Interessante Menschen

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, hält mich nicht für einen Autisten. Für was sie mich hält, das weiß ich auch nicht. Aber Autist?

 

Auf jeden Fall will sie sich nicht damit abfinden und startet häufig Versuche, aus mir einen NT zu machen bzw. mich zu typisch neurotypischen Veranstaltungen einzuladen. Zu Silvester war es mal wieder so weit.

 

Frau: „Ich bin für Silvester eingeladen zu Freunden.“

Stiller: „Das freut mich für dich. Ich wünsche dir, dass du eine schöne Zeit hast.“

Frau: „Du bist auch eingeladen.“

Stiller: (schweigt)

Frau: „Das sind zwei Ehepaare. So alt wie du. Manchmal ist auch noch der zwanzigjährige Sohn dabei.“

Stiller: (schweigt)

Frau: „Das wäre doch vielleicht was für dich.“

Stiller: (schweigt)

Frau: „Das sind sehr interessante Menschen.“

Stiller: (schweigt)

Frau: (schweigt)

Stille. Schweigen. Stille.

Stiller: „Woran erkennst du interessante Menschen? Wann ist ein Mensch interessant für dich?“

 

Und dann beginnt die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, zu erzählen. (Sie erzählt und erzählt und erzählt und erzählt). Der eine Mann ist Controller bei irgendeiner Unternehmensberatung, der andere ist Physiker. Sie weiß, wie sehr ich mich für Physik interessiere und versucht, mich darüber zu ködern. Sie schildert mir, wie intelligent und belesen diese Menschen sind.

 

Sie redet, schildert und erzählt und findet dabei kaum ein Ende.

Ich höre mir das an und schweige.

 

***

 

Interessante Menschen.

Gibt es sowas für mich?

 

Ja, ich interessiere mich für Menschen. Menschen sind mein ältestes Spezialinteresse. Ich habe das zu meinem Beruf gemacht und gelte in meinem Beruf als sehr erfolgreich. Und immer, wenn ich mich mit einem Menschen unterhalte, dann ist dieser Mensch in meinem Leben (neben mir), der wichtigste Mensch, den es auf der Welt gibt. Beruflich unterhalte ich mich stundenlang mit Menschen. Oder besser: Sie erzählen, und ich höre zu.

 

Aber dass ich von mir aus einen Menschen aufsuchen würde, um mich mit ihm zu unterhalten, weil er so interessant ist?

 

Fehlanzeige.

 

Interessante Menschen gibt es in meinem Leben nicht.

 

 

Der Beruf

Was du beruflich machst? – Warum sollte mich das interessieren?

Ja, du hast einen Beruf und du machst da ganz tolle Sachen. Und das ist auch sicher gut und schön und wichtig und richtig. Aber warum sollte ich mit dir darüber sprechen? Was habe ich davon, wenn ich das tue?

 

 

Meinungen, Überzeugungen, Ansichten

Deine Ansichten? Deine Meinungen? - Ich bin sicher, dass du randvoll bist mit Ansichten, Werthaltungen und Meinungen, die dir ungeheuer wichtig sind. Ich bin auch sicher, dass du fest davon überzeugt bist, dass diese Welt ein besserer Ort wäre, wenn nur mehr Menschen diese Ansichten und Meinungen beherzigen würden.

Aber in meiner Welt zählt das nicht. Wenn du irgendeine Meinung hast, dann schreib‘ sie mir auf, und ich schau dann, ob ich’s durchlesen will.

 

Ich kann mich erinnern, dass ich als junger Erwachsener im Kibbuz in der Fabrik arbeitete. Ich schraubte elektronische Bauteile zusammen. Der Jude, der mit mir zusammenarbeitete, fasste Vertrauen zu mir und sagte mir, dass er an einem Buch schreiben würde. Ich war erstaunt: An einem Buch?

Ja, versicherte er mir, an einem Buch. Er sagte:

„I believe I have a message.”

Ich war nicht interessiert.

 

Mein Leben ist angefüllt von Menschen, die felsenfeste Überzeugungen haben und ganz wichtige Meinungen und diese Meinungen unbedingt kundtun müssen. Buchstäblich Millionen von Meinungen umflattern und umrauschen mich. Alle werden sie mit geradezu missionarischem Eifer in die Welt gebracht. Auf allen Medien und über alle Kanäle: Meinung, Meinung, Meinung. Und Überzeugung selbstverständlich. Felsenfeste Überzeugung, um genau zu sein. Millionen Meinungen – zahlreich wie die Blätter in einem Buchenwald. Was macht deine Meinung so besonders? Warum sollte gerade diese Meinung interessant für mich sein? Was macht sie soviel besser und interessanter als alle anderen?

 

 

Intelligenz

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, betont immer wieder, wie wichtig es ihr ist, von intelligenten Menschen umgeben zu sein, und dass diese Menschen interessant für sie sind. Belesene Menschen. Menschen, die viel wissen.

 

Ach du liebe Güte.

 

Zum einen:

Ich bin Mitglied von Mensa. Das ist ein Verein, in den kommst du nur rein, wenn dein IQ nachweislich über 130 liegt. Ich könnte Kontakt zu buchstäblich tausenden intelligenten Menschen haben. Hab‘ ich aber nicht. Intelligenz macht Menschen für mich nicht interessant.

 

Zum anderen:

Zu meinem Kundenkreis gehören auch Menschen, die einen IQ von über 160 haben. Wenn die anfangen, loszudenken, dann habe ich keine Chance mehr. Mein Verstand mag überragend sein, ihrer ist aber überragender. Die fahren mit dem Auto, ich bin mit dem Tretroller unterwegs.

