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Das Neurotypische Syndrom 29 – Tangentiale Kommunikation

Als Asperger-Autist (AS) neige ich dazu, an den Sachen dranzubleiben. Wenn ich eine Problemstellung verfolge, dann verfolge ich sie, bis ich eine Lösung habe. Wenn ich in einem Gespräch eine bestimmte Fragestellung thematisiere, dann will ich diese Fragestellung besprechen, bis wir eine Antwort bzw. eine Lösung gefunden haben.

 

In welchem Maße andere AS das auch so tun, weiß ich nicht. Ich habe dafür zu wenige Befragungen gemacht. Aber bislang habe ich bei allen AS, mit denen ich kommuniziert habe, dieses festgestellt:

Wenn wir im Gespräch eine bestimmte Problemstellung oder eine bestimmte Frage bearbeiten, dann bleiben wir am Thema dran, bis das gelöst ist. Oder bis wir immerhin so weit gekommen sind, dass wir sagen:

„Heute kommen wir in dieser Sache nicht weiter – lass uns das vertagen.“

Das gilt sowohl für private Gespräche als auch für berufliche.

 

Die weitaus meisten NTs sind da anders.

Das kann ich mit dieser Bestimmtheit sagen, denn ich habe dazu viel Feldforschung durchgeführt.

 

Die weitaus meisten NTs neigen im Gespräch zu einem Verhalten, das „Tangentiale Kommunikation“ genannt wird: Sie hopsen im Gespräch assoziativ von einem Thema zum nächsten. Manche nennen diese Technik „Vom Hölzchen aufs Stöckchen“.

 

Ich will in einem ersten Schritt schildern, was Tangentiale Kommunikation ist. In einem zweiten Schritt will ich darlegen, warum NTs auf diese Weise kommunizieren. Zum Schluss will ich in einem dritten Schritt zeigen, wie ich damit umgehe, wenn mit mir tangential kommuniziert wird.

 

 

1

Was ist „Tangentiale Kommunikation“?

 

Zunächst mal: Was ist eine Tangente?

Eine Tangente ist eine Gerade, die eine Kurve in nur einem einzigen Punkt berührt. Die Tangente hat mit dieser Kurve also nur einen einzigen Punkt gemein.

 

Tangentiale Kommunikation bedeutet:

Ich nehme mir aus dem, was der andere mir in der Kommunikation anbietet, einen beliebigen Punkt heraus und nehme ihn als Anknüpfungspunkt für ein völlig anders geartetes Gespräch.

 

Ich will zur Veranschaulichung ein paar Beispiele aus meinen Aufzeichnungen geben:

 

a

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, hat zwei Wochen alleine Urlaub in Portugal gemacht. Ich habe in dieser Zeit gearbeitet. Ein paar Tage, nachdem die Frau zurückgekommen ist, führen wir dieses Gespräch:

 

Frau: „Du siehst so müde aus.“

Stiller: „Ja, ich bin erschöpft. Die letzten Tage waren recht hart. Viele, anstrengende Workshops.“

Frau: „Ja, wir werden alt.“

Stiller: „Das auch. Diese Arbeit sollte eigentlich jemand machen, der 30 Jahre jünger ist.“

Frau: „Haben die denn keinen anderen, der dich unterstützen könnte?“

Stiller: „Ich bin der einzige im ganzen Konzern, der diese Arbeit tun kann.“

Frau: „Vielleicht solltest du dich bei der Arbeit mehr schonen?“

Stiller: „In dem Maße, wie ich das kann, tu‘ ich das schon. Das Management will mir diese Aufgaben oft verkaufen, indem es mir schildert, wie toll diese Aufgaben für meine Karriere sein könnten. Aber ich habe meine große Zukunft bei [Name des Konzerns] schon hinter mir. Ich bin ein Flugzeug im Sinkflug.“

Frau: „Ja, Flugzeuge gehen unheimlich früh in den Sinkflug. Das habe ich beim Rückflug aus Portugal gemerkt. Das war über eine halbe Stunde vor der Landung. Da waren wir noch fast über Frankreich, so ungefähr.“

Stiller: (schweigt)

Frau: „Da habe ich auch gesehen, wie dicht besiedelt Deutschland ist. Über Frankreich sah man nur hier und da mal Lichter. In Deutschland war eine Stadt an der anderen.“

Stiller: (schweigt)

Frau: (plappert munter drauflos)

 

In diesem Beispiel gibt es zwei verschiedene Gespräche:

a) Meine Arbeitsbelastung

b) Meine Urlaubserlebnisse

Die Tangente ist der einzige Punkt, in dem sich diese beiden Themen berühren:

Der Sinkflug.

