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„Despair that tires the world brings the old man laughter.
The laughter of the world only grieves him,
Believe him.”
Zitiert nach einem Lied einer Musikgruppe, die zu ihrer Zeit sehr bekannt war.
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Vorrede
Wenn ich mit anderen Menschen in Kontakt bin, dann fällt mir fast immer dieses auf:
Zwischen uns ist eine Kluft, die nicht zu überbrücken ist. Echte, reale Begegnung zwischen uns ist nicht möglich. Manchmal scheint für flüchtige Momente echte Begegnung möglich zu sein, aber das erweist sich dann fast immer sehr schnell als Illusion.
Ich erlebe beinahe alle Menschen, denen ich begegne, als Wesen, die ein symbolisches Leben leben. Oder mit anderen Worten:
Sie simulieren ein Leben.
Sie tun so, als würden sie leben.
Sie versuchen, das Leben irgendwie rumzukriegen und sich in der Zwischenzeit angenehm oder nützlich zu beschäftigen.
Sie leben in einer Scheinwelt, die nicht real ist.
Sie dringen nicht durch zu dem, was ist.
Vielleicht tue ich diesen Menschen Unrecht, das kann ich nicht wissen. Ich kann nur auf das eingehen, was ich von ihnen wahrnehme, wenn ich mit ihnen im Kontakt bin.
Aber ich schrieb schon an anderer Stelle [Blogtext Reichtum]: Ich erlebe die Menschen, die mich umgeben als bettelarm. Und zwischen uns ist eben diese tiefe Kluft.
Ich nehme diese Kluft achselzuckend zur Kenntnis. Grundsätzlich darf jeder sein Leben so verbringen wie er möchte. Aber ich will nicht so leben müssen. Auf gar keinen Fall!
Die Kluft, die uns trennt, ist aber nicht leer. Sie ist sogar ziemlich voll. Auf der einen Seite der Kluft staut sich das Negative, auf der anderen Seite staut sich das Positive. Beides ist in meiner Welt ziemlicher Stuss und nicht real. Aber mit irgendwas müssen sich die Menschen, die ein Leben simulieren, ja beschäftigen, sonst geht die Zeit nicht rum.
Ursprünglich hatte ich geplant, das alles in einem einzigen Text zu beschreiben: Wie ich das Positive und das Negative in dieser Kluft wahrnehme. Dann wurde der Text aber im Lauf der Monate immer länger und länger. Deshalb habe ich beschlossen, diesen Text in zwei Teile zu teilen: Diesmal beschäftige ich mich mit dem Negativen. Und beim nächsten Mal beschreibe ich das Positive.
Wichtig dabei ist:
Beides – das Negative wie das Positive – ist nicht real. Es wird von den Menschen, denen ich begegne, oft als real erlebt, keine Frage. Aber das ändert nichts an den Tatsachen.
Also jetzt:
Das Negative
Wenn ich mit Menschen in Kontakt bin, erlebe ich sehr viel nicht reales Gejammer und Geschrei. – Düsternis, Missstimmung, Krisenstimmung, Katastrophenängste, Weltuntergang. Und so weiter.
Worum geht’s bei diesem Gejammer und Geschrei? Was wird bejammert? Was wird beschrien?
Das lässt sich beinahe immer so zusammenfassen:
Die Welt geht unter!
Das war in der Geschichte der Menschheit aber noch nie anders.
Geschichte ist eines meiner Spezialinteressen. Ich verbringe viel Zeit damit, in Erfahrung zu bringen, was die Menschen in früheren Zeiten gemacht, gedacht und gefühlt haben. Dabei ist mir unter anderem dieses aufgefallen:
Seit die Menschen Schriftliches hinterlassen, schreiben sie immer dasselbe: Die Welt geht unter, die Welt ist schlecht, es ist alles ganz fürchterlich, wir sind die letzte Generation, es wird alles immer schlimmer …
Das habe ich bei den alten Ägyptern gefunden, bei den alten Griechen, im alten Mesopotamien, bei den alten Römern, am Ende der Antike, im Hochmittelalter, in der frühen Neuzeit, bei den alten Japanern, bei den alten Chinesen … Es durchzieht die Geschichte der Menschheit, seit es die Menschen gibt.
Nach allem, was ich sehen kann, hat, seit es Menschen gibt, buchstäblich jede Generation diesen Katzenjammer produziert:
Wir sind die letzte Generation.
Das Ende ist nahe!
Die Welt geht unter!
Kehrt um und tut Buße, dann könnt ihr das drohende Weltende vielleicht noch abwenden!
Alles wird immer schlechter!
Alles wird immer schlimmer!
Ja, ist die Welt denn jetzt völlig verrückt geworden?!
Alles ist ganz furchtbar!
So schlimm war’s noch nie!
Die Jugend von heute!
Und so weiter.
