Pferd und Fliege

Sich Ziele zu setzen (neudeutsch: Goalsetting) ist eine der ganz wenigen Motivationstechniken, die nachweislich funktionieren. Wissenschaftlich arbeitende Psychologen haben dazu in den letzten Jahrzehnten weltweit tausende Untersuchungen und Experimente durchgeführt – alle mit dem selben Ergebnis:

 

Wer sich in seinem Leben Ziele setzt – egal, ob große oder kleine -, der erreicht erheblich mehr als jemand, der sich keine Ziele setzt.

 

Natürlich müssen diese Ziele spezifischen Anforderungen genügen, um die Ressourcen mobilisieren zu können, die in einem Menschen sind. Sie müssen messbar, spezifisch, akzeptiert … und so weiter sein. Wer sich für die Details des funktionierenden Goalsettings interessiert, der sei an das Internet verwiesen. Wer bei Google „goal setting theory“ eingibt, der kann sich unter 612.000.000 Ergebnissen was aussuchen.

 

Ich habe mich mit dieser Theorie im Hauptstudium (Arbeitspsychologie) rauf und runter vertraut gemacht – Vorlesungen, Seminare, Projekte, Übungen, Prüfungen … Goalsetting hier, Goalsetting da.

 

Und es stimmt:

Es funktioniert.

Wenn du im Leben etwas erreichen willst, dann kommst du mit Goalsetting wesentlich schneller und mit deutlich weniger Energieaufwand voran, als wenn du dir keine Ziele setzt. Und selbst das, was am Anfang völlig unerreichbar zu sein scheint, kann realisierbar werden, wenn du dir die richtigen Ziele setzt.

 

Jo.

 

Und seitdem wir das wissen, leben wir alle glücklich und zufrieden …

Wir brauchen uns nur die richtigen Ziele zu setzen.

 

Nein, ganz so ist es nicht.

Und darüber will ich heute schreiben.

 

Auch hier gilt:

Dieser Text bildet nur meine Erfahrung und meine Meinung ab.

Jeder darf eine andere haben.

 

Und los geht’s!

 

 

Als ich 16 Jahre alt war, nahm ich von einem auf den anderen Tag mein Leben in die eigene Hand. Regelmäßige Leser meines Blogs wissen: In meinem Leben gab es schon immer sehr viel zu tun. So, wie es war, konnte es auf gar keinen Fall bleiben. Also fing ich mit 16 an, die Dinge anzupacken.

 

Umgehend entwickelte ich eine Technik, die mit Goalsetting vergleichbar war.

So wurde mir zum Beispiel sehr schnell deutlich, dass ich Freunde brauchte, wenn ich überleben wollte. Ich hatte keinen einzigen und auch noch nie einen gehabt. Also setzte ich mir das Ziel:

Bis Ende des Jahres habe ich drei Freunde.

 

Als ich an die Umsetzung ging, stellte ich fest, dass man Gespräche führen musste, um Freunde zu gewinnen. – Irgendwie musste ich die Menschen ja ansprechen. Aber ich hatte keine Ahnung, wie man das machte.

 

Also entstanden Unterziele:

Bis dann und dann habe ich gelernt, wie man ein Gespräch führt – was sagt man als erstes, als zweites, als drittes, was sagt man danach?

Bis dann und dann habe ich gelernt, was ein Gespräch unter Freunden von einem normalen Gespräch unterscheidet.

Und so weiter.

 

Wie man andere Menschen anspricht, guckte ich mir in der Schule bei den Mitschülern ab. Daheim machte ich mir dann zu meinen Beobachtungen Notizen und übte danach fleißig in Rollenspielen mit mir selber.

Wie man Gespräche unter Freunden von normalen Gesprächen unterschied lernte ich, indem ich die Leute befragte.

Und so weiter.

 

Ich kann euch versichern, dass ich in den nächsten Jahren eine Fülle von Zielen entwickelte, die ich alle erreichen musste, wenn ich irgendwie überleben wollte. Jedes Ziel, das ich mir gesetzt hatte, zergliederte sich in zahlreiche Unterziele. Und jedes dieser Ziele und Unterziele mobilisierte und entwickelte optimal meine Ressourcen – Goalsetting funktioniert. Ohne das hätte ich nicht überlebt. Nicht mal ansatzweise hätte ich überlebt.

 

Ich war sehr engagiert und diszipliniert bei der Umsetzung dessen, was ich mir vorgenommen hatte. Das war schon immer so. Irgendwann wurde ich mal darauf angesprochen und sagte spontan:

„Disziplin ist mein zweiter Vorname.“

Wenn ich irgendwas will, dann will ich das.

 

 

Aber …

 

Viele Jahre später lernte ich von einem ehemaligen Bundeswehrsoldaten:

„Erfolg kann man nicht befehlen.“

Und da ist schon was dran.

