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Wie mit einem Kind

Letztens sagte es die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, wieder einmal zu mir:

„Du redest mit mir wie mit einem Kind!“

Sie meinte das als Vorwurf. Das konnte ich an ihrer Stimmlage und ihrer Körperspannung ablesen. Aber was sie inhaltlich meinte, das musste ich mir wieder einmal aus dem Zusammenhang erschließen.

 

Wenn erwachsene Menschen einander sagen, jemand würde mit einem anderen Menschen reden, „wie mit einem Kind“, dann meinen sie das in aller Regel „abwertend“. - Jemand redet auf abwertende Weise mit einem anderen Menschen. Er redet mit jemandem,

a)     der ein bisschen blöd ist

b)     der kein vollwertiger Mensch ist

c)     den man nicht ernst nehmen muss mit seinen Zielen, Wünschen, Vorlieben, Abneigungen, Ängsten und so weiter.

 

So rede ich selbstverständlich nicht mit einem Kind. Und wenn ein erwachsener Mensch sowas tut, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass er wirklich ernsthafte Probleme mit sich selber hat. Vermutlich sollte er psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, denn er benutzt das Kind, mit dem er gerade spricht, als Seelenmülleimer. Und dazu sind Kinder nicht auf der Welt – dass wir unseren seelischen Müll bei ihnen abladen.

 

Mir fielen viele Situationen aus meinem Berufsleben ein:

 

1

Ich leite einen strategischen Workshop. Meine Aufgabe ist es, mit den Führungskräften eines Bereiches ein Konzept zu entwickeln, wie die nächsten drei Jahre gemeistert werden sollen. Es ist eine anstrengende, intensive Zusammenarbeit. Wir kommen gut voran.

In einer Mittagspause erzählt mir die Führungskraft, die mir am Tisch gegenübersitzt, ungefragt von ihren Kindern.

„… und das war schon bei unserem ersten Kind so: Als das neu auf der Welt war, hat es in der Nacht immer geschrien. Jede Nacht. Das muss man einfach überhören lernen. Und erst hab‘ ich es in der Nacht nicht mehr gehört, und dann hat es meine Frau irgendwann nicht mehr gehört. Und dann konnten wir wieder durchschlafen.“

 

Diese Führungskraft kam sofort auf die Liste der Menschen, mit denen ich nur den nötigsten Kontakt habe und dann ausschließlich auf beruflich-professioneller Ebene.

 

2

Ich habe mich bei der Arbeit nötigen lassen, zu irgendeiner Geburtstagsfeier eines Kollegen zu gehen. Ich stehe da mit vielen anderen Kollegen im Büro des „Geburtstagskindes“ und erlebe das alles als ziemlich vergeudete Zeit. Eine Führungskraft kommt mit einer Glückwunschkarte auf mich zu. Ob ich mich beteiligen wolle. Ich verstehe nicht und frage nach. Dann kommt dieser Dialog zustande:

Stiller: „Für was sammeln Sie denn?“

Führungskraft:

„Der [Name] ist doch jetzt zum ersten Mal Vater geworden. Und da wollen wir ihm eine kleine Aufmerksamkeit zukommen lassen. Jeder fünf Euro.“

Ich greife zum Stift und will unterschreiben. Die Führungskraft fährt fort:

„Wir schenken ihm einen Holzpfahl und ein fünf Meter langes Seil.“

Ich lasse den Stift sinken, ohne was geschrieben zu haben.

Stiller: „Wozu verschenken Sie denn das?“

Die Führungskraft lacht. Sie lacht auf diese typische Weise, in der NTs immer lachen, wenn es in Wirklichkeit gar nichts zu lachen gibt:

„Ja, der hat doch diesen großen Garten. Da kann er auf dem Rasen den Pfahl einschlagen. Den Hammer dafür haben wir ihm schon bei seinem letzten Geburtstag geschenkt. Da war seine Frau grade im zweiten Monat. Und mit dem Seil kann er dann das Kind da anbinden.“

Ich gebe der Führungskraft wortlos den Stift wieder zurück und gehe woanders hin.

 

An diesem Tag verlängerte sich meine Liste der Menschen, mit denen ich nur den absolut notwendigen Kontakt habe (und dann nur auf beruflich-professioneller Ebene), ganz erheblich.

