
Und dann kommt der Frühling.
Und für ein paar Wochen wird der Wald für mich beinahe unerträglich.
„Versuch mal, nicht zu stinken!“ raunzen meine Kleinen dann immer wieder die Bäume und Sträucher an. Wir wissen, dass das auch nichts nützt. Aber wenn überall die Blüten in den Bäumen und Sträuchern zu sehen sind, dann ist der Wald für uns oft wie „Knüppel auf’n Kopp!“ Dann ist der Wald ein einziges tosendes Gebrüll und Geschrei für die Nase und die Augen.
Und dann gibt’s da zum Beispiel noch diese ausgedehnten Rapsfelder. Wenn die in voller Blüte stehen, dann sind die kilometerweit zu riechen.
NTs neigen dazu, diese Gerüche angenehm und lieblich zu finden. Sie neigen dazu, solche Blütenzweige abzubrechen und nach Hause mitzunehmen, um sich an ihnen zu erfreuen. Gerade in den letzten Tagen habe ich das wieder sehr häufig gesehen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass im Frühling so ziemlich jeder NT, der den Wald verlässt, irgendein Duftsträußchen für daheim mitnimmt.
Und das geht nicht, Leute. Das geht echt nicht. Es ist schlimm genug, wenn der Wald wie Knüppel auf’n Kopp ist. (Wobei – in der Nacht werden die Gerüche meistens wesentlich weniger schlimm).
Wenn ihr damit aber auch noch in eurer häuslichen Umgebung weiter macht, dann kann ich ja nirgendwo mehr hin.
Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, zum Beispiel -, die macht das gerne so. Das ganze Frühjahr und den ganzen Sommer über steht irgendwelcher Blühkram bei uns daheim auf dem Esstisch. Wenn der eine Blühkram sich zu Kompost weiterentwickelt hat, dann wird er durch den nächsten ersetzt.
Manchmal frage ich sie dann:
„Ah, du hast wieder Asthma-Verstärker mitgebracht?“
Sie nickt dann nur freundlich. Ihr Herz erfreut sich an diesem Zeug. Für sie steht da Sonne, Wohlgefühl und Leben auf dem Tisch. Ein Frühjahr oder Sommer wäre für sie gar nicht denkbar ohne diesen Stinkekram auf dem Tisch. Sie würde seelisch verkümmern und eingehen, wenn sie sich nicht mit solchem Empathikerzeug umgeben könnte. Manchmal hängt sie sowas auch an die Wände der Wohnung. Sie kann sehr empathisch sein, wenn es sie selber betrifft.
Und ich muss dann sehen, wo ich bleibe.
Getoppt wird das natürlich noch durch die Gerüche, die man kaufen kann.
So wie Zucker in so ziemlich allen Lebensmitteln ist, die im Supermarkt verkauft werden, scheinen Aromastoffe in so ziemlich allen Substanzen zu sein, die irgendwas mit Reinigung oder Pflege zu tun haben.
Seifen, Shampoos, Deos, Backofenspray, Scheuermittel, Waschpulver … nimm, was du willst – unstinkend ist es kaum zu bekommen. Oder – wenn du es unstinkend bekommst, ist es häufig deutlich weniger wirksam.
Die NTs wollen, dass das so intensiv riecht, sonst würden sie solchen Parfümkram nicht in all dieses Zeug reinrühren. Sie fühlen sich wohl damit. Ich fühle mich davon bedrängt, bedroht, geschlagen, angewidert. Versuch mal, nicht zu stinken!
Dann gibt es da noch diesen ganzen Parfümkram, mit dem Männer und Frauen sich eindieseln können, dass sie eine Stinkschleppe hinter sich her ziehen, die hunderte Meter lang ist – Parfüm, Deo, Après-irgendwas, Dévant-irgendwas … riech, riech, riech, riech. Oder für meinen Geruchssinn: Gebrüll für die Nase.
