Jeder Mensch, der Teil einer Gemeinschaft ist, muss einen Preis dafür entrichten. Teil einer Gemeinschaft zu sein bedeutet immer auch Anpassung, Verzicht auf Individualität und zusätzliche Anforderungen.
Anpassung
Eine Gemeinschaft kann nur funktionieren, wenn der einzelne in einem gewissen Maße sein Verhalten an das anpasst, was in der Gemeinschaft verlangt wird. Gemeinschaft bedeutet also immer auch Verhaltensänderung.
Verzicht auf Individualität
Wenn eine Gemeinschaft funktionieren soll, dann muss der einzelne Teil dieser Gemeinschaft sein. Eine Ansammlung von Individuen ist genau das: Eine Ansammlung von Individuen. Aber sie ist eben keine Gemeinschaft. Gemeinschaft bedeutet also immer auch, dass ich – zumindest ein stückweit – jemand anderer bin, als der, der ich bin, wenn ich gerade nicht Teil dieser Gemeinschaft bin. Gemeinschaft bedeutet also immer auch Wesensänderung.
Zusätzliche Anforderungen
Der Erhalt einer Gemeinschaft ist immer ein energiefordernder Prozess: Die Menschen müssen was tun, damit die Gemeinschaft erhalten bleibt und sich weiter entwickelt. Mit anderen Worten: Jeder, der Teil einer Gemeinschaft ist, hat durch diese Gemeinschaft zusätzliche Anforderungen, die er nicht hätte, wenn er nicht Teil dieser Gemeinschaft wäre. Wege müssen zurückgelegt werden, Arbeiten müssen verrichtet werden, Kommunikation muss gestaltet werden. Und so weiter. Gemeinschaft bedeutet also immer auch zusätzlichen Energie- und Zeiteinsatz.
Den unbestreitbaren Kosten für die Teilhabe an einer Gemeinschaft steht immer ein Nutzen gegenüber. Wenn der Nutzen die Kosten übersteigt, dann ist es sinnvoll, Teil dieser Gemeinschaft zu sein.
Die möglichen Nutzen der Teilhabe an einer Gemeinschaft kann ich nicht so klar kategorisieren und strukturieren wie die Kosten. Deshalb will ich nur ein paar mögliche Nutzen auflisten, um zu zeigen, was ich meine:
- Gemeinsam Zeit verbringen, das Leben miteinander teilen
- Hilfe und Unterstützung in schwierigen Situationen
- Aufgehen in etwas Größerem, Entgrenzung
- Gemeinsam etwas verwirklichen, was ein einzelner nie hinkriegen würde
- Anregung zur eigenen Entwicklung
- Die Möglichkeit, andere zu fördern und zu unterstützen
- Und so weiter
Der Mensch ist grundsätzlich ein soziales Wesen. Hätte er nicht die Veranlagung und die Fähigkeit, sich in Gemeinschaften zu organisieren und in Gemeinschaft durchs Leben zu gehen, dann hätte er es nie auch nur bis zur Steinzeit geschafft. Wenn der freundliche Säbelzahntiger von nebenan vorbeischaut oder irgendwelche Krisen zu meistern sind, dann ist es für den Menschen von unschätzbarem Vorteil, zu mehreren zu sein.
Und dann gibt’s da auch noch uns, die Autisten. Wie passen wir in dieses Bild? Autisten gibt es vermutlich, seit es Menschen gibt. Sie sind evolutionär gesehen ein notwendiger Teil der Menschheit, sonst wären sie schon längst ausgestorben.
Einschub
Es gibt an dieser Stelle der Argumentation immer wieder NTs (oft Experten für AS und Autismus), die sagen, dass andere Krankheiten und Störungen auch nicht ausgestorben sind. Genannt werden dann oft Depression, Schizophrenie oder das Down-Syndrom.
