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Zum Geburtstag viel Glück

Neulich hatte ich mal wieder Geburtstag. Ich guckte wie immer morgens in meinen Outlook-Kalender, um zu checken, was an diesem Tag für Aufgaben anfielen. Zufällig fiel mein Blick dabei auch auf das Datum. Und ich dachte nur:

„Ach, du liebe Güte - Geburtstag!“

Mal wieder dieses ominöse Datum! Die NTs werden wieder alle über mich herfallen. Volle Deckung – Kontaktaufnahme und Glückwünsche von vorn!

 

Und es dauerte nicht lange, und die NTs taten das, was sie nicht lassen können, auch wenn man sie oft und herzlich drum bittet. Davon, was an einem Geburtstag zu tun und zu lassen ist, haben sie so ihre ganz eigenen Vorstellungen. Und von denen kann sie offenbar nichts und niemand abbringen.

 

Ich überlegte derweil, wie ich denn in diesem Blog klar machen könnte, worum es mir bei meinem Geburtstag geht.

 

Und dieser Text hier ist dabei herausgekommen.

Ich lade euch ein, euch das mal anzuschauen.

 

 

1

Das ist jetzt schon fast zwanzig Jahre her. Meine Töchter waren noch klein, aber wir wohnten schon in diesem Hochhaus, in dem ich heute noch wohne. Es steht am äußersten Rand einer kleinen Stadt. Wiesen, Felder und Wälder liegen drumrum.

 

Es war ein sonniger Herbstmorgen, als ich draußen am Rand der großen Wiese einen ganzen Haufen Kinder sah. Die Kinder hatten irgendwas ganz aufregendes gefunden. Jedenfalls schrien sie sich beinahe in hysterische Ekstase. Ich ging hin, um sicherzustellen, dass niemandem eine Gefahr drohte. Als ich näher kam, sah ich meine beiden Töchter in diesem Haufen. All ihre Freunde schienen dabei zu sein.

 

Die Kinder hatten am Wiesenrand einen kleinen Igel gefunden. Ich sah sofort, dass er viel zu leicht war, um den Winter überleben zu können. Er hatte sich beinahe zusammengerollt und wirkte wie erstarrt unter all dem Geschrei. Als die Kinder mich sahen, ließen sie mich durch und schrien und hüpften weiter. Ich ging in die Hocke, um mit ihnen auf Augenhöhe zu sein. Es waren alles Kinder im Grundschulalter. Sie schrien zwar weiter, aber sie wurden auch leiser, weil sie neugierig waren, was ich jetzt sagen würde.

Ich sagte ihnen:

 

„Kinder, dieser Igel wird den Winter nicht überleben, wenn er nicht ganz viel zu fressen bekommt. Er muss viel schwerer werden, um den Winter zu überleben. Aber vor allem ist eins wichtig:

Ich dürft in seiner Gegenwart nicht schreien. Er fürchtet sich vor eurem Geschrei und kann daran sogar sterben. Wenn ihr ihm also was gutes tun wollt, dann seit vor allem leise.“

 

Ich hatte kaum geendet, als die Kinder sich den Igel anschauten und noch lauter und aufgeregter schrien als vorher. Keines rührte sich, um irgendwas für den Igel zu tun. Sie standen um ihn herum und schrien aufgeregt. Ich erhob nochmal die Stimme:

 

„Kinder, um Himmels Willen! Hört auf zu schreien! Ihr bringt den Igel um damit. Wollt ihr ihn töten?“

Sie guckten mich an und schienen nicht zu begreifen. Ich fuhr fort:

„Der Igel erlebt es als furchtbaren Stress, wenn ihr so um ihn rumsteht und schreit. An diesem Stress kann er sterben. Deshalb seid still, solange er in der Nähe ist.“

 

Die Kinder hörten meine Worte: Sie guckten mich an, sie guckten den Igel an. Und dann schrien sie genauso weiter wie vorher auch.

Traurig und wortlos stand ich auf und ging da weg. Ich ging wieder ins Haus. Kurze Zeit später informierte ich eine Nachbarin, die dafür bekannt war, dass sie sich sachkundig um Igel kümmerte.

 

Die Kinder hatten einen Igel gefunden. Das war etwas ganz sensationell aufregendes für sie. Sie waren leider in keiner Weise in der Lage, sich in den Igel einzufühlen. Es ging ihnen nur um sie und um ihre Bedürfnisse. Und sie waren total aufgeregt und mussten das rausschreien, sonst wären sie buchstäblich geplatzt. Das war ihr Bedürfnis. Wie es dem Igel dabei ging, und was seine Bedürfnisse waren, das war ihnen völlig egal. Sie waren eben Kinder.

