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Wahrnehmung 2/2

(Ein Text für alle NTs da draußen)

 

Dieser Text ist die Fortsetzung des Textes, der letzte Woche hier erschien, und der der erste Teil dieses Textes ist, der aber nur die Fortsetzung des Textes der letzten Woche ist, der hier erschien, aber nur der erste Teil dieses Textes ist … (meine Güte, kann ich einen Unsinn zusammenschreiben! (Und meine Kleinen kichern. (Aber selbstverständlich tun sie das!))

 

 

5

Februar vor zwei Jahren. Ich bin im Hotel. Gegen 06:30 in der Frühe sehe ich, dass mein Chef versucht hat, mich telefonisch zu erreichen. So früh anzurufen ist sehr ungewöhnlich für ihn. Irgendwas dringendes muss vorgefallen sein. Ich rufe ihn sofort zurück.

Es ergibt sich dieser Dialog:

„Du hast an meiner Kette gerasselt?“

„Stiller, toll, dass du dich direkt meldest. Wo bist du grade?“

„Hannover, Coaching von Agentur [Name der Agentur].“

„Könntest du das auch verschieben?“

„Ich denke, das geht. Was liegt denn an?“

„Folgendes, Stiller: Wir haben in Frankfurt ja diese Azubischulungen. Jetzt ist aber der Trainer ausgefallen und der Ersatz ist krank. Alle anderen sind im Einsatz, könntest du ausnahmsweise übernehmen? Nur für heute. Für morgen würden wir schon jemanden organisieren.“

„Was für Azubis sind denn das?“

„Azubis, die für den Vertrieb ausgebildet werden. Ungefähr zur Hälfte Azubis aus unseren Agenturen, zur Hälfte Konzernazubis.“ [„Konzernazubis" sind Auszubildende, die direkt beim Konzern angestellt sind und bei uns zu Verkäufern von Finanzprodukten ausgebildet werden].

„Und was soll ich mit denen machen?“

„Irgendwas. Verkauf … Psychologie. Irgendwas.“

„Ich bin hier in Hannover aber auch im Einsatz.“

„Ja, aber „nur“ in einer Agentur. Sowas lässt sich viel leichter verschieben, als wenn du gleich ein ganzes Seminar absagen musst.“

„Stimmt.“

„Also machst du das?“

„Wer ist denn der Ansprechpartner in Frankfurt? Und wann soll ich da sein?“

„Ansprechpartnerin ist die Frau [Name]. Die kennst du ja auch.“

„Ja, die kenne ich. Mit der arbeite ich gerne zusammen.“

„Siehst du! … Also pass auf – ich funk‘ die mal kurz an, und sag‘ ihr, dass du heute übernimmst. Und du fährst dann in aller Ruhe runter nach Frankfurt. Die Nummer von ihr hast du, oder soll ich die dir nochmal geben?“

„Nein, die hab‘ ich. Aber wann fangen die denn normalerweise an?“

„Um 09:00 glaube ich.“

„Ich fahr‘n Auto, das‘n ziemlichen Bumms hat, aber fliegen kann ich auch nicht.“

„Nein, mach‘ dir da mal keine Sorgen. Ich ruf‘ die an und erklär‘ ihr die Lage und sag ihr, dass du was später kommst.“

 

Wir klären noch ein paar sachliche Details, dann schau ich, dass ich rasch aus dem Hotel auschecke und auf die Autobahn komme. Ich weiß, dass ich zwischen Göttingen und Kassel über weite Strecken das Gaspedal bis in die Ölwanne treten kann (vulgo: kein Tempolimit) – vielleicht komme ich ja doch noch rechtzeitig.

 

Bis Kassel geht die Fahrt zügig voran. Ich bin guter Dinge.

Als ich Kassel erreiche, sehe ich, dass hier in der Nacht eine Schneefront durchgezogen ist. Und kurz hinter Kassel stehe ich in einem schneebedingten Stau.