Dem ist zu entgegnen, dass AS weder eine Krankheit noch eine Störung ist, sondern schlicht eine andere Art, in der Welt zu sein. Wenn ich höre, dass ich am Asperger-Syndrom leide, entgegne ich häufig:
„Nein, du leidest am Asperger-Syndrom, ich nicht. Du hast Schwierigkeiten damit, dass ich so bin, wie ich eben bin, ich nicht. Ich finde das Asperger-Syndrom richtig klasse und will auf keinen Fall ohne es sein. “
Darüber hinaus weiß ich nicht, ob Depression, Schizophrenie und das Down-Syndrom nicht auch einen evolutionären Vorteil für die Menschheit bieten. Wie hätte die Menschheit sich entwickelt, ohne Depressive, Schizophrene oder Menschen mit Down-Syndrom? Ich weiß es nicht.
Aber festhalten will ich an dieser Stelle:
Als Asperger-Autist bin ich nicht ein gestörter oder kranker Neurotypischer, sondern ein gesunder und völlig normaler Autist.
Wenn wir Asperger-Autisten also als eine spezielle Ausprägung oder Unterart des Menschen verstanden werden können, dann hat die Menschheit insgesamt einen evolutionären Nutzen davon, dass es uns gibt. Mit anderen Worten: Dass es uns gibt, hat das Überleben der Menschheit insgesamt wahrscheinlicher gemacht, vielleicht sogar erst ermöglicht.
Allerdings kann ich zur Stunde noch nicht abschließend sagen, was der evolutionäre Vorteil ist, den wir AS der Menschheit bieten. Ich habe zahlreiche Ideen, aber ich habe das noch viel zu wenig durchdacht.
Einschub Ende
Aber zurück zum Thema:
Die Menschheit konnte nur überleben, weil die weitaus meisten Menschen aus sich heraus dazu neigen, sich in Gemeinschaften zu organisieren und in Gemeinschaft durch’s Leben zu gehen.
Und wir Autisten?
Autisten neigen im Allgemeinen nicht so sehr dazu, sich in Gemeinschaften zu organisieren. Gemeinschaft (außerhalb des Internets) ermüdet die meisten Autisten sehr schnell, und sie brauchen dann (vergleichsweise) sehr lange Zeit alleine, um sich wieder zu erholen und fit zu sein für den nächsten Schwung an Gemeinschaftserlebnis. Verglichen mit NTs sind die meisten AS eher ungsellig.
Wollen die AS keine Gemeinschaft?
Können die AS keine Gemeinschaft?
Ich kann diese Fragen nicht beantworten. Ich kenne viel zu wenige AS, und ich habe viel zu wenige Untersuchungen bzw. Beobachtungen zu diesem Thema gemacht. Ich kann jedoch schildern, wie das mit mir ist:
Will ich keine Gemeinschaft?
Kann ich keine Gemeinschaft?
Ich will es zusammenfassend vorwegnehmen und anschließend erläutern:
Ich will Gemeinschaft.
Ich kann Gemeinschaft.
Gut. Wenn das so ist, wie kommt es dann, dass ich als ausgesprochener Einzelgänger lebe und Angebote für Gemeinschaft ausschlage, wo immer sie mir auch gemacht werden?
Wäre dieser Text ein Video auf YouTube, dann wäre jetzt vermutlich eine passende Gelegenheit, einen Werbetrailer einzuspielen. Aber zum Glück ist dieser Text ein Text, und als Autor verzichte ich weiterhin auf jede Form von Werbung in diesem Blog. Ich hoffe, dass Sie das zu schätzen wissen.
Mein möglicher Nutzen als Teil einer Gemeinschaft
Ich habe weiter oben mögliche Nutzen aufgelistet, die man hat, wenn man Teil einer Gemeinschaft ist. Wie sieht das bei mir aus?
