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„Despair that tires the world brings the old man laughter.
The laughter of the world only grieves him,
Believe him.”
Zitiert nach einem Lied einer Musikgruppe, die zu ihrer Zeit sehr bekannt war.
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Vorrede
Wenn ich mit anderen Menschen in Kontakt bin, dann fällt mir fast immer dieses auf:
Zwischen uns ist eine Kluft, die nicht zu überbrücken ist. Echte, reale Begegnung zwischen uns ist nicht möglich. Manchmal scheint für flüchtige Momente echte Begegnung möglich zu sein, aber das erweist sich dann fast immer sehr schnell als Illusion.
Diese Kluft, von der ich hier spreche, ist aber nicht leer. Sie ist gefüllt. Auf der einen Seite der Kluft staut sich das Negative. Davon habe ich letzte Woche berichtet. Auf der anderen Seite der Kluft staut sich das Positive. Davon will ich heute berichten. Und weiterhin gilt:
Weder das Negative noch das Positive in dieser Kluft erlebe ich als real.
Das Positive
In gewisser Weise ist das Positive ein Gegengewicht zu all dem Negativen, das ich letzte Woche skizziert habe. Das eine bedingt das andere. Und die Menschen, die mich umgeben, bieten mir sehr oft Positives an. Sie meinen es nur gut.
Wenn ich mich innerlich auf dieses Positive einlasse, dann fühle ich mich immer kalt, einsam, leer, verloren und verwüstet.
Meistens ist mir nicht danach, mich so zu fühlen. Also lasse ich mich nicht darauf ein.
Wenn du mir eine große Schüssel Cornflakes anbietest, und ich stelle fest, dass diese Cornflakes alle aus Styropor sind, dann werde ich das mit Sicherheit nicht essen. Ich weise dein Angebot also nicht zurück, weil du so ein schlechter Mensch bist oder weil an dir irgendwas falsch ist. Ich esse das nicht, weil es mir überhaupt nicht gut tut, sowas zu essen.
So.
Wie schildere ich jetzt nachvollziehbar, was ich mit dem Positiven meine?
Ich denke, ausschlaggebend ist, dass viele Menschen irgendwann in ihrem Leben beschlossen haben, sich möglichst nur noch gut zu fühlen. Grundsätzlich halte ich das für nachvollziehbar:
Sich gut zu fühlen fühlt sich angenehm an, sich schlecht zu fühlen fühlt sich unangenehm an. Und wenn wir uns aussuchen können, wie wir uns fühlen wollen oder was wir anstreben wollen, dann fällt die Wahl leicht.
Aber so einfach ist das nicht.
So funktionieren Gefühle nicht.
Gefühle, die wir als unangenehm erleben, haben eine wichtige Funktion in unserem Leben. Trauer zum Beispiel hat die Aufgabe, unser Herz frei zu machen für Neues. Wer nicht trauern will oder kann, dessen Herz füllt sich im Lauf der Jahre mit lauter altem Kram – und so ein Herz wird sehr, sehr schwer.
Andere Gefühle, die wir als unangenehm erleben, haben eine wichtige Hinweis- oder Warnfunktion. Wenn wir uns zum Beispiel laufend schlecht fühlen – glaubt es oder glaubt es nicht: Das hat eine Ursache. Diesem „Ich fühle mich ständig schlecht“ liegt irgendwas sehr wichtiges zugrunde, sonst würden wir uns nicht so fühlen. Und wenn der ärztliche Befund negativ ist (der Arzt also nichts finden kann), dann kannst du sicher davon ausgehen, dass deine Seele auf deinem Lebensweg schweren Schaden genommen hat und jetzt um Hilfe schreit.
Nach meiner Erfahrung können die weitaus meisten Menschen (über 99,9%) mit dieser Warn- und Hinweisfunktion unangenehmer Gefühle nichts anfangen. Bei diesen 99,9% sind auch 99,9% aller Psychologen und Psychotherapeuten inbegriffen. Ich erlebe es so, dass beinahe alle Menschen versuchen, den unangenehmen Gefühlen auszuweichen, sie weg zu machen und sie nicht mehr zu fühlen. Der Teil in ihnen, der da so schreit, der soll endlich still sein, damit endlich alles gut ist. Manchmal sage ich dazu:
„Mein Güte, ist das heiß hier! Schnell, lass uns das Thermometer wegschmeißen!“
Grundsätzlich ist das ein faszinierender Ansatz: Verbanne alles Negative aus deinem Leben, dann bleibt nur noch Positives übrig. Ja klar – wenn das so funktionieren würde. Aber Gefühle funktionieren nicht auf diese Weise.