Ich informiere mit dem Handy die Ausbildungsleiterin in Frankfurt über die Situation.

Die sagt:

„Kein Problem, Herr Stiller, wir haben den Azubis Aufgaben gegeben und ihnen gesagt, dass Sie etwas später kommen werden.“

 

Der Stau löst sich nach einer halben Stunde wieder auf, aber es geht nur recht zäh weiter. Hier führt die Autobahn in ziemlicher Höhe durch die Landschaft, und immer wieder ist die Autobahn kilometerlang schneebedeckt. Ich bin ein – vergleichsweise - geübter und sicherer Schneefahrer, und Schnee auf der Fahrbahn schockt mich nicht. Aber es reicht ein einziger Autofahrer vor dir, der unsicher im Schnee ist oder die falsche Bereifung hat, und der ganze Verkehr kommt zum Erliegen.

 

Und so kommt es wie so häufig im Winter auf deutschen Autobahnen: Die Autobahn ist dreispurig, auf den beiden rechten Fahrspuren kommt der Verkehr fast zum Stehen, und auf der linken Spur liegt der Schnee unberührt mehrere Zentimeter hoch, und niemand traut sich da rein.

 

Ich steuere meinen Wagen auf die linke Spur und komme anfangs gut voran. Der Schnee ist recht hoch, aber meine Winterreifen sind recht neu, und mit 50 km/h voranzukommen ist allemal besser, als sich im Schritttempo durch das hessische Bergland zu mühen. Ein paar andere Unentwegte folgen meinem Beispiel, und in wirbelnden Schneefontänen kommt unser kleiner Konvoi ganz gut voran.

 

Dann merke ich, dass der Wagen anfängt, ins Schwimmen zu geraten: Unter dem Schnee ist die Fahrbahn vereist. So zu fahren ist deutlich schwieriger, und ich muss viel Tempo rausnehmen und darauf warten, bis ich wieder in Zonen komme, wo die Reifen durch den Schnee hindurch wieder einen guten Halt auf der Straße haben.

 

Aber das dauert.

Ich komme nur sehr langsam voran.

Das Fahren ist sehr mühsam.

Erst um 11:30 habe ich das Kirchheimer Dreieck erreicht. Bis nach Frankfurt sind es selbst bei besten Bedingungen noch ungefähr 60 Minuten. Aber Schnee und winterliche Bedingungen scheinen kein Ende zu nehmen. Und ich weiß, dass hinter dem Kirchheimer Dreieck die Autobahn lange zweispurig ist. Es kann Nacht werden, bis ich Frankfurt erreicht habe. Und richtig: Bald stehe ich wieder in winterlicher Landschaft und kann mir in aller Ruhe die schneebedeckten Bäume am Rand der Autobahn anschauen.

 

Ich informiere telefonisch die Ausbildungsleiterin in Frankfurt. Die hat immer noch kein Problem damit.

 

12:30. Sehr langsam rollt der Verkehr wieder an. So wird das nie was! Ich weiß, dass etwas weiter vorne der Rastplatz Pfefferhöhe kommt. Ich beschließe, dort eine ganz lange Mittagspause zu machen und in Frankfurt anzurufen, dass das heute leider nichts wird.

 

In diesem Moment befällt mich aber ganz plötzlich ein Gefühl großer Dringlichkeit: Ich muss heute auf jeden Fall nach Frankfurt! Um beinahe jeden Preis!

Ich kenne dieses Gefühl aus der Vergangenheit. Ich hab‘ das nur alle paar Jahre mal, aber ich weiß aus Erfahrung, dass ich so ein Gefühl nicht unbegründet habe. Ich muss also unbedingt nach Frankfurt – trotz Schnee und Eis und Stau. Keine Ahnung, wie ich das machen werde, aber das ist jetzt meine Aufgabe.