Gemeinsam Zeit verbringen, das Leben miteinander teilen
Wer das Leben mit mir teilen will, wird permanent mit sich selbst konfrontiert und auf sich selbst zurückgeworfen. In meinem Leben gibt es beinahe keine Ablenkung von dem was ist. Ich dulde nicht, dass Menschen in meiner Umgebung quasseln, Musik hören, fernsehen oder was auch immer, um sich aus der Situation rauszukatapultieren und von ihren Gefühlen zu entfernen. Wenn du bei mir bist, dann bist du bei dir oder du lässt es. Natürlich darfst du dich ablenken und das, was in deiner Macht steht tun, um dich von dir zu entfernen. Nur bin ich dann woanders. Das ist keine Gemeinschaft. Es ist mir grundsätzlich egal, was du tust. Aber wenn du das Leben mit mir teilst, lebst du im Moment und bist bei dir. Was ich nicht dulde:
Psychospiele
Kunstgefühle
Streitereien
Einer murkst im Leben des anderen rum
Ablenkung
Menschen, die so leben wollen und können sind extrem selten.
Hilfe und Unterstützung in schwierigen Situationen
Brauch‘ ich nicht, danke.
Oder präziser: Brauch‘ ich schon. Aber nicht von dir. Wenn ich Hilfe und Unterstützung in schwierigen Situationen brauche, dann wende ich mich an Experten, die ich dafür bezahle. Mit denen lebe ich aber nicht in einer Gemeinschaft.
Aufgehen in etwas Größerem, Entgrenzung
Das ist etwas, woran ich sehr interessiert bin.
Aber buchstäblich alles, was ich in dieser Hinsicht kennengelernt oder gehört/gelesen habe, finde ich derart aberwitzig und abstoßend, dass es für mich in keiner Weise in Betracht kommt.
Gemeinsam etwas verwirklichen, was ein einzelner nie hinkriegen würde
Das kann interessant sein, keine Frage.
Wer im Chor singen oder in Orchester ein Instrument spielen will, der verwirklicht gemeinsam mit anderen etwas, was er alleine nie hinkriegen würde. Vergleichbares gilt zum Beispiel für den Hausbau oder für die meisten Forschungsarbeiten.
Aber aktuell habe ich kein Projekt dieser Art, das mich reizen würde.
Anregung zur eigenen Entwicklung
Das ist in der Tat hochinteressant für mich.
Und tatsächlich gibt es Menschen in meinem Leben, die mir sehr viele Anstöße und Anregung für meine Entwicklung geben.
Ob das schon Gemeinschaft ist, will ich mal dahingestellt sein lassen.
Aber ich fühle mich diesen Menschen verbunden.
Natürlich bekomme ich meine meisten Anregungen zur Entwicklung von Kindern.
Aber das ist keine Gemeinschaft.
Die Möglichkeit, andere zu fördern und zu unterstützen
Interessiert mich nicht.
Ich freue mich sehr, wenn ich miterleben kann, wie andere wachsen und ihre Potenziale entfalten. Aber das tun sie bitte selber. Das fördere und unterstütze ich nicht.
Ergebnis
Es wird also deutlich:
Wenn eine Gemeinschaft für mich in Frage käme, dann wäre das eine Gemeinschaft mit Menschen, die ein Leben leben, das den meisten ziemlich mönchisch vorkäme.
Ziel und Zweck dieser Gemeinschaft ist:
Jeder für sich entwickelt und befreit sich, und das tun wir alle zusammen.
Es gibt keine Ablenkung von dem, was ist. Jeder Tag ist ausgefüllt mit der Konzentration auf den Moment bzw. auf das, was gerade anliegt. Wir konzentrieren uns darauf, durchzudringen zu dem, was tatsächlich real ist – sowohl in unserer inneren Welt als auch in der äußeren Welt. Beinahe immer wird geschwiegen. Es gibt keine bizarren, ewig währenden Streitigkeiten oder irgendwelche zeitfüllenden Rituale. Es gibt keine endlosen Diskussionen über irgendwelche randständigen Themen. Es gibt keine Religion und keinen Religionsersatz. Man muss an nichts glauben, buchstäblich alles ist logisch begründet. Bis auf ein paar Axiome – die sind nicht logisch begründet, aber sie sind vernünftig und einleuchtend. Es gibt keinen Zeitvertreib und keine Langeweile. Jeder ist für seine Gefühle und für sein Leben selbst verantwortlich.
Wenn wir miteinander reden, dann reden wir als Erwachsene miteinander, die in der Realität verankert sind. Wir sind dabei der Logik verpflichtet. Wir wissen: Wenn etwas unlogisch ist, dann kann es nicht richtig sein.