 

b

Ich höre einem Gespräch unter Kollegen zu:

 

Kollege 1: „Diese Powerpoint müssen wir aber noch aufpeppen. So können wir das auf keinen Fall in den Lenkungsausschuss geben.“

Kollege 2 (etwas gereizt): „Und wie willst du das „aufpeppen“? Willst du flackernde Licher einbauen?“

Kollege 1: „Nein, wir müssen das präziser auf den Punkt bringen. Wir sollten nochmal alle Folien durchgehen und uns bei jeder Folie fragen: „Was wollen wir mit dieser Folie eigentlich sagen?“ Und dann sollten wir diese Aussage auf den Punkt bringen. Folien, die nichts aussagen, die schmeißen wir einfach raus.“

Kollege 2: „Wir könnten diesen Folien auch die Miete erhöhen.“

Kollege 1 (verwirrt): „Wie jetzt? – Miete erhöhen?“

Kollege 2: „Naja, wenn wir wollen, dass diese Folien verschwinden, dann erhöhen wir ihnen die Miete, dann gehen sie vielleicht ganz von selbst.“

 

In diesem Beispiel gibt es zwei verschiedene Gespräch:

a) Wir müssen diesen Foliensatz noch verbessern.

b) Keine Lust!

Die Tangente ist der einzige Punkt, in dem sich diese beiden Themen berühren:

Wir schmeißen Folien raus.

 

c

Ein Gespräch zwischen Mutter und Tochter

 

Tochter: „Die Bea ist voll blöd!“

Mutter (interessiert, tröstend): „Was ist denn passiert?“

Tochter: „Die hat mich auf dem Schulweg wieder so dumm angemacht. Die hat mich geschubst und war voll gemein. Mit der geh‘ ich nie wieder in die Schule!“

Mutter: „Vielleicht hat sie einfach nur einen schlechten Tag gehabt. Red‘ doch mal mit ihr. Sag ihr, dass sie das nicht tun soll.“

Tochter: „Das hab’ ich doch gemacht! Aber die ist voll blöd! Ein richtig dummes Huhn!“

Mutter: „Hühner sind gar nicht so blöd. Ich hab‘ da neulich eine Sendung auf Arte gesehen, wo sie gezeigt haben, dass Hühner in Wirklichkeit sehr schlaue Tiere sind. Sie sind nur manchmal an ihre Umgebung nicht richtig angepasst.“

 

In diesem Beispiel gibt es zwei verschiedene Gespräche:

a) Bea ist gemein zu mir

b) Ich habe eine interessante Sendung über Hühner im Fernsehen gesehen.

Die Tangente ist der einzige Punkt, in dem sich diese beiden Themen berühren:

Hühner sind blöd.

 

2

Warum nutzen Menschen Tangentiale Kommunikation? Warum bleiben sie nicht beim Thema?

 

Tangentiale Kommunikation ist eine hervorragende Technik, um sich im Gespräch mit einem Thema nicht auseinandersetzen zu müssen. Aus dem ursprünglichen Gespräch wird mit einem rhetorischen Taschenspielertrick ein ganz anderes Gespräch gemacht, und das ursprüngliche Thema wird verabschiedet, während das Gespräch weiterläuft.

 

Das kann unangenehm für den Gesprächsteilnehmer sein, der im Gespräch das Ziel hatte, dieses ursprüngliche Thema zu besprechen bzw. das diesem Thema zugrundeliegende Problem zu lösen.

 

Für den, der die Tangentiale Kommunikation anwendet hat das aber meistens eine sehr entlastende Funktion:

a) Er muss sich mit der ursprünglichen Thematik nicht mehr befassen

b) Er kann jetzt eigene Themen in das Gespräch einbringen

c) Und trotzdem ist es nicht still – es wird weiterhin geredet. Dieser Punkt ist den meisten NTs extrem wichtig.

 

3

Wie gehe ich damit um, wenn mit mir tangential kommuniziert wird?