 

Ich wollte schon immer ein

a) glückliches

b) erfülltes und

c) zufriedenes

Leben leben.

 

Und speziell Zufriedenheit schien alles andere auszustechen: Was könnte ein besseres Lebensziel sein als Zufriedenheit? Wenn ich zufrieden bin, dann habe ich doch alles erreicht, was ich erreichen kann.

 

Aber was für Ziele soll ich mir setzen, um das zu erreichen?

In meinem Leben stieß das Goalsetting hier sehr spürbar und sehr eindeutig an seine Grenzen.

Ich wollte mich nicht immer so schlecht fühlen. Ok. Ich wollte zufrieden sein. Ich fand, dass das ein sinnvolles Ziel war. Aber was für ein Ziel sollte ich mir setzen?

„Ich will ab jetzt zufrieden sein“?

„Ab jetzt soll es mir gut gehen“?

 

Ich geriet mal wieder in eine Krise.

 

Jahre später stieß ich auf einen Menschen, der mir recht aufdringlich versicherte:

„Ich habe den Schlüssel zu deinen Problemen!“

Ich kannte diesen Menschen nicht.

Dieser Mensch kannte mich nicht.

Aber er war in der Psychoszene unterwegs und vermarktete sich mit einem ziemlichen Sendungsbewusstsein.

Ich antwortete ihm spontan:

„Der Schlüssel ist nicht mein Problem. Schlüssel habe ich dutzende. Mein Problem ist: Ich kann das Schloss nicht finden.“

 

Wenn wir einfach durch Willensstärke und Konsequenz zufrieden sein könnten, dann wären wir vermutlich alle schon ein großes Stück weiter. Wenn Disziplin und Tatkraft zuverlässig dazu führen würden, dass es einem gut geht, dann wäre der Weg zum Paradies offen, klar und deutlich.

Es ist also ein bisschen so, als hättest du ein wirklich einmalig scharfes Brotschneidemesser, das so ziemlich alles schneiden kann, was es gibt. Es wird nie stumpf, ist unglaublich stabil und stellt sich auch von selbst in die Spülmaschine. Aber davon hast du immer noch kein Brot.

 

Ja, und jetzt?

 

Natürlich sind schon andere vor mir auf eben dieses Problem gestoßen. Und es gibt unglaublich viele Meinungen und Ansichten zu diesem Thema – zahlreich wie die Sterne am Himmel. … Vermutlich haben alle diese Menschen auf ihre Weise und aus ihrer Sicht auch völlig recht.

 

Aber in meinem Leben zählt das alles nicht. Davon, dass irgendwelche Gurus, Weisen, Experten oder Welterklärer recht haben, wird mein Leben nicht besser.

 

„Freiheit!“ sagen die einen. „Du musst dich frei machen. Lass alles hinter dir …“.

 

„Aufgabe!“, sagen die anderen. „Du brauchst eine Aufgabe.“

 

„Glaube!“ verkünden die Religionskasper. „Gerade neulich habe ich noch mit Jesus telefoniert, und der hat mir versichert …“ Die Götter, denen man folgen soll, sind so zahlreich! Und alle scheinen sie exakt so engstirnig, hartherzig und beschränkt zu sein wie die Menschen, die sich diese Götter ausgedacht haben und von ihnen erzählen. Aber vermutlich ist das alles nur Zufall …

 

„Technik!“ rufen die Machbarkeitsfanatiker. „Wenn du nur das richtige machst und tust (atmen, essen, schlafen, Sport, Yoga, denken, meditieren, Psychotherapie …)“

 

„Verzicht!“ schreien die neuen Heiligen. „Du musst verzichten! Kleide dich in vegane Lumpen, lebe in einem alten Schuhkarton, atme möglichst wenig und iss nichts, was einen Schatten wirft!“

 

Ja, und jetzt?

 

Wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) haben mal gelesen, dass im Tao Te King steht:

„Der Wissende redet nicht. Der Redende weiß nicht.“

 

Da kommen wir der Sache schon erheblich näher. Wir haben keine Ahnung, was das Tao Te King ist. Aber wir haben in unserem Leben festgestellt, dass alle, die davon erzählen, wie ein gelungenes Leben geht, nichts dazu beitragen können, dass uns unser Leben gelingt. All dieses Geschreibe, Geraune, Gerede und Geschrei wirkt auf uns wie ein kakophones Hintergrundgeräusch, das eher Teil des Problems als Teil der Lösung ist. Das gilt für uns und unser Leben. Wie das für andere und deren Leben ist, wissen wir nicht, und es interessiert uns auch nicht. Schon seit Jahrzehnten wissen wir dieses:

 

Alles, was wir wissen müssen, finden wir in unserem Herzen oder nirgends.