 

 

2

Ich habe in der Vergangenheit sehr vielen Menschen sehr oft gesagt, dass sie an meinem Geburtstag vor allem eins tun sollen – mich in Ruhe lassen. Ich habe ihnen gesagt, dass ich meine Geburtstage nicht feiere, und dass ich da auch niemanden sehen oder sprechen will. Sie sollen mir bitte auch nichts schenken oder schicken.

Das sind meine Bedürfnisse.

Ich habe es ihnen oft gesagt. Schriftlich und mündlich. Viele, viele Jahre geht das nun schon so.

 

Und das erlebe ich an meinen Geburtstagen – zuverlässig:

 

a

Sie wollen mich anrufen. Also rufen sie mich an (und sprechen mir was auf die Voicemail).

 

Sie rufen mich an und wollen mich sprechen:

Das ist ihr Bedürfnis, nicht meines. Mein Bedürfnis ist es, an meinem Geburtstag in Ruhe gelassen zu werden. Aber ihnen geht es nur um ihre Bedürfnisse. Wie’s mir geht und was meine Bedürfnisse sind, das ist ihnen völlig egal.

 

b

Sie wollen mir was schenken. Also schenken sie mir was. Irgendwelchen Plunder – Bücher, Nippes, Staubfänger … das meiste schenke ich direkt weiter, den Rest schmeiße ich in den Müll.

 

Sie schenken mir was:

Das ist ihr Bedürfnis, nicht meines. Mein Bedürfnis ist es, an meinem Geburtstag in Ruhe gelassen zu werden. Aber ihnen geht es nur um ihre Bedürfnisse. Wie’s mir geht und was meine Bedürfnisse sind, das ist ihnen völlig egal.

 

c

Sie wollen Kontakt mit mir aufnehmen. Also schreiben sie mir Nachrichten. Ich darf mal zitieren:

 

„Geburtstage erinnern uns daran, dass die Zeit nicht stehen bleibt. Sie geben uns Anlass, zurückzublicken, uns an Erreichtem zu freuen und für die Zukunft neue Ziele festzulegen.

 

Lieber Stiller,

 

zu Deinem Geburtstag gratuliere ich dir ganz herzlich. Freude, Glück, Harmonie, Gesundheit, Lachen, Erfolg – alle diese Augenblicke wünsche ich dir für das nächste Lebensjahr.

 

Herzliche Grüße

[Name]“

 

Da steht in so wenigen Zeilen so viel Unsinn, dass es sich beinahe lohnt, einen eigenen Blogtext dazu zu machen. Aber mir geht es an dieser Stelle um folgendes:

 

Sie schicken mir also irgendwelche Sprüche aus dem Poesiealbum:

Das ist ihr Bedürfnis, nicht meines. Mein Bedürfnis ist es, an meinem Geburtstag in Ruhe gelassen zu werden. Aber ihnen geht es nur um ihre Bedürfnisse. Wie’s mir geht und was meine Bedürfnisse sind, das ist ihnen völlig egal.

 

d

Wenn sie besonders dreist sind, versuchen sie, sich bei mir einzuladen. Sie gehen selbstverständlich davon aus, dass ich feiere und Gäste habe.

Selbstverständlich, ich als Autist lade mir Gäste zu meinem Geburtstag ein – spielen wir das doch mal in Gedanken durch: Da kommen also Gäste in meine Wohnung und die werden – na? – was tun?

Ja, selbstverständlich – sie werden reden. Sie werden reden und reden und reden und reden und reden und reden und reden und reden und reden und reden. Und wenn es ihnen bei mir besonders gut gefällt, dann werden sie auch noch dafür sorgen, dass laute Musik läuft, damit ordentlich Stimmung aufkommt. Vielleicht tanzen sie sogar.

 

Ich kann den NTs hunderte Male sagen, dass ich Gäste und Partys so nötig brauche wie Fußpilz, es interessiert sie nicht.

Sie wollen feiern:

Das ist ihr Bedürfnis, nicht meines. Mein Bedürfnis ist es, an meinem Geburtstag in Ruhe gelassen zu werden. Aber ihnen geht es nur um ihre Bedürfnisse. Wie’s mir geht und was meine Bedürfnisse sind, das ist ihnen völlig egal.

 

e

Und so weiter.

Ich denke, das Muster ist klar geworden.

 

 

3

Eine Kollegin, mit der ich seit geraumer Zeit intensiv und recht harmonisch zusammenarbeite, sagte mir neulich:

„Ich glaube, dass wir alle irgendwo einfach nur geliebt werden wollen.“

Dann schaute sie mich an, schlug sich die Hand vor den Mund und sagte:

„Oh!“

Dann machte sie ein Gesicht wie ein verwundetes Reh und murmelte:

„Tschuldigung, damit wollte ich dir jetzt nicht zu nahe treten.“

 

In diesem Moment wurde mir dieses deutlich:

Die allermeisten NTs scheinen davon auszugehen, dass ich nicht geliebt werden will, weil ich alles, was sie als Ausdruck der Liebe verstehen, kategorisch zurückweise.