 

Wenn ich mit NTs eine Fragestellung bespreche, dann weiß ich, dass ich auf meine Themen und Fragen aufpassen muss, wie ein Luchs (Sprachbild). Die allermeisten NTs scheinen es nicht zu mögen in einem Gespräch bei der Sache zu bleiben. Und wenn ich nicht aufpasse, gehen in einem Gespräch meine Themen und Fragen einfach unter.

 

Was tue ich also?

 

Ich mache mir vor buchstäblich jedem Gespräch mit einem NT klar, was ich in diesem Gespräch eigentlich erreichen will. Früher habe ich mir das auf Zettel geschrieben, heute merke ich mir das an prominenter Stelle im Gedächtnis.

 

Wenn ich dann in das Gespräch gehe, gehe ich immer in dieser Reihenfolge vor:

 

a) Ich kläre auf der Sachebene, ob im Moment überhaupt der Zeitpunkt für ein Gespräch ist.

„Ist es ok für dich, wenn ich dir Fragen stelle?“

„Kann ich dich jetzt für fünf bis zehn Minuten sprechen?“

 

b) Ich kläre, ob im Moment überhaupt der Zeitpunkt ist, dieses Thema zu besprechen

„Ich mache mir Sorgen um unsere Beziehung – können wir das jetzt besprechen oder wäre ein andermal besser?“

„Ich hab‘ grad was interessantes erlebt – kann ich davon erzählen?“

 

c) Ich gehe in den Dialog mit dem NT

 

Während des Dialoges achte ich sehr genau darauf, ob wir noch bei dem Thema sind, das ich besprechen wollte, oder ob der NT das Gespräch mittels Tangentialer Kommunikation kapern will, um aus dem Gespräch ein ganz anderes zu machen.

 

Sobald der NT das Gespräch kapert, registriere ich das und entscheide, wie ich damit umgehen will.

Grundsätzlich habe ich dafür drei verschiedene Möglichkeiten:

 

1.    Ich konfrontiere den NT

2.    Ich lasse ihn gewähren und führe das Gespräch behutsam auf die ursprüngliche Thematik zurück

3.    Ich lasse ihn gewähren und schweige

 

Ich will das an Beispielen erläutern:

 

1

Ich konfrontiere

 

Stiller: „Wenn wir diese Reise planen, dann müssen wir mindestens 20 Minuten Pufferzeit am Bahnhof einplanen, weil das ziemlich dauern kann, bis wir eine Fahrkarte bekommen.“

NT: „Ja, Puffer sind klasse. Wir sollten aber auch daran denken, Crêpes einzupacken.“

Stiller: „Das ist Moment nicht das Thema. Wir sind noch dabei, die Zeit zu planen, die wir am Bahnhof brauchen werden.“

 

2

Ich lasse ihn gewähren und führe das Gespräch auf das ursprüngliche Thema zurück:

 

Stiller: „Wenn wir diese Reise planen, dann müssen wir mindestens 20 Minuten Pufferzeit am Bahnhof einplanen, weil das ziemlich dauern kann, bis wir eine Fahrkarte bekommen.“

NT: „Ja, Puffer sind klasse. Wir sollten aber auch daran denken, Crêpes einzupacken.“

Stiller: „Was würdest du denn sonst noch gerne zu essen mitnehmen?“

NT: „Wir müssen unbedingt auch an Wasser denken. Weißt du noch, wie ich letzte Mal so Kopfschmerzen bekommen habe, weil ich zu wenig Wasser getrunken habe?“

Stiller: „Ja, ich erinnere mich. Dann schreib‘ noch Wasser auf die Liste.“

NT: „Und Kekse. Ohne meine Salzkekse fahre ich nicht.“

Stiller: „Ja klar. Dann schreib‘ die noch dazu.“

NT: „Beim Thema Salz fällt mir noch ein: Wir brauchen noch Salz für die Spülmaschine. Da müssen wir unbedingt dran denken.“

Stiller: „Ja, lass uns auch das festhalten. Ich würde mit dir aber gerne nochmal auf die Zeitplanung zurückkommen. Ist es grundsätzlich für dich ok, wenn wir 20 Minuten Pufferzeit am Bahnhof einplanen?“

 

3

Ich schweige.

