Vielleicht habe ich wieder mal was gelernt:
Nachdem mir in den letzten Jahren immer wieder NTs, die ich als redselig einschätzte, ungefragt versicherten, wie wichtig es ihnen sei, „gemeinsam schweigen“ zu können, kam jetzt die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, auf einmal auch mit diesem Unsinn.
Und vielleicht habe ich verstanden.
Ich will das mal aufdröseln.
Wie immer gilt:
Das ist meine Sicht der Dinge, jeder darf eine andere haben.
Also los.
Zunächst mal:
Mit Sicherheit gibt es NTs, die schweigsam sind. Aber von denen bekomme ich so gut wie nichts mit, eben weil sie schweigsam sind und mich nicht volltexten.
Wenn ich NTs intensiv und umfangreich erlebe, dann fast immer deshalb, weil sie sich mir kommunikativ aufdrängen. Insofern mag meine Sicht auf die NTs systematisch verzerrt sein, ich gebe das gerne zu.
Als meine Beziehung zu der Frau, mit der ich heute de jure verheiratet bin, noch jünger war, und ich ihr die Wahrheit sagen konnte, ohne dass sie mit Feuer und Schwefel um sich schmiss, sagte sie mir mal:
„Aber ich bin doch auch oft still.“
Und ich antwortete ihr spontan (ungefähr):
„Ja, du bist auch oft still. Aber dann ist es dunkel, du liegst waagerecht, deine Augen sind geschlossen, und dein Atem geht ruhig und gleichmäßig. Dann bist du still.“
Manchmal denke ich über Möglichkeiten nach, mit dem Geplapper der NTs eine Mühle oder einen Generator zu betreiben. Wenn ich so einen Generator erfinden könnte, dann würde ich reich, und die meisten unserer Energieprobleme wären über Nacht gelöst.
Denn so eine Plappermaschine läuft mit nachwachsender Bioenergie.
Und jetzt kam diese Frau, die ich als außergewöhnlich kommunikativ erlebe und flocht in einen ihrer langen Monologe ein, dass es ihr wichtig sei, mit anderen gemeinsam schweigen zu können. Ich hörte mir das an und fragte mich: „Was passiert hier?“
Sie hatte ungefähr dieses gesagt:
„Ich hab‘ dich da früher immer nicht verstanden, aber in den letzten Jahren wird mir das immer wichtiger, dass es auch mal still ist, und dass man mit anderen gemeinsam schweigen kann. Ich kann dich da jetzt besser verstehen, und Leute, die immer nur reden, die meide ich immer mehr. Man muss auch gemeinsam schweigen können. Das wird mir immer wichtiger, dieses gemeinsame Schweigen, verstehst du?“
Dann sagte sie nichts. Ich schaute auf die Uhr. Ich sagte auch nichts.
Nach ungefähr zwanzig Sekunden fing sie dann wieder an zu reden – von sich und von der Welt, in der sie lebt. Dieser Zustand hielt mehr als fünf Minuten an.
Aber danach entstand auf einmal wieder eine Pause. Und das war ungewöhnlich. Sie sagte nichts, und dieser Zustand hielt wieder für beinahe eine halbe Minute an.
Normalerweise geht das so:
1
Sie erzählt sehr lange und ausufernd und mit vielen Wiederholungen. Ihre Welt mag vergleichsweise klein sein. Aber es gibt sehr viel aus ihr zu berichten.
2
Dann hält sie kurz inne und fragt mich zum Beispiel:
„Was sagst du denn dazu?“
Und dann will sie irgendwas von mir hören, was sie als Ausgangspunkt für den nächsten Monolog nehmen kann.
3
Ich antworte irgendwas kurzes.
Nehmen wir an, ich würde auf ihre Frage antworten:
„Das scheint jetzt der Trend zu sein.“
Dann würde sie nicht fragen:
„Was für ein Trend soll das denn sein?“
Nein, sie würde loslegen mit:
„Ja, das habe ich mir auch schon gedacht. …“
Und dann würde sie wieder die nächsten fünf Minuten mit Schall füllen.
Oder ich würde sagen:
„Vielleicht muss man das auch stärker differenzieren.“
Dann könnte sie fortsetzen mit:
„Na, ich weiß nicht, ob man das so stark differenzieren muss. Weiß du, ich habe mir gedacht, dass …“
Oder ich würde sagen:
„Ich habe gehört, dass es ab Donnerstag Eichhörncheninnereien im Aldi im Sonderangebot gibt.“
Dann würde sie fortsetzen mit:
„Gut, dass du das ansprichst. Wegen der Angebote beim Aldi muss ich mich noch mit [Name einer Freundin] absprechen, die hat gesagt …“
So geht das normalerweise.