 

Dabei ist es recht simpel:

Selbstverständlich ist es mir wichtig, geliebt zu werden!

Aber beinahe alles, was mir als Ausdruck der Liebe angeboten wird, ist für mich unverdaulich, denn es geht dabei immer um die Bedürfnisse des anderen, nicht aber um meine.

 

Dass ich NTs als liebesfähig erlebe, kommt beinahe nie vor. Die meisten von ihnen halte ich für sehr fähig, anderen das zu geben, was sie in vergleichbarer Situation selber gerne hätten. Im Fall eines Geburtstages sind das halt Glückwunschkarten, Anrufe, Geschenke, Feiern, Partys, Sprachnachrichten, Luftschlangen und was weiß ich.

Aber wenn jemand all das nicht will, weil es ihm schadet – ja, was dann?

Dann wissen sie nicht mehr weiter.

Auch wenn ich ihnen klar und genau sage, was ich brauche und haben will – sie können ihr Verhalten nicht umstellen.

Sie sind also eher nicht liebesfähig, sondern im Gegenteil eher selbstsüchtig.

 

Ich erinnere mich an meine erste Therapeutin. Sie war die Ehefrau meines ersten Therapeuten. In der Gruppentherapie, die ich bei ihnen machte, tauchten sie immer im Doppelpack auf. Beide waren Ärzte. Beide arbeiteten in derselben Praxis.

Eines Tages erfuhr ich, dass der Therapeut ernsthaft krank geworden war und für Wochen ausfallen würde. Das war für mich eine ziemliche Katastrophe, denn das bedeutete für mich, dass ich außerplanmäßig über viele Wochen keine Therapie bekommen würde.

 

Ich rief also in der Praxis an und ließ mich mit derTherapeutin verbinden.

Aus ihrem routinierten Verhalten schloss ich, dass schon ganz viele Klienten vor mir angerufen hatten, um sich in dieser schwierigen Situation von ihr weiterhelfen zu lassen. Sie wollte gerade ihre flötende, tröstende und beruhigende Stimme aktivieren, als es mir gelang, sie dieses zu fragen:

„Was hat er? Woher kommt das? Wie lange dauert das?“

Für Sekundenbruchteile hielt sie inne. Dann schaltete sie sofort in einen anderen Teil von sich. Mit klarer, sachlicher und nüchterner Stimme beantwortete sie mir meine drei Fragen. Ich erfuhr von ihr, was ihr Mann hatte, woher das kam und wie lange das normalerweise dauerte.

Ich hörte kein Flausch, kein Flöt, kein Tröst, kein „Ach, du Armer!“

Ich bedankte mich bei ihr und legte auf.

 

Noch heute – weit über dreißig Jahre später – strahlt und leuchtet dieses Gespräch in mir: Ich fühlte mich derart geliebt, angenommen und verstanden!

Ich hatte ihr gesagt, was meine Bedürfnisse waren.

Sie hatte sich darauf eingestellt.

Sie hatte ihr Verhalten daran angepasst.

Sie hatte mir exakt das gegeben, wonach ich verlangt hatte und nicht das, was sie in vergleichbarer Situation selber gebraucht hätte.

Und sie hatte mir nur das gegeben, was ich haben wollte und sonst nichts.

Endlich einmal hatte ich mit meinen Bedürfnissen im Vordergrund gestanden.

Endlich waren meine Bedürfnisse mal wichtig gewesen!

Endlich hatte ich mal bekommen, wonach ich verlangte.

 

 

4

Wenn dieses gilt:

a) Ich dir sage, was ich in einer bestimmten Situation von dir haben will.

b) Das, was ich von dir will (lass mich in Ruhe) kannst du mir objektiv betrachtet sehr leicht geben. Es kostet dich buchstäblich nichts.

c) Du gibst mir stattdessen das, was du in vergleichbarer Situation selber brauchen würdest,

 

dann hat das mit mir oder mit Liebe herzlich wenig zu tun.

 

Du machst mich dann mit deinem Verhalten zum Gebrauchsgegenstand deiner Selbstsucht. Du nimmst mich dann nicht als Person wahr, sondern als Ressource, die ausschließlich zur Befriedigung deiner Bedürfnisse zu dienen hat.

 

Ich bitte dich um Verständnis, dass ich an meinem Geburtstag für sowas nicht zur Verfügung stehen will.

 

 

5

Für alle AS da draußen:

Ich wünsche euch, dass ihr an euren Geburtstagen exakt das bekommt, was ihr wollt und braucht. Und natürlich viel Glück.

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