 

Die Ausbildungsleiterin aus Frankfurt ruft bei mir an. Sie empfiehlt mir, das ganze abzublasen und irgendwo zu übernachten. Ich sage ihr, dass ich auf jeden Fall kommen werde, dass ich nur noch nicht weiß, wann. Sie sagt:

„Ok, Herr Stiller. Die Azubis sind im Moment sich selbst überlassen, weil ich jetzt in einen Termin muss. Ich hab‘ ihnen gesagt, dass sie jetzt Mittagessen gehen sollen und um 15:30 nach Hause gehen können, wenn Sie dann noch nicht da sind.“

 

Faires Angebot.

Also los.

Ich muss nach Frankfurt!

Irgendwie!

 

Unter Umständen, die ich hier nicht näher ausführen will, gelingt es mir, das Durchschnittstempo, mit dem ich vorankomme, ganz erheblich zu erhöhen. Um 13:20 habe ich Frankfurt erreicht. Um 13:30 stehe ich im großen Schulungsraum. Es ist ein länglicher Raum. Ein fast 20 Meter langer Tisch beherrscht die Szene. So um die 20 Azubis fläzen irgendwo in der Gegend rum und strahlen durch ihr gesamtes Verhalten vor allem drei Dinge aus:

a)    „Ich hab‘ keine Lust!“

b)    „Ich hab‘ kein Interesse!“

c)    „Es ist alles so langweilig!“

Es wird in Smartphones getippt, ein paar Leute haben sich eine Bildzeitung geteilt, andere unterhalten sich in kleinen Gruppen.

 

Ich nehme erst mal kaum Kontakt mit den Azubis auf. Ich gehe zu dem Ende des Tisches, wo die Lehrperson zu stehen hat und stelle dort meinen Rucksack und meinen Moderatorenkoffer ab. Dann ziehe ich meine Jacke und meine Mütze aus und hänge sie irgendwohin.

 

Noch immer nehme ich keine Notiz von den Azubis, und das beginnt ihnen aufzufallen. Sie beäugen mich argwöhnisch und neugierig, wie ich meinen Laptop auspacke, mein Notizzeug zurechtlege und in meinem Moderatorenkoffer herumkrame.

 

Als ich damit fertig bin, schaue ich schweigend in die Runde. Aufsässigkeit und „Lass uns bloß in Ruhe!“ strahlt mich an. Ich sage nichts. Ich gucke. Ich nehme wahr. Eine junge Frau ergreift die Initiative:

„Wir dürfen um 15:30 gehen!“ sagt sie mir. Die anderen schweigen.

Ich schaue auf die Uhr, die an der Seitenwand hängt. Es ist ungefähr 13:35.

 

Ich schaue wieder schweigend auf die Azubis.

„Um 15:30!“ wiederholt die Frau.

Da beschließe ich, was zu sagen. Ich wende mich an die gesamte Gruppe:

„Ich glaube, Sie verwechseln hier was. Das hier ist nicht Schule, das hier ist Erwachsenenbildung. Und ich bin nicht hier, um heute mit Ihnen Schule zu spielen, sondern um mit Ihnen ins Gespräch zu kommen.“

 

Schweigen. Die abwehrende Körperhaltung der Azubis beginnt sich stellenweise zu lösen. Also spreche ich weiter.

 

„Ich weiß nicht, ob Sie wissen, wer ich bin. Aber ich kann Ihnen sagen, dass ich normalerweise nicht mit Azubis zusammenarbeite. Das tue ich nicht, weil Sie so schlechte Menschen sind oder uns nichts wert sind. Aber ich bin auf meinem Gebiet ein Experte, und ich bin der einzige dieser Art bei [Name des Konzerns]. Und deshalb bin ich restlos ausgebucht. Sie haben heute die Chance das Wissen zu bekommen, das normalerweise nur unsere Spitzenagenturen bekommen oder unsere Spitzenführungskräfte. Sie können diese Chance nutzen oder sie können weiterhin Schule spielen. Das ist Ihre Entscheidung.“

 

Es kommt ganz erheblich Bewegung in die Azubis. Sie tuscheln, sie schauen sich fragend an. Die Bildzeitung verschwindet, die Smartphones werden weggelegt. Ich schweige. Ein mutiger junger Mann ergreift die Initiative:

„Was können Sie denn?“ will er wissen.