Neulich sagte mir einer dieser Menschen seufzend:

„Du hast ja gesagt, ich soll mal einen IQ-Test machen lassen. Aber ich glaub‘ das nicht.“

„Was glaubst du nicht?“

„Dass ich so intelligent bin.“

„Und was gibt’s da zu seufzen?“

„Naja, neulich war ich ziemlich krank – Fieber und so – und da habe ich den Test nochmal machen lassen.“

„Und? Was kam dabei raus?“

„Auch wieder über 160 (Seufzer)“

 

Und ob du belesen bist?

Ach du liebe Güte.

 

Ich gelte meiner Umwelt immer wieder als „Lexikon auf Beinen“, als „Unser Wikipedia“. „Frag Stiller“, hörte ich vor ein paar Jahren einen Kollegen zu einem anderen sagen, „der weiß alles.“ 

 

Ich kann mich erinnern, wie ich in der Universität zum ersten Mal in die Bibliothek kam. Ich war bis dahin nur Leihbüchereien in Großstädten gewohnt. Aber das hier war nochmal ein paar Nummern größer.

 

Ich war wie erschlagen. Ich war schockiert.

Und ich murmelte:

„Soviel kluge Sachen kann es gar nicht geben, dass man damit all diese Bücher füllen kann.“

 

Warum sollte es für mich interessant sein, dass du belesen bist?

Natürlich bin ich extrem neugierig und sauge neues Wissen auf, wo immer ich kann. Mathematik, Physik, Chemie, Geschichte, Archäologie, Geologie … es gibt viele Wissensbereiche, die mich brennend interessieren.

Aber wenn du zu all diese Sachen tausende Bücher gelesen hast und mir mit Brillanz davon berichten kannst, dann interessiere ich mich für dein Wissen. Doch das bedeutet nicht, dass du als Mensch für mich interessant bist.

 

Ich habe Kontakt zu Professoren. Und wenn ich die mit irgendeiner Frage anschreibe, dann können sie mir auch sehr schnell mit präzisen Informationen oder treffenden pdfs aushelfen. Aber keinen von ihnen finde ich als Menschen interessant.

 

 

Und so weiter.

Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, schilderte mir also wortreich, mit was für tollen und interessanten Menschen ich da zusammentreffen würde, wenn ich sie Silvester begleiten würde.

Und ich stellte fest:

Interessiert mich alles nicht. Ich bin lieber alleine, als mit solchen Menschen zusammen.

 

Und ich erinnerte mich an eine Begebenheit vor beinahe zwanzig Jahren. Es war an meinem Arbeitsplatz. Da sprach mich unsere Sekretärin an:

Sekretärin: „Du, ich hab’ gehört, du warst wieder mit der Claudia Mittagessen?“

Stiller: „Ja, ich war mit der Claudia essen. Woher weißt du denn das schon wieder?“

Sekretärin: „Sie hat es mir erzählt.“

 

Claudia arbeitete in einem anderen Gebäude. Wenn wir gemeinsam essen wollten, war das ein längerer Fußmarsch für einen von uns. Sie war verheiratet, Mutter von drei Kindern – eines davon körperlich und geistig behindert. Sie hatte Hauptschulabschluss. Ihr Mann hatte Hauptschulabschluss. Sie hatte wirklich nicht „Hier!“ geschrien, als die Intelligenz verteilt wurde. Sie arbeitete bei uns als Sachbearbeiterin der Registratur und heftete den ganzen Tag irgendwelche Sachen ab. Ob sie außer dem Telefonbuch überhaupt irgendwas las, wusste ich nicht. Und ganz nebenbei – einen Schönheitswettbewerb hätte sie auch nicht gewonnen.

 

Aber unsere Sekretärin war ein neugieriger Mensch. Sie war immer unser Informationszentrum – Datensammelstelle und Nachrichtenzentrale in einem. Und so hakte sie nach:

 

Sekretärin: „Was findste denn an der?“

Stiller: „Sie ist der weiseste Mensch, den ich kenne.“

 

Diese Claudia war so interessant für mich, dass ich immer wieder das Gespräch mit ihr suchte. Sie erzählte mir dann aus ihrem kleinen Leben und wie sie sich die Dinge so dachte und wie sie ihr Leben meisterte. Sie hatte es nicht leichter oder schwerer als andere. Aber sie hatte das Herz auf dem rechten Fleck (Sprachbild) und eine Art, die Dinge zu sehen und anzupacken, die mich inspirierte.

 

Später wurde sie dann an einen anderen Standort versetzt, der mehrere hundert Kilometer weit weg war. Wir haben uns dann nicht mehr gesehen.

 

 

Zusammenfassung

Es gibt tatsächlich nur eine einzige Sache, die erwachsene Menschen für mich interessant (oder uninteressant) macht:

Was hast du in deinem Leben bislang erlebt? und vor allem:

Wie meisterst du dein Leben?

 

Alles andere ist in meiner Welt nur schmückendes Beiwerk. Wie intelligent du bist, was du beruflich machst, welche besonderen Fähigkeiten du hast, wie erfolgreich du bist, was du gelesen hast, welche Besitztümer du angehäuft hast, was die Nachbarn von dir denken, wieviele Follower du hast, ob du mit dem Papst zu Mittag isst, was du für Ansichten und Meinungen hast – vollkommen irrelevant!

Damit will ich mich nicht beschäftigen müssen. Dafür ist mir meine kostbare Lebenszeit zu schade.

 

Wie meisterst du dein Leben?

Kann mich das inspirieren? Kann ich davon lernen?

Stehe ich staunend davor und sage nur:

„Ach …“?

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