Ich habe bei sehr vielen NTs Beobachtungen und Messungen gemacht und dabei festgestellt, dass die allermeisten von ihnen dazu neigen, keine Dialoge zu führen, sondern zwei nebeneinander laufende Monologe. Echter Austausch ist meistens nicht das, was sie wünschen. Ich habe den Eindruck, dass viele von ihnen echten Austausch nicht einmal dann könnten, wenn sie das wollen würden. Wie hört man einander zu? Also richtig zu, nicht so, dass man das, was der andere sagt, nur als Anknüpfungspunkt für sein eigenes Zeug nutzt, sondern so, dass man das, was der andere gesagt hat, so lange in sich wirken lässt, bis man den Eindruck hat, es wirklich verstanden zu haben?
Ich habe den Eindruck, dass die allermeisten NTs das nicht können.
Ich habe aber nicht den Eindruck, dass sie dabei irgendeinen Mangel empfinden.
Das, was ich als echten Austausch bezeichne, scheint nicht das zu sein, was sie wollen.
Sie wollen reden, und der andere soll da sein und sich das anhören und immer wieder Stichworte geben bzw. signalisieren, dass er noch zuhört und dabei ist.
Dann sind sie zufrieden.
Das ist in der Regel alles, was sie an Kommunikation wollen.
Aber das ist kein Austausch. Das ist ein kommunikatives Nebeneinanderher.
Den meisten NTs scheint das völlig auszureichen. Sie wollen keine Begegnung, sie wollen einen zuhörenden Stichwortgeber.
Ausgenommen sind natürlich NTs, die verliebt sind.
Wenn sie randvoll mit Oxytocin sind, dann sind bei den NTs viele Dinge anders.
Diese NTs meine ich in diesem Zusammenhang aber nicht.
Ich rede hier von NTs im Normalbetrieb.
Und die sind an echtem Austausch und echter Begegnung in aller Regel nicht interessiert und zeigen nach meiner Erfahrung auch keine ausgeprägten Stärken in diesem Bereich.
Ok.
Zurück dazu, dass die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, kund und zu wissen gab, ihr sei wichtig, mit Menschen zusammen zu sein, mit denen sie „gemeinsam schweigen“ könne.
Ich fragte mich dann:
„‘Gemeinsam schweigen‘ – was soll das sein?“
Und ich hatte den Eindruck, dass die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, mir das gerade vormachte:
Sie monologisierte ungefähr fünf Minuten lang.
In dieser Zeit sagte ich kein einziges Wort.
Dann schwieg sie ungefähr eine halbe Minute lang. Ich sagte auch nichts. In dieser Zeit sammelte sie innerlich neue Kräfte, neue Ideen und neue Themen für die nächsten fünf Minuten Monolog.
Und in dieser halben Minute war es tatsächlich still im Raum.
Niemand sagte was.
Wir schwiegen gemeinsam.
Das hatte schon einen Anflug von Romantik.
Und bedeutungsschwere Gedankentiefe schwang da auch mit, irgendwie.
Gemeinsam schweigen – einfach mal nichts sagen. Da kann man schon ins Philosophieren kommen, wenn du verstehst, was ich meine.
Es war, als würden sich da neue Pforten unserer Existenz öffnen. Achtsamkeit und transzendentes Verständnis für den Kern der Dinge begann, sich breit zu mache - jeder im Raum konnte das spüren.
Es war eine wirklich intensive Erfahrung.
Beinahe ein Erlebnis.
Es war etwas, was keinen von uns unberührt oder unverändert zurückließ.
Und dann plapperte sie wieder los.
Verglichen mit anderen bin ich ein recht schweigsamer Mensch. Aber ich habe keine Ahnung, was „gemeinsam“ schweigen ist. Wenn ich mit einem anderen zusammen bin, und wir sind beide gleichzeitig still, erlebe ich das meistens als sehr angenehm. Aber das ist kein „gemeinsames“ Schweigen. Ich bin still, der andere ist still, und wir sind beide gleichzeitig da, und damit hat sich’s auch schon. Das finde ich sehr angenehm. Aber ich kann das „gemeinsame“ daran nicht erkennen.
Vielleicht ist das aber auch wieder so ein NT-Ding, von dem ich als Autist nicht so viel verstehe.
Auf der anderen Seite:
Falls „gemeinsam“ Schweigen bedeutet, dass jeder etwas längere Pausen in seine Monologe einflicht, bevor er wieder losplappert, dann ist das ein Konzept, das ich sehr gut nachvollziehen kann. Und dass mir dieses Konzept von „gemeinsam“ Schweigen bislang nur von NTs entgegengebracht wurde, die ich als sehr kommunikativ erlebe, passt ins Bild.
Und jetzt ist dieser Text fertig, und ich schweige wieder ganz alleine vor mich hin.
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