 

Ich nehme einen dicken Filzstift und gehe damit zu einem Flipchart, das bei mir am Kopfende des Tisches steht. (Ein Flipchart ist so eine Art übergroßer Notizblock, der auf einem Metallständer steht). Ich zeichne auf dieses Flipchart drei große Kreise, die so angeordnet sind wie das Logo der Firma Krupp. Dazu sage ich den Azubis:

 

„Meine Kompetenz erstreckt sich auf drei Bereiche: Führung, Verkauf und Psychologie.“

Ich schreibe diese Worte in diese drei Kreise.

„In keinem dieser Gebiete bin ich der beste – nicht mal im Ansatz. Es gibt viel bessere Psychologen als mich, es gibt bessere Führungskräfte und auch als Verkäufer bin ich vielleicht gut aber auf keinen Fall spitze. Aber wenn es um diese Schnittmenge geht: Führung, Verkauf und Psychologie – da macht mir vermutlich niemand was vor. Wenn Sie also Fragen haben, die in diese Schnittmenge passen – Führung, Verkauf und Psychologie, dann bin ich der richtige Ansprechpartner für Sie.“

 

Die Azubis schauen mich erwartungsvoll an. Offenbar erwarten sie, dass ich ihnen jetzt irgendwas ganz tolles erzähle. Aber ich hab‘ nichts tolles, was ich ihnen erzählen kann. So funktioniert meine Expertise nicht. Also sage ich ihnen:

 

„Ok, welche Fragen kann ich Ihnen denn beantworten?“

 

Die Azubis sind überrascht. Sowas sind sie offenbar noch nie gefragt worden. Anscheinend hatten sie tatsächlich gedacht, ich mach‘ den langen Weg, um ihnen dann irgendwelches ödes Zeug zu erzählen, dass weder interessant noch brauchbar ist. Aber wie gesagt – das hier ist nicht Schule, sondern Erwachsenenbildung.

 

Die Azubis beginnen aufgeregte Diskussionen untereinander. Sie werfen Fragen in den Raum. Es wird geschnattert, geredet, diskutiert. Von jetzt auf gleich organisiert sich hier eine Art Basisdemokratie.

Dann haben sie sich geeinigt und werfen mir ein ganzes Bündel von Fragen an den Kopf (Sprachbild). Ich schreibe sie alle auf das Flipchart.

 

„Ok“, frage ich die Gruppe, „welche Frage ist Ihnen denn am wichtigsten, oder womit sollen wir anfangen?“

Wieder wird aufgeregt diskutiert. Sie wollen diese Fragen alle beantwortet haben, aber sie bekommen eine Art Priorisierung hin.

„Gut“, sage ich ihnen. „Dann lasst uns mit der Frage starten, wie wir gut in ein Gespräch mit Kunden kommen und woran wir erkennen können, wie er angesprochen werden will. Und wenn wir damit durch sind, dann schauen wir uns an, welche von den Fragen hier (ich zeige auf das Flipchart) schon beantwortet wurden und welche noch offen sind. Ist das ok für Sie?“

Die ganze Gruppe nickt.

„Ok, dann ergibt sich aber noch eine Schwierigkeit: Das kann ich unmöglich bis 15:30 alles erklären. Dafür brauchen wir ein wenig Zeit. Wie sollen wir denn damit umgehen?“

 

Wir einigen uns darauf, dass die, die um 15:30 gehen müssen, gehen können, und dass der Rest selber entscheidet, wie lange er bleiben will.

 

Und so komme ich ins Gespräch mit den Azubis. Ich sage ihnen – jedem einzelnen – auf den Kopf zu, was er für eine Art von Kunde er ist, wie er angesprochen werden muss, damit er gut zuhören kann, und woran ich das erkannt habe. Wenn man weiß, wie’s gemacht wird, ist es ganz einfach, und ich irre mich nur sehr selten.