Leute, das ist keine Übertreibung. Es kommt immer wieder vor, dass ich Gerüche von Menschen sehe, die sich eingedieselt haben, die aber schon vor über einer Minute vorbeigekommen sind. Ich wohne in einem Hochhaus im Erdgeschoss. Wenn ich das Haus verlasse, komme ich am Aufzug vorbei. Oft genug passiert es, dass ich den Bereich, wo der Aufzug ist, fluchtartig verlasse, weil ich höre, wie der Aufzug runterkommt und rieche, was da gleich wieder für eine Aromabombe detonieren wird. – Versuch mal, nicht zu stinken!
Und immer wieder kommt es vor, dass ich ganz alleine im Eingangsbereich stehe, es fürchterlich riecht und ich mich frage:
„Wer ist denn hier wieder vorbeigekommen?!“
Dann schaue ich runter zum Parkplatz und oft sehe ich dann zweihundert Meter weiter den Träger dieser Geruchsschleppe:
„Ah ja, unser präseniler Duftelefant ist mal wieder unterwegs!“
An die NTs unter meinen Lesern:
Ich weiß, dass die meisten von euch Gerüche ganz anders wahrnehmen als ich, und dass niemand von euch so riecht, um mich zu ärgern oder mir zu schaden. Dennoch halte ich zu sehr vielen von euch respektvollen Abstand, weil ihr so riecht. Ich kann’s nicht ändern. Ich mache das nicht, um euch zu ärgern oder euch zu schaden, sondern um mich zu schützen.
Und bedenkt bitte dieses:
Ich habe mit AS gesprochen, die Gerüche noch deutlich sensibler wahrnehmen als ich. Für die macht ihr die Welt, in der ihr lebt, mit euren künstlichen Aromen buchstäblich zu einer unbewohnbaren Hölle.
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Neo-Silver (Montag, 09 Mai 2022 09:55)
Ich möchte zu Parfüm und Co auch noch Rauchen bzw. Raucher ergänzen.
Nicht nur das aktive rauchen an sich stört mich so sehr, dass ich die Straßenseite wechsel oder die Luft versuche beim vorbeigehen anzuhalten, auch der Raucher selbst sorgt für eine Geruchsbelästigung.
Dieser Geruch verfestigt sich in der Kleidung, den Gegenständen der Wohnung und auch am Körper des Rauchers.
Neben Parfümgeruch ist dies in Bezug auf die Geruchsbelästigung mein größtes Martyrium wenn ich außerhalb meiner Wohnung unterwegs bin.
Fischer (Dienstag, 21 Februar 2023 00:45)
Hier hab ich einen guten Einwurf. Als Frau möchte man mal gerne etwas Duft. Ist so eine Frauen Ding ;). Aber auch ich kenn aus meiner Umgebung diese Hypersensibilität in Quadrat bis Kubik. Ein ggf. Vorteil jedoch auch Verlust für mich persönlich ist, dass ich meinen mit der extremen plötzlichen Reizüberlutung vor Jahrzehnten, weitestgehend verlor.(?) Was unser Gehirn teils ausblendet bei Überlastung auf verschiedenen Wahrnehmungsebenen kann erschreckend sein. Der Verlust schmerzt, so fehlt ein wichtiger Teil meiner Intrigrität. Gerade für Sinnesmenschen genauso schmerzlich.
MfG
Fischer
Stiller (Mittwoch, 22 Februar 2023 09:37)
Fischer, wir haben das vermutlich nicht verstanden.
Du schreibst:
"Ein ggf. Vorteil jedoch auch Verlust für mich persönlich ist, dass ich meinen mit der extremen plötzlichen Reizüberflutung vor Jahrzehnten, weitestgehend verlor."
So, wie es da steht, kann es in diesem Sinne interpretiert werden:
Ein großer Vorteil jedoch auch Verlust ist für mich, dass ich meinen Vorteil bzw. Verlust vor Jahrzenten verlor.
Wir vermuten, dass das nicht gemeint ist.
Aus dem Sinnzusammenhang schließen wir, dass du deinen Geruchssinn verloren hast.
Aber das ist nur eine Vermutung von uns, denn es steht da so nicht.