Jeder bleibt sehr bei sich, niemand redet einem anderen in sein Leben rein. Jeder achtet vor allem auf sich. Beinahe immer ist es still. Die Umgebung ist karg, schmucklos und schlicht.
Und – weil das so wichtig ist, hier nochmal:
Es ist still!
So und nicht anders will ich leben.
So, wie ich es sehe, kann ich mittlerweile auch gar nicht mehr anders leben.
Ich würde krank werden und verrückt werden, wenn ich anders leben müsste.
Mit anderen Worten:
Auch in dieser Sache bin ich absolut kompromisslos.
Wenn ich so mit anderen leben kann, dann ist das gut.
Wenn ich so nur alleine leben kann, dann ist das auch gut.
Aber in Gemeinschaft ist das natürlich besser.
Und für so eine Gemeinschaft wäre ich auch bereit, wirklich hohe Kosten auf mich zu nehmen.
Eine andere Gemeinschaft kommt für mich nicht in Betracht.
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NeoSilver (Sonntag, 19 Dezember 2021 18:37)
Hallo Stiller.
[...]Ich hoffe, dass Sie das zu schätzen wissen.[...]
Ich bin hier für die Texte und deren Inhalt, nicht für Werbebanner oder Schleichwerbung.
Allerdings könnte ich auch verstehen wenn du aus finanziellen Beweggründen Werbung einbinden wollen würdest.
Insgesamt bin ich aber dankbar dafür, dass diese Seite bzw. dieser Blog so klar und rein ist.
Zusätzlich möchte ich mich auch gleich für die gute Struktur und die vielen Absätze in den Texten bedanken.
Ich habe schon viele Texte in Foren oder Anleitungen gesehen, welche für mich einfach nicht mehr bewältigbar waren, weil es kaum oder keine Absätze gab.
[...]Es gibt keinen Zeitvertreib und keine Langeweile.[...]
Wie ist deine Meinung generell zu Langeweile.
Kann diese auch positiv, im Sinne eines Antriebs, sein?
[...]was der evolutionäre Vorteil ist, den wir AS der Menschheit bieten.[...]
Deine Ideen würden mich auch unabhängig der Überprüfbarkeit interessieren.
Darüber könnte bestimmt sehr lang miteinander theoretisiert werden. Nur ob dies bei der fehlenden wissenschaftlichen Grundlage dann auch produktiv wäre, ist fraglich.
Stiller (Sonntag, 19 Dezember 2021 21:00)
Hallo NeoSilver
1
Die Werbung
Ich habe an diesem Text viele Monate gearbeitet und bin oft genug steckengeblieben, weil ich nicht wusste, wie ich verständlich machen konnte, worum es mir geht.
An einer bestimmten Stelle bin ich immer wieder hängengeblieben und irgendwann sagten meine Kleinen, dass man hier jetzt einfach eine Werbepause einblenden könne, um die Zeit zu überbrücken.
Finanzielle Ziele verfolge ich mit meinem Blog nicht, und sehr wahrscheinlich bleibt das auch so.
2
Struktur und Absätze
An der Struktur der Texte arbeite ich immer intensiv. Es ist mir sehr wichtig, dass die Dinge in einer logischen Folge miteinander verknüpft sind. Der Leser soll das lesen und direkt aufnehmen können. Ich will ihm nicht zumuten, die wirren Gedanken des Autors auch noch ordnen zu müssen.
3
Langeweile
Ja, ich denke, dass Langeweile auch positiv sein kann im Sinne eines Antriebes.
4
Der evolutionäre Vorteil von AS.
Vielleicht bringe ich meine Gedanken dazu mal zu Papier, ja.
Auf Vorträgen sage ich gerne, dass ein Krieg unter AS nicht vorstellbar ist, weil man sich für einen Krieg zusammenrotten muss und sich AS einfach nicht zusammenrotten können. Kriege führen also immer die NTs gegeneinander. Aber das ist natürlich nur eine sehr oberflächliche und eingeschränkte Betrachtungsweise.