 

Ich berichte darüber hinaus aber auch von meinen Wahrnehmungsfähigkeiten, die andere nicht haben, damit nicht der falsche Eindruck entsteht, dass alles, was ich hier erzähle, irgendwelchen Konzepten oder Systemen entsprungen ist. Die Azubis sind begierig, Beispiele für meine Wahrnehmungsfähigkeiten zu hören, und so erzähle ich Anekdoten. Ich erzähle ihnen davon, wie ich in Menschen hineinsehen kann und welche Bilder dabei entstehen. Die Azubis sind Feuer und Flamme (Sprachbild). Sie wollen immer noch mehr wissen und noch mehr hören. Und plötzlich - von einer Sekunde auf die andere begreife ich. Es ist, als ob ein Vorhang weggezogen würde.

 

„Oh …!“ sage ich und starre für einige Sekunden ins Leere auf der anderen Seite des Raumes.

Schweigen.

Die Azubis sind mucksmäuschenstill.

Es dauert ein paar Sekunden, bis ich mich wieder gefangen habe.

Wie gehe ich jetzt mit dieser Situation um?

Ich entscheide mich für Transparenz und Wahrheit.

Und so sage ich den Azubis dieses – ich starre dabei weiterhin ins Leere auf der anderen Seite des Raumes.

Ich sage ihnen:

 

„Ich schaue jetzt ganz bewusst niemanden an. Aber unter Ihnen befindet sich ein Amokläufer. Die Bilder, die ich habe, sind ganz eindeutig. An der Art, wie Sie sich jetzt bewegen, sehe ich, dass die Person, die gemeint ist, ahnt, dass sie gemeint ist, sich aber noch nicht sicher ist. Ihnen allen hier droht im Moment keine Gefahr, aber dieser Mensch, von dem ich hier jetzt spreche, ist eine tickende Zeitbombe. Im Moment ist sie nicht scharf geschaltet, aber das wird in ein paar Monaten soweit sein.“

 

Ich schaue wieder in die Runde. Ich spreche weiter:

„Ich weiß noch nicht, wie ich damit umgehen werde. Aber da findet sich schon was. Nochmal: Ihnen droht akut keine Gefahr. Dafür verbürge ich mich. Aber ich kann das sehen, und ich werde nicht so tun, als ob ich das nicht sehen würde.“

 

Meine Versicherung, dass im Moment keine Gefahr besteht, kommt bei den Azubis an. Sie entspannen sich wieder, und wir können mit dem ursprünglichen Programm weitermachen – ich beantworte ihnen ihre Fragen.

 

18:00. Die Hälfte der Azubis ist schon gegangen, mit dem Rest bin ich noch im Gespräch. Aber ich stehe jetzt nicht mehr am Kopfende des Tisches, sondern habe mich zu den Azubis gesetzt. Und so sitzen wir alle am unteren Ende des Konferenztisches – sechs Azubis sitzen mir gegenüber, vier sitzen links von mir, drei sitzen rechts von mir. Sie fragen, ich antworte.

 

In eine Stille hinein fragt ein Azubi, der links von mir sitzt:

„Mit dem Amokläufer – haben Sie da mich gemeint?“

Der Azubi sitzt so, dass zwischen ihm und mir noch zwei andere Azubis sitzen. Ich schaue ihn nicht an. Ich sage:

„Ja, damit habe ich Sie gemeint.“

„Woher wissen Sie das? Das mit dem Amoklauf meine ich.“

„Ich kann es sehen. Woher die Bilder kommen, kann Ihnen leider nicht erklären. Ich weiß es selber nicht.“

„Ich fühl‘ mich schon mein ganzes Leben wie ein Kochtopf“, fährt dieser Azubi fort. Die anderen hören mit angehaltenem Atem zu.