Ich will das mit einer Analogie aus dem Bereich der Politik illustrieren:
Seit 1972 führen die USA ihren Krieg gegen die Drogen („War on Drugs“). Sie haben schon weit über eine Billion Dollar in diesen Krieg gesteckt. Und sie sind mit diesem Krieg restlos gescheitert.
Da wird also über ein halbes Jahrhundert ein großer Teil des Volkseinkommens verschleudert, um einer positiven Illusion nachzujagen, wodurch man nachweislich außer Not, Gewalt und Elend wenig erreicht:
- Die Zahl der Drogenabhängigen und der Drogentoten ist nicht zurückgegangen. Im Gegenteil.
- Die Menge der angebotenen und konsumierten Drogen ist nicht zurückgegangen. Im Gegenteil.
- Die Gesellschaft ist nicht besser oder friedlicher geworden. Im Gegenteil: Die Gefängnisse haben sich rapide gefüllt. Die ganze Gesellschaft hat sich enorm brutalisiert.
- Und so weiter.
Du wirst die Drogen nicht los, indem du sie bekämpfst. Im Gegenteil: Der Kampf gegen die Drogen hat noch nie irgendwo funktioniert, sondern den Drogenkonsum eher noch gefördert.
Natürlich ist das Ursache-Wirkungsgefüge beim Thema Drogen hochkomplex. Ich will hier nicht einfache Lösungen propagieren. Ich will nur dieses deutlich machen: Das Negative zu bekämpfen, um das Positive zu erreichen - das bringt nichts. Da kannst du auch ein brennendes Haus mit Benzin löschen.
Und genauso wenig kannst du das Negative in deinem Leben ausmerzen, indem du es bekämpfst.
Der „War on drugs“ ist im Bereich der Gefühle ein „War on me“.
Und „War on me“ führt zu „Es stirbt in mir!“ bzw. verstärkt es noch.
Indem du dir deine unangenehmen Gefühle verbietest, führst du Krieg gegen dich selber. Du tötest Teile von dir.
Wenn ich wahrnehme, dass in dir ein schwer verletztes Kind ist, das deine Hilfe braucht und du dich stattdessen mit Schmetterlingen, Blumen, Sonnenschein und all dem anderen Positiven beschäftigst, das das Leben so zu bieten hat - dann haben wir uns nichts zu sagen.
Ich bin immer auf der Seite der Unterdrückten und Geknechteten.
Bei vielen Menschen ist es so, dass sie die verletzten und bedürftigen Teile in sich nicht mehr wahrnehmen, wenn sie sich dem Positiven zuwenden. Aber diese Teile sind noch da und wirken weiter. Und wenn Menschen sich auf das Positive konzentrieren, dann sehe ich doch das Bemühte!
Ich sehe, wie die Menschen auf Teufel komm raus versuchen, fröhlich zu sein – mit aller Kraft und aller Macht. Wie sie auf Feiern Unmengen Alkohol in sich reinschütten müssen, um in eine gute Stimmung zu kommen. Ich sehe mir an, was Menschen tun, um Positives zu erleben. Und ich erlebe dieses:
- Sie machen einen Höllenlärm, um die Hilferufe in sich zu übertönen.
- Sie betäuben die verletzten Teile in sich mit Alkohol und anderen Drogen, damit sie endlich still sind.
- Sie legen eine mörderische Aktivität an den Tag, um sich selbst zu entkommen – bloß nicht zur Ruhe kommen, denn dann könnte ich mir ja selbst begegnen.
- Sie reden beinahe ununterbrochen, damit die stillen und verletzten Teile in ihnen nicht zu Wort kommen.
- Durch Filme, Rollenspiele, Bücher und dergleichen beamen sie sich aus ihrer Welt raus in eine andere Welt, um sich selber zu entkommen.
- Und so weiter.
Ich habe auch Kinder dabei beobachtet, wenn sie spielen und fröhlich sind.
Sie brauchen dafür keinen Alkohol. Sie brauchen dafür keine Drogen. Sie brauchen dafür keine Events, keine ohrenbetäubende Musik und auch nicht die „schnellste Achterbahn der Welt“ oder sonstwie rasende Hektik. Wenn Kinder spielen und fröhlich sind, dann ist das kein Multimediaangriff auf alle Sinne gleichzeitig, kein Drogenfestival und auch keine Flucht vor sich selber.
Das geht also.