Hektik, Panik und Geschrei, und beinahe immer mündet es in der ultimativen Aufforderung:
„Brüder (Schwestern und Diverse natürlich auch!) – vergeudet nicht die letzten sieben Tage! Das Ende der Welt ist nahe!“
Wir sind alle komplett am Ende, und wenn wir überhaupt noch irgendwas retten wollen, dann müssen wir unser restliches Leben ausschließlich diesen drei Dingen widmen:
1
Gebet und Buße
(In heutiger Sprache: Achtsamkeit und Verzicht)
2
Aktive Reue
(Schenke alles her, was du hast, bezichtige dich selber und geißele dich)
3
Verkünden
(Gehe hin und missioniere alles und jeden und verkünde der ganzen Welt, dass das Ende nahe ist und fordere zur Umkehr auf. Schare Jünger (Jüngerinnen und Jüngdiverse natürlich auch!) um dich, ziehe mit ihnen durch die Lande und lebe ein Leben der fortdauernden Predigt).
Wie zu allen Zeiten in der überlieferten Geschichte der Menschheit ist es auch heute so, dass nur die wenigsten Menschen ihr Leben den Alternativen (1), (2) oder (3) weihen. Sie sind aber als bewegte Zuschauer dabei, winden ihre Hände in klagender Gebärde und sind sich einig:
Die Zeiten sind schlimm!
Es ist wirklich ganz schrecklich!
Und man kann nichts (kaum was) machen.
Aus realer Warte betrachtet ist das natürlich alles der reine Stuss. Die Menschheit wird diese Krise meistern, so wie sie alle anderen Krisen vorher auch gemeistert hat. Natürlich sind die Zeiten nicht angenehm. Aber verglichen mit dem, was frühere Generationen erlebten, ist es heute geradezu paradiesisch. Real ist: Irgendwie geht’s immer weiter, der Menschheit fällt immer irgendwas ein. Und nein, die Welt geht nicht unter, sie wandelt sich. Und nach dieser Generation kommt garantiert noch eine und danach noch eine und noch eine.
Und so weiter.
Aus psychologischer Warte betrachtet ist dieses Weltuntergangsgeschrei natürlich begründet und sinnvoll. Es bildet nicht die äußere Realität ab, sondern die innere Realität der Schreienden und Jammernden. Da ihnen der Blick nach innen versperrt ist, finden sie das, was in ihnen ist, im Außen: „Die Welt geht unter!“
Natürlich muss im Außen jede Menge getan werden. So wie es jetzt ist, darf es auf keinen Fall bleiben. Und auch dass die Zeit drängt dürfte unbestritten sein. (Das war aber noch nie anders – die Zeit drängt immer. Das hat sie offenbar so an sich).
Aber das alles bedeutet keineswegs, dass die Welt untergeht, dass es fünf vor zwölf ist oder was den Leuten sonst so an Weltuntergangsfantasien einfällt.
In den Menschen stirbt es.
Außen tut sich ganz verschiedenes – ermutigendes und weniger ermutigendes. Aber für das Außen gilt: Irgendwie geht es immer weiter. Den Menschen fällt immer was ein, und sie werden mit buchstäblich jeder Krise fertig. Das zeigt schon ein flüchtiger Blick in die Geschichte.
Zusammenfassend:
Beinahe alle Menschen erlebe ich so, dass ihnen der Blick nach innen fast vollständig versperrt ist. Ihre innere Wirklichkeit ist in weiten Bereichen:
„Es stirbt in mir!“
Da sie das in ihrem Inneren nicht sehen und erleben können, filtern und verändern sie ihre Wahrnehmung der Außenwelt so, dass das, was sie außen sehen und erleben, zu dem passt, was in ihnen ist.
Daraus resultiert dann die entsprechende Weltwahrnehmung.
Sie erleben und sehen also nicht:
„Es stirbt in mir!“ sondern
„Die Welt geht unter!“
Mit anderen Worten:
Der psychische Prozess, der dieser Realitätsverzerrung zugrundeliegt, ist recht einfach zu beschreiben und zu verstehen.
Hinweis:
Nach meiner Erfahrung gehört es zum schwierigsten überhaupt, zur realen Welt durchzudringen. Es gehört zum schwierigsten überhaupt, die Außenwelt so wahrzunehmen, wie sie ist und sie nicht zu einer Reinszenierung der eigenen Innenwelt zu machen. Nach meiner Erfahrung ist das lebenslange Arbeit.
Ich muss daran genauso arbeiten wie jeder andere auch, der real sein will.
Wenn ich also heute davon schreibe, was ich als real erlebe und was nicht, bedeutet das keinesfalls, dass ich die Welt so einteile: Ich bin real und ihr nicht.
Kommen wir aber nochmal zum Negativen.
Noch viel kürzer zusammengefasst
Wenn du mir erzählst:
„Die Welt geht unter!“, und wenn du mir nicht gleichzeitig genauso intensiv, bewegend und berührend berichten kannst:
„Es stirbt in mir!“,
dann werde ich das achselzuckend zur Kenntnis nehmen.
Du darfst unreal sein so viel du willst.
Aber dann findet zwischen uns keine echte Begegnung statt.
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