Es ist schon ein paar Jahre her:
Ich war an irgendeinem Bahnhof unterwegs, und meinen Kleinen fiel auf einmal eine Frau auf, die beim Gehen ihr Handy in einer ganz merkwürdigen Form hielt.
„Was macht die da?“ wollten sie von mir wissen.
„Keine Ahnung. Sieht so aus, als wollte sie da gleich reinbeißen. Vielleicht hat sie Hunger.“
„Ja, als wäre ihr Smartphone ein Käsebrötchen.“
Meine Kleinen kicherten.
Wir schauten da ganz fasziniert zu. Die Frau hielt ihr Handy dicht vor das Gesicht. Gleichzeitig ging sie langsam durch die belebte Bahnhofshalle. Aber sie biss da nicht rein. Sie schien da reinzusprechen.
„Sie spricht mit dem unteren Ende von ihrem Smartphone?!“ fragten meine Kleinen verblüfft.
„Ja, sieht so aus. Keine Ahnung, was sie da macht.“
Neugierig geworden begannen wir in den folgenden Tagen, Erkundigungen einzuholen. Gleichzeitig fielen uns mehr und mehr Leute auf, die beim Gehen auf diese Weise ihr Handy vor’s Gesicht hielten und mit ihrem Handy redeten. Sie gingen, und sie redeten gleichzeitig. Sie konzentrierten sich weder auf das eine noch auf das andere. Dennoch sahen wir keinen, der dabei gegen eine Straßenlaterne lief oder mit einer anderen Person zusammenstieß.
Wir erfuhren, dass diese Menschen mit ihrem Handy Sprachnachrichten verschickten. Wir hatten keine Ahnung, was eine Sprachnachricht war. Wir ließen uns das erklären. Meine Kleinen machten große Augen: Leute verschickten Sprachnachrichten? Wozu?
Aber es gibt vieles im Verhalten anderer Menschen, was wir verstehen und interpretieren können, aber in keiner Weise nachvollziehen können.
Nehmen wir zum Beispiel die Selfies.
Wir wissen, was das ist.
Wir wissen aber nicht genau, auf welche Knöpfe man auf seinem Handy drücken muss, um ein Selfie zu machen. Man hält es sich halt irgendwie vor’s Gesicht, zieht eine Grimasse (das scheint sehr wichtig zu sein) und drückt dann auf irgendeinen Knopf. Wir haben in unserem ganzen Leben noch kein Selfie gemacht. Nach allem, was wir sehen können, wird das auch so bleiben. Wenn wir wissen wollen, wie wir aussehen, gucken wir eher in einen Spiegel als uns selbst zu fotografieren.
Aber wenn andere Menschen uns die Fotos zeigen, die sie auf ihrem Handy haben (und sie haben viiiiiiele Fotos auf ihrem Handy), dann sehen wir vor allem sie: Da stehen sie vor irgendeinem Sonnenuntergang, hier sind sie an irgendeinem Strand, hier ist im Hintergrund ein Event zu sehen – aber beinahe immer scheint es vor allem um sie selber zu gehen:
Sie können die Niagara-Fälle besucht haben, die Pyramiden, das Taj Mahal oder was auch immer – egal, welchen Wundern dieser Welt sie begegnen: Sie setzen ganz klare Prioritäten: Am wichtigsten auf dieser Welt sind sie selber. Das größte Wunder dieser Welt sind sie selber. Nichts fotografieren sie öfter als sich selber. Sie gehen irgendwohin, wo es ihnen gefällt und fotografieren das – und auf dem Foto sieht man vor allem sie. Sehr eigentümlich. Sind das auch die Menschen, die im Hintergrund immer winken, wenn irgendein Kamerateam in irgendeiner belebten Situation Aufnahmen macht, um von irgendwas zu berichten oder irgendwen zu interviewen? Schau her: Ich bin viel wichtiger als das, was da gerade läuft – schau mich an, nimm mich wahr!
Wenn ich mit meinen Kleinen im Hochgebirge bin, wollen sie manchmal Fotos machen. Dann fotografieren sie irgendwelche Bergpanoramen, die ihnen besonders gut gefallen. Und dann schauen wir uns an, was die anderen Menschen im Hochgebirge machen – zum Beispiel, wenn sie das Gipfelkreuz erreichen.
Es ist immer dasselbe:
Beinahe alle machen erst mal Fotos von sich selber, wie sie vor dem Gipfelkreuz stehen. Das machen sie in allen möglichen Posen und aus allen möglichen Perspektiven. Wir haben Menschen am Gipfel erlebt, die über 30 Fotos von sich selber machten.
Wie gesagt – das größte Wunder dieser Welt, das sind sie selber. Mit ganz großem Abstand sind sie selber das größte Wunder dieser Welt.
Wir sehen das.
Wir registrieren das.
Uns ist das aber völlig fremd.
In unseren Augen gilt dieses:
Das größte Wunder dieser Welt ist ganz sicher diese Welt. Wir selber sind nur ein ganz kleiner und unbedeutender Farbtupfer in dieser Welt.
Mit der Betonung auf „ganz klein“.
Mit der Betonung auf „unbedeutend“.
Wenn ich mit meinen Kleinen an einem Gipfel ankomme, dann sind wir manchmal mächtig stolz auf das, was wir alles geschafft haben und darauf, wie wir das geschafft haben. Ein Asthmatiker auf einem Hochgebirgsgipfel in über 3.000 Metern Höhe – da steckt häufig eine Geschichte dahinter.