„Mal ist mehr Druck auf dem Kochtopf“, berichtet der Azubi weiter, „mal weniger. Normalerweise habe ich das ganz gut im Griff. Aber seit einigen Monaten steigt das immer mehr. Und irgendwann explodiert das.“ Er ist ratlos. Er ist hilflos: „Und ich weiß nicht, was ich da machen kann.“

Ich schaue seufzend zu ihm rüber.

„Ja“, sage ich zu ihm, „ich weiß das alles. Aber sind Sie sicher, dass das ein Thema für diese Runde ist?“ Ich mache mit der rechten Hand eine Geste in die gesamte Gruppe.

„Wir vertrauen uns“, sagt der Azubi schnell. Die anderen Azubis nicken kräftig. Das überrascht mich.

„Auch in einer so schwerwiegenden Sache?“ frage ich ihn und die Gruppe.

Allgemeines Nicken.

Also gut.

„Wollen Sie denn, dass wir jetzt darüber sprechen?“ frage ich den Azubi.

Der nickt wortlos und kräftig.

Die anderen nicken auch.

 

Also erzähle ich das wenige, was ich theoretisch über Amoktäter und ihre Taten weiß. Das ist nicht viel. – Welche psychische Dynamik so einem Amoklauf zugrundeliegt, wie man als Persönlichkeit im Inneren aufgestellt sein muss, um zum Amoktäter werden zu können, was im Inneren des Amoktäters vorgeht – solche Sachen.

 

„Aber wo kommt denn das bei mir her?“ will der Azubi wissen. „Ich mein‘ – das war schon immer so, mein ganzes Leben.“

„Darf ich in Sie hineinschauen?“

Er ist überrascht und getroffen. Er denkt kurz nach.

„Ja“, sagt er dann mit Nachdruck.

Ich schaue kurz zu ihm hinüber, nicht mal eine Sekunde lang. Dann starre ich geradeaus vor mich in. Ich schließe die Augen. Ich sichte Bilder. Ich lege mir die Hände auf die Augen, um besser sehen zu können.

„Ihr Bein“, sage ich dann langsam „Ihr linkes Knie.“

„Was ist damit?“ höre ich die Stimme des Azubis. Ich habe die Augen immer noch geschlossen, die Hände liegen immer noch auf meinen Augen. Mein Kopf ist nicht in Richtung Azubi gewandt, sondern geradeaus – irgendwohin. Ich lasse mich in die Bilder versinken und spreche langsam weiter.

„Sie waren sechs oder sieben Jahre alt, da hatten Sie einen schweren Unfall mit dem Knie.“

Schweigen. Der Azubi denkt offenbar nach.

„Da war nichts“ sagt er dann in die Stille.

Ich entgegne:

„Wenn ich Ihnen sage, dass da was war, dann war da was.“

Er denkt nach und springt dann plötzlich fast von seinem Stuhl hoch:

„Da war ein Fahrradunfall, als ich sieben war. Ich bin ins Krankenhaus gekommen. Ich weiß nicht mehr, was es war, aber das Knie ist monatelang bandagiert gewesen.“

Ich habe immer noch die Augen geschlossen. Immer noch liegen meine Hände auf den Augen. Ich spreche mit ruhiger und dunkler Stimme weiter:

„Sekunden vor dem Fahrradunfall war etwas. Sie haben an etwas gedacht. An etwas altes. Sie haben dann erst mit der linken, dann mit der rechten Hand den Lenker losgelassen. Dann sind Sie gestürzt. Was war in den Sekunden vor dem Unfall? Was haben Sie erinnert?“

Stille. Schweigen. Ich habe weiterhin die Augen geschlossen und lasse mich in aller Tiefe durch meine Bilder gleiten. Ich höre die Azubis atmen. Dann höre ich wieder den Azubi links von mir. Er spricht sehr zögernd wie aus ganz weiter Ferne:

„Ich … ich hab‘ an etwas … an … an meine Mutter gedacht.“

„Ich weiß. Was haben Sie gedacht? Was war da?“

Stille. Atemgeräusche.