Die meisten Menschen erlebe ich als Wesen, die fast ständig auf der Flucht vor sich selber sind. Die Kinder in den Erwachsenen sind totunglücklich, während die Erwachsenen mit aller Gewalt versuchen, sich gut zu fühlen. Oft genug gelingt es den Erwachsenen, den Kinderteil in sich zu aktivieren, der tatsächlich gut drauf ist und fröhlich ist. Das kann sich dann sehr schön und gut anfühlen, keine Frage.
Aber was ist mit den anderen Teilen von dir?
Wann kommen die zu ihrem Recht?
Nach allem, was ich erlebe, ist die Antwort auf die letzte Frage bei den weitaus meisten Menschen:
„Niemals!“
Wie gesagt – wir haben uns nichts zu sagen.
Ich stehe immer auf der Seite der Geknechteten und Unterdrückten.
Die meisten Menschen, denen ich begegne, verfolgen entweder das Negative mit religiösem Eifer (siehe der Text von letzter Woche) oder das Positive. Bei den Positiven beginnen schon die Gespräche positiv:
„Na? Und bei dir? Alles klar soweit?“
Wir haben uns nichts zu sagen.
Wenn ich mich auf die Seite der Geknechteten und der Unterdrückten stelle, dann bedeutet das:
Ich sehe, was du da tust. Ich werde auf keinen Fall so tun, als würde ich das nicht sehen. Wenn du mit der Walze über deine verletzten Kleinen fährst, dann werde ich nicht so tun, als würde ich das nicht bemerken.
Und deshalb gilt fast immer: Wenn ich miterlebe oder erzählt bekomme, wie die Menschen ihre Zeit verbringen, um sich gut zu fühlen, dann bin ich raus. Dann bin ich mal weg. „Feiert“, soviel ihr wollt. Ich mach derweil was anderes. Was ihr „Feier“ nennt (oder „Event“ oder „Konzert“ oder „Festival“ oder „Rollenspiel“ oder was auch immer), das ist für mich fast immer die reine Hölle. Wenn ein kleines Kind sich bei dem, was ihr da tut, nicht wohlfühlen kann, dann bin ich da eindeutig fehl am Platz. Ich bin raus. „Feiert“ ihr nur. Ich mach‘ derweil was anderes.
Ich will zum Schluss noch einige Seitenaspekte des Positiven thematisieren, damit die Reichweite des Themas deutlich wird.
1
Die Welt der Sprüche - Sorge dich nicht, lebe!
Gegen Ratschläge wie diese ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Wer sich zuviel und vor allem fruchtlos Sorgen macht, muss sich ernsthaft fragen, womit er sich die ganze Zeit eigentlich beschäftigt. Dasselbe gilt für’s Grübeln, für die Melancholie, für die Verdrossenheit, für schlechte Laune und ganz allgemein für das diffuse „Ich fühle mich schlecht.“
Das Leiden muss einen Sinn haben, sonst leiden wir völlig sinnlos. Aber wenn du den Sinn in deinem Leiden nicht finden kannst, dann kann die die Antwort doch nicht sein:
Beschäftige dich einfach mit was anderem.
Es sind buchstäblich tausende Bücher und hunderte Techniken auf dem Markt, mit deren Hilfe wir lernen sollen, unser Leben „in den Griff“ zu kriegen, uns nicht mehr schlecht zu fühlen, sondern einfach zu leben.
Und das geht nicht. Wenn es funktionieren würde, dann brauchte man solche Bücher nicht.
(Und nein, wenn du dir ein gusseisernes Lächeln ins Gesicht schmiedest und beschließt, von Stund an nur noch gut drauf zu sein und alles nur noch positiv zu sehen – das funktioniert nicht. Das mündet in Starrkrampf und seelischer Selbstverstümmelung). Wenn man sich ein gutes Leben erdenken oder erlesen kann, dann wird man auch satt, wenn man eine Speisekarte liest. Dein Leben wird nicht dadurch besser, dass du beschließt, ab jetzt ein gutes (oder besseres) Leben zu führen.
Wenn du dich mit unangenehmen Gefühlen und Gedanken im Kreis drehst, dann leidest du tatsächlich vergeblich. Dann ist dein Leiden sinnlos. Dann führst du ein leidvolles Leben und stirbst irgendwann, ohne dass es dir vorher dauerhaft besser gegangen ist. Die Alternative kann in meinen Augen aber nicht sein:
Simuliere ein positives Leben!
Um es auf den Punkt zu bringen:
In dem einen Fall (Das Negative) führst du sinnlos ein leidvolles Leben und stirbst, ohne dass es dir irgendwann wirklich und langanhaltend gut gegangen ist. Das kann niemand wollen.
In dem anderen Fall (Das Positive) simulierst du ein Leben und stirbst, ohne gelebt zu haben. Das kann nicht die Alternative sein.