 

3

Eine Spitzenführungskraft berichtet mir in einem Coaching-Gespräch von den Sorgen, die sie mit ihrem pubertierenden Sohn hat. Es entwickelt sich dieser Dialog:

Führungskraft: „Mein [Name] macht mir wirklich Sorgen.“

Stiller: „Wie macht er das?“

Führungskraft: „Er ist jetzt schon zum zweiten Mal sitzen geblieben.“

Stiller: „Und wie ist das für Sie?“

Führungskraft: „Furchtbar. Ich hab‘ ihm auch schon eine richtige Standpauke gehalten.“

Stiller: „Habe ich das richtig verstanden: Ihr Sohn bleibt in der Schule sitzen, und Sie schimpfen mit ihm?“

Führungskraft: „Ja.“

Stiller: „Und wenn Sie mit ihm schimpfen – wird er dann in der Schule besser?“

Führungskraft (lacht): „Nein, natürlich nicht.“

Stiller: „Und aus welchem Grund schimpfen Sie dann mit ihm?“

 

 

Ich erlebe das leider viel, viel zu oft, dass in meinem Umfeld Erwachsene mit einem Kind umgehen „wie mit einem Kind“. Das Kind ist für sie auf der Vorstufe zum Menschen und muss erst noch einer werden.

Die barbarische Gewalttätigkeit, mit der in den letzten Jahrtausenden mit Kindern umgegangen wurde, die werden wir nicht mal eben so in ein, zwei Generationen los. (Wer sich da ein differenzierteres Bild machen will, dem empfehle ich das Buch „Hört ihr die Kinder weinen?“ von Lloyd de Mause. Nicht alles, was in diesem Buch steht, hält kritischer wissenschaftlicher Überprüfung stand. Aber das ist unerheblich. Dieses Buch gibt einen sehr guten Einblick, was es in der Vergangenheit bedeutete, ein Kind zu sein).

 

In Wirklichkeit ist es aber so:

Jedes Kind ist eine vollständig eigene Persönlichkeit mit eigener Menschenwürde, eigenen Zielen, eigenen Wünschen, eigenen Vorlieben, eigenen Sehnsüchten eigenen Abneigungen, eigenen Nöten etc. Das gilt immer und überall.

 

Und natürlich höre ich sehr oft auch vom Gegenteil: Dass mir Erwachsene erzählen, sie hätten „kleine Tyrannen“ daheim. Das ist dasselbe.

 

Einschub

In der Psychologie gilt sehr häufig: „Teile und Gegenteile sind dasselbe.“ Beispiele:

 

1

Wenn du in deiner Kindheit Lebensverbote von deinen Eltern bekommst, die mit Geld zu tun haben, dann kannst du beschließen, geizig zu werden oder du kannst beschließen, verschwenderisch zu werden – Jacke wie Hose. Du bleibst den Lebensverboten gehorsam. Teile und Gegenteile sind dasselbe.

 

2

Wenn du in deiner Kindheit Lebensverbote von deinen Eltern bekommst, die die seelische Gesundheit betreffen, dann kannst du beschließen, seelisch krank zu werden. Du kannst aber auch beschließen, Psychiater zu werden – Jacke wie Hose. Du bleibst den Lebensverboten gehorsam. Teile und Gegenteile sind dasselbe.

 

3

Wenn du in deiner Kindheit Lebensverbote von deinen Eltern bekommst, die den beruflichen Erfolg betreffen, dann kannst du beschließen, beruflich vollkommen zu versagen und obdachlos zu werden. Du kannst aber auch beschließen, Vorstandsvorsitzender oder Multimillionär zu werden – Jacke wie Hose. Du bleibst den Lebensverboten gehorsam. Teile und Gegenteile sind dasselbe.

 

4

Und so weiter

 

Einschub Ende

 

 

Wenn du also dein Kind hasst und nicht für voll nimmst, dann kannst du mit ihm umgehen „wie mit einem Kind“. Du kannst es aber auch zum König und Tyrannen machen – Jacke wie Hose. Teile und Gegenteile sind dasselbe.

 

Ich kann nicht beurteilen, ob ich mit der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, geredet habe, „wie mit einem Kind“. Falls ja, dann bitte ich in aller Form um Entschuldigung. Wichtig ist mir an dieser Stelle jedoch vor allem, dass wir mit unseren Kindern stets so umgehen, wie sie es verdienen: Respektvoll und menschenwürdig und nicht „wie mit einem Kind.“

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Kommentare: 2
  • #1

    Peter (Sonntag, 26 Dezember 2021 16:26)

    Hallo Stiller.
    Dem kann ich voll zustimmen.
    Was hältst du eigentlich von der Umkehrung: Wenn jemand sagt: "Du benimmst dich wie ein Kind!" ?
    Die Abwertung dabei ist klar, ist es aber das gleiche Muster?
    Ich bin mir deshalb nicht sicher, weil einmal mit dem Kind einer selbst gemeint ist, das andere mal der andere.

  • #2

    Stiller (Sonntag, 26 Dezember 2021 23:04)

    "Du benimmst dich wie ein Kind" kann nach meiner Erfahrung verschiedene Bedeutungen haben:
    a) Du zeigst Gefühle.
    b) Du zeigst Schwäche.
    c) Du bist impulsiv.
    d) Du regredierst.

    Ich habe den Eindruck, dass dies ein anderes Muster ist als bei "Du sprichst mit mir wie mit einem Kind."