Wir lesen keine Bücher zur Lebensgestaltung und fragen in dieser Sache auch niemanden um Rat.

 

Alles, was wir wissen müssen, finden wir in unserem Herzen oder nirgends.

Also gucken wir da nach.

 

Was haben wir da gefunden?

 

1

Stille.

Ganz viel Stille.

Ohne Stille geht in unserem Leben gar nichts.

 

2

Nicht wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) führen, bestimmen und steuern unser Leben. Das tun andere Teile und Kräfte in uns für uns. Wo die herkommen und was die sind, das wissen wir nicht. Das ist aber auch nicht wichtig. Wir haben mal in einem anderen Zusammenhang gelesen, dass jemand diese Teile „Selbstheilungskräfte“ nannte. Wir fanden, dass das schon ein recht gelungener Name war. Aber Namen und Bezeichnungen sind für uns und in unserem Leben in dieser Hinsicht völlig unwichtig – sie kommen, sie gehen … wen interessiert’s?

 

3

Alles, was wir in unserem Leben tun können, um ein gelungenes Leben zu führen, ist, beiseitezutreten und diesen Kräften nicht mehr im Weg zu stehen. Je mehr wir ihnen reinreden und reinpfuschen, desto murksiger wird unser Leben. Sie wissen genau, was sie da tun, und wie sie das tun. Je mehr wir sie lassen, desto besser geht es uns und desto heiler werden wir.

Also treten wir beiseite.

 

4

Alles andere ergibt sich.

 

 

Und dass wir jetzt davon reden bzw. schreiben, beweist, dass wir genau so wenig Ahnung haben, wie ein gelungenes Leben geht wie alle anderen, die davon reden oder schreiben. Denn der Wissende redet nicht. Der Redende weiß nicht.

 

(Und unsere Kleinen kichern).

 

 

Epilog

 

Vor dem Hintergrund dessen, was wir in den letzten Abschnitten beschrieben haben, sehen und bewerten wir unser Leben zum Teil ziemlich neu. Früher dachten wir, dass wir unser Leben führen. Früher dachten wir, dass wir unser Leben steuern. Früher dachten wir, dass wir in unserem Leben bestimmen. Früher dachten wir, dass wir uns nur die richtigen Ziele setzen müssen, und dass mit Energie, Disziplin und Willenskraft so ziemlich alles zu meistern ist.

 

Aus einer bestimmten Perspektive betrachtet ist das ja auch alles nicht falsch.

 

Heute sagen wir, dass wir unser Leben im selben Maße führen und steuern wie eine Fliege, die auf dem Zaumzeug eines Pferdes sitzt, dieses Pferd führt und steuert. In unserem Leben sind Kräfte am Werk, die weitaus größer, mächtiger und stärker sind als wir selber. Unsere Aufgabe ist es, beiseitezutreten und diese Kräfte machen zu lassen, dann wird das schon.

 

Wir tun uns schwer damit, das so hinzuschreiben, denn jetzt werden sich alle halbgaren Esoteriker, Gottesknechte und Hallelujahschlümpfe bemüßigt fühlen, sich bestätigt zu sehen: Hallelujah, er hat auf den rechten Pfad zurückgefunden! Preiset den Herrn!

 

Preist euch selber. Nehmt eure merkwürdigen, grausamen, sadistischen und unmenschlichen Götter, die ihr euch ausgedacht habt, geht mit ihnen dahin zurück, wo ihr hergekommen seid und kommt nicht wieder. Ihr und wir, wir haben nichts miteinander zu schaffen. Und eure Engel, Geistwesen und all die anderen wohltemperierten Begleiterscheinungen eurer überreizten Fantasie, die nehmt ihr gleich mit.

Schon allein, dass ihr in einem Buch nachgucken müsst, was richtig ist und was nicht, beweist, dass wir uns nichts zu sagen haben.

 

Die Kräfte, von denen wir hier schreiben, sind in uns. Was das für Kräfte sind, wie sie da hingekommen sind, was ihre Natur ist, welche Motive und Ziele sie haben und wie sie wirken, das wissen wir zur Stunde nicht.

 

Wir sind eine Fliege auf dem Zaumzeug eines Pferdes, die bislang immer dachte, dieses Pferd zu lenken und zu steuern. Früher hat die Fliege diesem Pferd begeistert Ziele gesetzt, die Ziele in Unterziele zergliedert und mit viel Ausdauer; Energie und Disziplin geschaut, dass diese Ziele auch erreicht wurden. Jetzt ist diese Fliege erst mal damit beschäftigt, das Pferd zu beobachten und zu bestaunen.

 

Derweil geht das Pferd ungerührt seiner Wege – so wie immer.

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Kommentare: 1
  • #1

    kikkulade (Sonntag, 20 März 2022 21:23)

    Danke für diesen Text, Stiller :) Und viele Grüßchen, hihihi :)