Viele Menschen lenken sich von ihren unangenehmen Gefühlen ab und kommen dadurch tatsächlich in eine vordergründig positive Stimmung. Und da ihnen das so gut gefällt, verstetigen sie dieses Verhalten. Damit erreichen sie aber letztlich nur dieses:
Sie lenken sich von ihrem Leben ab.
Wenn irgendwas ganz besonders positiv war, dann formulieren sie es gerne so:
„Die Zeit verging wie im Fluge!“
Mit anderen Worten: Ich war optimal abgelenkt. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich gelebt habe.
„Sorge dich nicht, lebe!“ bedeutet also fast immer in Wirklichkeit: „Sorge dich nicht, lebe nicht.“
Diese Alternative wird von ganz vielen Seelenpriestern und Lebensoptimierern angeboten und von Millionen begeisterter Kunden konsumiert. Kann man so machen, keine Frage. Doch ich bin raus. Simuliert euer Leben, ich mach‘ derweil was anderes.
2
Die einfachen Lösungen
Gefühle, die wir als unangenehm erleben, weisen uns auf Probleme hin. Sie haben also grundsätzlich die Funktion, unsere inneren Ressourcen zu aktivieren und zu bündeln und unsere Aufmerksamkeit auszurichten, so dass wir diese Probleme lösen können.
Innere Probleme haben es aber so an sich, dass sie für uns schwierig sind, sonst wären es ja keine Probleme für uns. (Und nein, es ist völlig egal, wenn es anderen ganz leicht fällt, diese Probleme zu lösen. Für uns ist es schwierig. Das ist alles, was im Moment zählt. Wenn den anderen das alles so leicht fällt: Herzlichen Glückwunsch. Dafür haben sie Probleme mit Dingen, die uns ganz leicht fallen).
Wir haben da also ein Problem in uns, auf das uns unangenehme Gefühle hinweisen. Dieses Problem ist für uns schwierig. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass all die Ressourcenaktivierung und die Aufmerksamkeitsoptimierung, die unsere unangenehmen Gefühle mit sich bringen, nicht dazu führen, dass wir dieses Problem kurzfristig lösen können. Nach meiner Erfahrung müssen wir Jahrzehnte einsetzen, um die tiefgehenden und schwerwiegenden Probleme in uns zu lösen.
Wir fühlen uns also weiterhin schlecht, und wir können das Problem kurzfristig nicht lösen.
Ja, und jetzt?
Das ist so, als ob unsere Wohnung brennen würde, aber niemand könnte sie löschen, und die ganze Zeit geht zusätzlich noch dieser nervenzerfetzende, ohrenbetäubende Alarm von diesem verdammten Rauchmelder.
(Zur Erläuterung dieser Analogie:
Die Wohnung brennt = wir haben ein tiefgehendes und schwerwiegendes Problem in uns. Der Rauchmelder trötet = Dauerhafte, unangenehme Gefühle weisen uns hin auf dieses tiefgehende und schwerwiegende Problem in uns).
Davon, dass der Rauchmelder rumtrötet wird es auch nicht besser.
Das stimmt.
Und es nervt, es ist total unangenehm – das stimmt auch.
Ja, und jetzt?
Es ist ein Impuls in uns allen, in solchen Situationen, die Komplexität des Problems zu reduzieren, um irgendwie mit ihm fertig zu werden. So könnten wir – um in der Analogie zu bleiben – erst mal diesen nervigen Rauchmelder zerstören. Davon ist das Feuer in unserer Wohnung noch nicht gelöscht, aber es trötet nicht mehr, und das ist ja schon mal was.
Und dann könnten wir schauen, dass wir die Wohnung verlassen – löschen können wir sie ja doch nicht.
In der Analogie ist das alles sehr sinnvoll. Aber in der Realität sieht es so aus, dass wir den verletzten Kinderteil in uns zum Schweigen bringen, wenn wir den Rauchmelder zerstören. Wir führen Krieg gegen uns selber, wenn wir das tun. Und wenn wir unsere Wohnung verlassen, weil wir sie eh nicht löschen können … Willst du dein Leben verlassen? Und wenn du es verlässt – wo willst du denn hingehen? Es kann verführerisch sein zu sagen: „Dieses Leben gefällt mir nicht – ich will ein anderes!“ Und vermutlich hast du auch ein viel besseres Leben verdient.
Aber das löst das Problem nicht.
Du kannst ein Leben simulieren.
Aber das löst das Problem auch nicht.
Seelische Probleme sind fast immer hochkomplex. Sie sind nicht kompliziert aber sehr komplex. Auch das will ich mit einer Analogie verdeutlichen.