Aber warum um alles in der Welt sollte ich mich vor diesem Gipfelkreuz fotografieren?!
Ich kann es tatsächlich in keiner Weise nachvollziehen.
Ich kann registrieren, dass für andere Menschen einer der Hauptgründe, so eine anstrengende Bergtour zu machen, ist:
Wenn ich oben bin, dann kann ich da ein Selfie von mir machen. (Und ich vermute sehr stark, dass sie die dann irgendwo auf den (a)sozialen Medien verbreiten werden).
Aber wozu?!
Was wird dadurch besser oder anders?
Wie gesagt – wir sind nicht in der Lage das nachzuvollziehen.
Mit den Sprachnachrichten verhält es sich genauso:
Wir haben noch nie eine aufgenommen oder versandt.
Wir haben noch nie eine bekommen.
Und nach allem, was wir sehen können, wird das auch so bleiben.
Wir beobachten und registrieren aber, wieviel Zeit und Energie die Menschen, denen wir begegnen, in Selfies und in Sprachnachrichten stecken. Das ist wirklich immens!
Im Lauf eines Jahres scheint der durchschnittliche Nutzer über 50 Stunden in Sprachnachrichten und Selfies zu investieren.
Das geht nun schon ein paar Jahre so.
Mir steht da kein Urteil zu.
Ich beobachte das nur und stelle dabei fest, dass mir das völlig fremd ist.
Ich beobachte aber auch gleichzeitig dieses:
Ich kann nicht feststellen, dass das Leben der Menschen, die Selfies machen oder Sprachnachrichten versenden, durch diese Tätigkeit besser geworden ist.
Sie wirken auf mich nicht glücklicher, zufriedener, heiterer oder gelöster als früher. Eher im Gegenteil – dieses Selfiemachen scheint oft etwas sehr Zwanghaftes an sich zu haben.
Ich habe nicht den Eindruck, dass ihr Leben runder, erfüllter und sinnvoller geworden ist, seit sie Selfies machen oder Sprachnachrichtenverschicken.
Natürlich kann ich mich irren, aber das sind halt die Schlüsse, die ich aus meinen Beobachtungen ziehe.
Und daraus ergibt sich logisch dieses:
Was immer sie da tun, wenn sie Selfies aufnehmen oder Sprachnachrichten versenden:
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sie dabei nicht das finden, was sie suchen sondern im Gegenteil ihre kostbare Lebenszeit vergeuden.
Aber vielleicht sehe ich das ja auch alles falsch, und diese Selfies und diese Sprachnachrichten haben einen ganz enormen und nachhaltigen Effekt auf ihr Wohlbefinden, der mir einfach nur entgeht.
Ist ja möglich.
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NeoSilver (Samstag, 26 Februar 2022 17:40)
Hallo Stiller,
ich vermute, dass Ziel dieser Nachrichten ist eine Zeitersparnis.
ABER das ist nur der vorgegebene Grund und nicht die Realität.
Die Realität ist wohl eher eine Erhöhung des sozio-emotionalen Austausches.
Jede Minute muss sich diesem Ziel gewidmet werden. Antworten können nicht warten, soziale Partner müssen immer sofort bedient werden.
Personen erwarten auch immer sofort bedient zu werden, ansonsten reagieren sie erboßt.
In einem Bericht wurde geschildert, wie viele dieser Menschen früh Morgens aufwachen, ihre Nachrichten (Twitter, Facbook etc.) anschauen und dies durchgehend, während der Arbeit, Schule und Freizeit, bis Abends durchführen, um am Ende des Tages wieder im Bett zu liegen und den Tag mit diesen Nachrichten zu beenden.
In einem Kontext mit diesen Menschen, kann ich die Aussage mirgegenüber verstehen, wenn Menschen behaupten, ich wäre von einem anderen Planeten.
In Bezug zu solchen Menschen glaube ich manches mal, dass es tatsächlich so ist.
Stiller (Donnerstag, 03 März 2022 08:11)
Danke für deine Nachricht.
Da ich nicht so viele Interviews zu diesem Thema geführt habe, ist einiges neu für mich.
Du schreibst:
"Antworten können nicht warten, soziale Partner müssen immer sofort bedient werden.
Personen erwarten auch immer sofort bedient zu werden, ansonsten reagieren sie erboßt."
Dem muss ich mal nachgehen. Das würde zu einem Paradigma passen, das ich seit einiger Zeit im Auge habe: Fortschreitende Infantilisierung.
Es scheint so zu sein, dass das zwanghafte Verhalten in Bezug auf Selfies und Sprachnachrichten bei manchen NTs deutlich ausgeprägter ist als ich durch meine Beobachtungen erkennen kann.
Vergleichbares erfahre ich bei Befragungen zum Thema "Instagramm".
Es scheint immer auf dasselbe hinauszulaufen:
1
Die NTs denken, dass ihr Leben besser wird, wenn sie dieses Zeug nutzen.
2
Ich kann aber in keiner Weise erkennen, dass ihr Leben dadurch besser wird.
3
Sie erkennen das offenbar auch. Das führt bei vielen NTs aber nicht dazu, dass sie ihre Zeit anders verbringen, sondern dazu, dass sie die Dosis und die Intensität laufend erhöhen.
Das erinnert mich dann oft an suchtartiges Verhalten.