Der Azubi denkt nach.

„Ich weiß es nicht mehr“, sagt er dann resigniert.

Ich öffne wieder meine Augen und schaue zu ihm hinüber.

„Finden Sie diese Erinnerung“, sage ich zu ihm, „und Ihr Kochtopf wird nie wieder unter Druck geraten.“

Der Azubi denkt nach. Dann sagt er:

„Ich weiß nicht, was Sie da machen, aber es wirkt. Es ist jetzt deutlich weniger Druck auf dem Topf.“ Er wirkt erleichtert. „So gut war das schon seit Monaten nicht mehr.“

„Ich weiß“, sage ich ihm. „Das kann ich sehen. Aber ich mache gar nichts. Ich nehme nur wahr. Schon alleine, dass Sie sich erinnert haben, hat Druck von diesem Kochtopf genommen. Finden Sie diese Erinnerung und gehen Sie in sie hinein, und ich garantiere Ihnen, dass Sie Frieden finden werden. Frieden, den Sie in dieser Form noch überhaupt nicht kennen.“

Der Azubi denkt erneut nach.

„Und wie finde ich diese Erinnerung?“

„Da kann ich Ihnen keinen Rat geben. Ich kann Ihnen aber versichern, dass diese Erinnerung noch da ist – irgendwo in Ihrem Körper. Und es gibt Techniken, mit denen man an solche Erinnerungen rankommt. Aber die richtige Technik, die zu Ihnen passt, rauszufinden, das ist Ihre Aufgabe. Und auch, sich auf den Weg zu machen, diese Erinnerung zu finden – da kann die Technik noch so gut sein. Ich sag‘ Ihnen gleich – das kann Jahre dauern.“

„Das ist egal! Hauptsache, ich finde irgendwas.“

„Dann werden Sie finden, das kann ich Ihnen versprechen.“

Der Azubi wirkt sehr gelöst. Gelöster als ich ihn in den Stunden vorher erlebt habe. Auch den anderen Azubis fällt das auf. Sie sprechen ihn darauf an. Und in der nächsten halben Stunde dreht sich ihr Gespräch um das, was er gerade erlebt hat. Ich selber sitze schweigend unter den Azubis, höre zu und nehme wahr.

 

Es ist 19:30, als der Hausmeister kommt und uns mitteilt, dass wir jetzt gehen müssten. Die Azubis bedauern das sehr.

„Und wenn ich daran denke, dass wir alle um 15:30 gehen wollten“, sagt einer von ihnen.

 

Gemeinsam verlassen wir den Raum, dann trennen sich unsere Wege. Ich muss in Richtung Tiefgarage, sie müssen zum Bus. Ich wünsche ihnen viel Glück und dass es ihnen gut geht.

 

Als ich mich in der Tiefgarage ins Auto setze, denke ich nochmal darüber nach:

Es ist nur sehr selten, dass ich dieses überwältigende Gefühl von Dringlichkeit erlebe. Aber wenn ich es erlebe, dann weiß ich aus Erfahrung, dass es wirklich dringlich ist. Was immer dieses „es“, das da so dringlich ist, auch sein mag. Und vielleicht war heute mein Auftrag, den Zünder aus einem Amokläufer zu drehen – wer kann das schon wissen? Die Welt ist so groß, und ich begreife so wenig …

 

******

 

Ich will es an dieser Stelle mal dabei bewenden lassen. Diese Aufzählungen könnte ich noch fortführen und stärker ausdifferenzieren. Aber für einen groben Überblick sollte das hier reichen.

 

Ich habe über die Wahrnehmungsfähigkeiten, die ich hier beschreibe, hinaus noch Wahrnehmungsfähigkeiten, die nicht zuverlässig da sind. Aber wenn sie da sind, dann weiß ich, dass ich mich absolut auf sie verlassen kann. Dabei kann ich zum Beispiel durch zahlreiche Wände hindurch spüren, wie es jemandem geht – das kann ich auch über viele hundert Kilometer Entfernung.