Nehmen wir an, um deine Wohnung löschen zu können müsstest du in ein Zimmer in deiner Wohnung, das du schon längst vergessen hattest. Schon seit Jahrzehnten warst du nicht mehr dort. In diesem Zimmer steht ein Feuerlöscher. Jahrelang hast du nicht mehr daran gedacht, aber jetzt …
Du läufst zu diesem Zimmer. Die Tür ist zu. Du drückst auf die Klinke: Nichts. Abgeschlossen! Auch das noch! Du saust los zu deinem Schlüsselbund. Du nimmst ihn in die Hand und stellst fest: Der Schlüssel, den du brauchst, ist nicht dran. Wo ist dieser verdammte Schlüssel?! Du versuchst, dich zu erinnern. Richtig! In der Küchenschublade! Da, wo auch all die anderen Dinge landen, die mal nützlich waren, die aber keiner mehr so recht erinnern kann:
Ein paar Holzdübel, die von irgendeinem längst entsorgten Ikeamöbel stammen, zwei alte Wäscheklammern, drei Schrauben, die zu irgendeinem elektrischen Gerät gehören, das vermutlich auch schon längst den Weg allen Fleisches gegangen ist, ein Zettel mit der handschriftlichen Notiz: „Hansi anrufen“ (wer um alles in der Welt ist Hansi?!), zwei alte Briefmarken, ein roter Gummiring und ein Zettel mit der Aufschrift: 02135 / 698 83 -0.
Da in dieser Kramschublade findest du also den Schlüssel zu der Tür.
Triumph!
Fanfaren!
Du bist überglücklich!
Du saust zurück zu dem langvergessenen Zimmer, in dem der Feuerlöscher steht, steckst den Schlüssel ins Schloss und schließt auf. Du drückst die Klinke: Nichts! Immer noch verschlossen! Was zum Teufel …?!
Du untersuchst die Tür und stellst fest, dass sie noch zwei weitere Schlösser hat, zu denen dein Schlüssel aber nicht passt.
Und so weiter.
Das meine ich damit, dass seelische Probleme nicht kompliziert sind. Aber sie sind ziemlich komplex. Und sie wirklich zu lösen dauert sehr, sehr lange.
Wenn du in so einer Situation versuchst, das Problem zu lösen, indem du die Komplexität reduzierst – vergiss es! Ich kann dir versichern, dass viele Menschen meinen Rat suchen, die sich ihr Leben jahre- und jahrzehntelang mit den einfachen, weisen und vor allem positiven Sprüchen gestaltet haben, mit denen das Internet (und offenbar auch der Rest der Welt) voll ist.
Mein Standardspruch dazu ist:
„Für jedes komplexe Problem gibt es eine einfache Lösung … und die ist falsch.“
Und nein, es ist immer noch keine Lösung, die Wohnung einfach zu verlassen. Wo willst du denn hin, wenn du dein Leben verlässt?
Wenn du ein gutes und lebenswertes Leben leben willst, dann rate ich dir davon ab, dich an positiven Sprüchen zu orientieren, wie du sie zuhauf im Internet, in Kalendern oder in Poesiealben findest. Diese Sprüche sind alle nicht falsch. Aber sie helfen nicht weiter. „Sorge dich nicht, lebe!“, „Gib jedem Tag die Chance, der schönste Tag deines Lebens zu werden!“, „Man kann aus den Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, eine Treppe bauen.“ … Und so weiter.
Alles nicht falsch. Aber diese Sprüche dienen vor allem dazu, die Komplexität der Probleme, vor denen wir stehen, in einer Weise zu reduzieren, dass alles ganz einfach scheint. Aber das hilft nicht weiter. Die Wahrheit, die du suchst und brauchst, liegt woanders. Sie liegt tiefer. Und sie liegt vor allem nicht darin, die Komplexität von Problemen zu reduzieren.
Hüte dich vor Sprüchen!
Sie sind positiv!
Verlasse nicht deine Wohnung (= simuliere nicht ein Leben).
Denn das bringt auch nichts.
Und um in dieser Analogie zu bleiben:
Meine Erfahrung ist, dass buchstäblich jedes Feuer in deiner Wohnung zu löschen ist. Wenn du aber ein Leben simulierst und frohgelaunt und tralala so tust, als würde deine Wohnung nicht brennen, dann vergeudest du kostbare Lebenszeit, die dann unwiederbringlich verloren ist.
Du kannst positiv sein und ein Leben simulieren und irgendwann sterben, ohne gelebt zu haben. Das geht, das ist erlaubt.
Aber wir haben uns dann nichts zu sagen.
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