(Hier braucht es kein Beispiel. Der NT plappert assoziativ drauflos, und ich lasse ihn gewähren).

 

 

Zusammenfassung

An alle AS da draußen:

 

Wenn ihr mit NTs kommuniziert, dann müsst ihr darauf gefasst sein, dass sie im Gespräch sehr häufig das Thema wechseln. Meistens tun sie das mit einer Technik, die „Tangentiale Kommunikation“ genannt wird.

 

Meistens tun sie das, weil es ihnen zu mühsam oder unangenehm ist, beim Thema zu bleiben. Immer wieder tun sie das, um im Gespräch auf robuste und nachdrückliche Weise eigene Themen unterzubringen.

 

Wenn ihr also das Gespräch mit einem NT sucht, dann

a)     Macht euch vor dem Gespräch klar, was ihr mit diesem Gespräch eigentlich erreichen wollt.

b)     Klärt, ob der NT jetzt überhaupt bereit für ein Gespräch ist.

c)     Klärt, ob der NT jetzt bereit für dieses Gespräch ist.

 

Seid im Gespräch aufmerksam und registriert die Versuche des NTs, das Gespräch zu kapern. Wenn ihr das nicht registriert und stillschweigend akzeptiert, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass dieses Gespräch nicht mehr fruchtbringend für euch ist und dass eure Funktion im Gespräch nur noch die ist, den NT emotional und sozial zu betanken.

 

Wollt ihr von dem Gespräch etwas haben, dann registriert die Kaperung des NTs und konfrontiert ihn damit oder lenkt das Gespräch behutsam wieder auf das ursprüngliche Thema zurück.

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Kommentare: 1
  • #1

    NeoSilver (Montag, 25 April 2022 09:45)

    Hallo Stiller,

    das sind gute Hinweise, welche du am Ende zusammengefasst hast.

    zu "b) Klärt, ob der NT jetzt überhaupt bereit für ein Gespräch ist." und "c) Klärt, ob der NT jetzt bereit für dieses Gespräch ist."

    Nun habe ich nicht so viele Gespräche mit nahestehenden und nicht nahestehenden Menschen um daraus etwas zu generalisieren aber dennoch ist mir aufgefallen, dass die Antworten auf b) und c) teilweise nicht ehrlich ist.

    Ich bin mir nicht sicher aus welchem Grund diese Menschen manchmal unehrlich antworten.

    Entweder kann ich meiner Zielstellung nicht klar genug Ausdruck verleihen, bin nicht autoritär genug oder werde schlicht nicht ernst genommen.

    Oder diese Menschen sehen in egal welcher Fragestellung einen Start eines Gespräches, welches auf kurz oder lang auf Ihre Bedürfnisse umgelenkt werden kann.

    Eventuell aber antworten sie auch aus unbehagen oder sozialem Antrieb unehrlich.
    In der Form, dass sie eine Zuneigung ausdrücken wollen aber sich der Kosten (Aufmerksamkeit) dafür nicht richtig bewusst sind.

    Die letzte mir einfallende Möglichkeit wäre in etwa das, was du oft beschreibst.
    So sind die meisten Menschen in dieser Welt nun einmal. Es ist keine Boswilligkeit sondern ein eingeprägter Mechanismus.
    Dann sind sie zwar ehrlich, können aber im Verlauf einfach nicht anders handeln.

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    Abschließend möchte ich aber noch einen Hinweis für eine Gesprächsführung mit einem Autisten geben.
    Ich bin mir bewusst das ich als Autist auch nicht leicht in der Gesprächsführung bin.

    Die typische zwanghafte Persönlichkeit oder deren Anteile davon in einem Autisten sorgen auch dafür das Gespräche zu lang, zu monologisiert und im Endeffekt zu anstrengend für einen Nichtautisten sein können.
    Auch die Neigung zur Klärung eines Problemes, die Unfähigkeit ein Ende einzusehen oder zu erkennen wann eine Gesprächsweiterführung unsinnig ist, kann uns respektive mir vorgeworfen werden.

    Aber bitte bitte seid doch einfach ehrlich zu uns.
    Auch wenn es schwer fällt, ist es mir viel lieber zu hören das Jemand keine Zeit oder keine Lust mehr auf ein Gespräch oder Thema hat, als meine Energie für etwas auszugeben, was keinen Zweck mehr erfüllt.