Ich weiß, dass sich das sehr esoterisch anhört, aber daran kann ich auch nichts ändern. Ich nehme auf diese Weise nicht immer wahr, aber wenn ich so wahrnehme, dann weiß ich aus Erfahrung, dass diese Wahrnehmung absolut verlässlich ist.

 

 

Und jetzt, liebe NTs, schaut euch die Welt an, die ihr euch geschaffen habt. Die Welt, in der ihr euch so wohl fühlt. - Eure Krach-bumm-peng-knall-schepper-bunt-quietsch-blitz-leucht-lärm-flacker-Welt. Ich nehme mit geschlossenen Augen mehr wahr als die meisten von euch mit geöffneten Augen. Und wenn ich meine Augen öffne, dann muss ich sie sehr oft sofort wieder schließen, weil ich die Welt, die ihr geschaffen habt, einfach nicht ertragen kann.

 

Natürlich weiß ich, dass ihr nicht alle so seid. Auch unter euch gibt es sensibel Wahrnehmende – erinnert sei hier zum Beispiel an die HSPs. Aber diese NTs sind eine wirklich verschwindende Minderheit unter euch. Die abgestumpften und – verglichen mit mir – beinahe nichts wahrnehmenden NTs stellen die weit überwiegende Mehrheit. Und diese Mehrheit gestaltet die Welt, in der wir alle leben müssen.

 

Ich kann das alles nicht ändern, ich kann es nur registrieren und mich darauf einstellen. Dass ich zum Beispiel so häufig nachts im Freien unterwegs bin, liegt nicht etwa daran, dass ich die Nacht so unheimlich toll finde, sondern daran, dass die meisten NTs tagaktive Wesen sind. Wenn ich nachts im Freien unterwegs bin, dann kann ich ziemlich sicher sein, keinem von ihnen zu begegnen. Wenn dann welche da sind, leuchten sie mit ihren taghellen Taschenlampen alles aus, so dass ich sie schon von weitem sehen kann. Oder ihre Hunde, die aussehen wie kleine Christbäume flackern und blinken durch die Nacht, dass man es kilometerweit sehen kann. Und so kann ich ihnen recht zuverlässig ausweichen.

 

Und falls du zu NTs gehörst, die sich Expertenwissen über AS angeeignet haben und davon berichten, dass AS zu wenig Wahrnehmungsfilter im Kopf haben, dann lade ich dich ein, mal darüber nachzudenken, ob nicht das Gegenteil richtig ist und ihr NTs ein paar Wahrnehmungsfilter zuviel im Kopf habt.

 

Natürlich kann man sein ganzes Leben mit einer Schweißerbrille vor den Augen durch die Gegend laufen. Dann sieht man kaum noch was und braucht wirklich sehr intensive optische Reize, um überhaupt noch irgendwas wahrnehmen zu können. Und wenn man so sein ganzes Leben zugebracht hat, kann man auf die Idee kommen, dass es etwas ganz natürliches ist, die Welt durch eine Schweißerbrille zu sehen.

 

Analoges gilt natürlich für die auditive Wahrnehmung. Die meisten NTs, die ich erlebe, haben nicht nur Tomaten auf den Augen, sondern auch auf den Ohren (Sprachbild).

 

Man kann sich an so einen Zustand gewöhnen, keine Frage. Man kann sich so derart an seine Wahrnehmungsfilter gewöhnen, dass man glaubt, dass sei völlig normal und gut.

 

Man kann sich aber auch auf die Vermutung einlassen, dass es Menschen gibt, die ganz ohne Schweißerbrille rumlaufen und deren Ohren halbwegs offen sind. Und dass das nicht ein Mangel ist, sondern im Gegenteil ein ganz wunderbarer Reichtum sein kann. 

 

Ist nur so eine Idee, eine Anregung.

Ich lade euch ein, darüber nachzudenken.

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