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Wecker

„Minge Wecker jeit m’r op d’r Wecker!“

Zitiert nach einer Musikgruppe, die in Kölner Mundart singt.

 

Wie viele andere Menschen auch, bin ich in einer Welt groß geworden, in der genau gehende Uhren eine absolut beherrschende Rolle einnehmen. Ohne Uhren, die synchronisiert die Zeit angeben, bricht alles zusammen. Schon als ich ein kleines Kind war, folgten meine Tage einem bestimmten Rhythmus. Und spätestens als ich schulpflichtig wurde, gab mir die Uhr den Takt des Lebens vor:

Aufstehen um soundsoviel Uhr. Schulbeginn um acht. Erste kleine Pause, erste große Pause, zweite kleine Pause, zweite große Pause, Schulschluss etc. etc. … Die Uhr beherrschte alles.

 

Das hat mir nie viel ausgemacht. Klar, sind alternative Lebenskonzepte denkbar. Aber sooft ich in meinem Leben bisher zu entscheiden hatte, habe ich mich immer gegen diese alternativen, eher uhrlosen Lebenskonzepte entschieden.

 

Schon als Kind hatte ich irgendwelche billigen Wecker. Später probierte ich verschiedene Weckkonzepte durch und entschied mich nach langem Rumprobieren für einen Radiowecker, der digital die Uhrzeit anzeigte und dessen rote Leuchtziffern auch in der Nacht immer sehr gut sichtbar waren. Dieser Radiowecker weckte mich dann immer mit sehr leiser Musik – das fand ich wesentlich besser als das Scheppern oder Rasseln der mechanischen Wecker, die ich davor gehabt hatte.

 

Als ich siebzehn war, stellte ich fest, dass ich Teile in mir habe, die die Zeit beinahe exakt messen können. Ich hatte damals keine Armbanduhr – kein Geld. Wenn ich unterwegs war und grade keine öffentliche Uhr sichtbar war, behalf ich mir immer damit, dass ich ein Stück Papier in einen Fahrkartenautomaten an einer Bushaltestelle steckte – ganz so, als wollte ich eine Fahrkarte abstempeln. Und dann machte es ein kräftiges „Ping!“, ein automatischer Stempel sauste wuchtig auf das Papier nieder, und ich hatte die Zeit mit einer Toleranz von fünf Minuten. Damit kam ich gut klar.

 

In dieser Zeit war ich aber oft und viel im Wald unterwegs – stundenlang stromerte ich da ganz alleine rum, oft genug abseits aller Wege. Und da gab’s dann weder gut sichtbare öffentliche Uhren noch irgendwelche Bushaltestellen.

Ja, und jetzt?

Ich hatte beinahe jeden Tag irgendwelche Termine einzuhalten.

 

Auf dem Weg aus dem Wald kam ich oft an einem Komplex mit Sporthallen vorbei. Diese Sporthallen hatten riesige Fenster, durch die man sowohl die Sportler als auch zahlreiche sehr große Uhren sehen konnte. Irgendwann machte ich mir einen Spaß daraus, auf meinem Weg zu den Sporthallen zu raten, wie spät es war. Ich vergegenwärtigte mir dann, um wieviel Uhr ich losgegangen war, was ich wann wo im Wald gemacht hatte und wieviel Zeit das wohl verbraucht hatte. Zu meiner Überraschung stimmte meine Schätzung auf die Minute, obwohl über drei Stunden vergangen waren, seit ich zum letzten Mal auf eine Uhr geguckt hatte.

 

Neugierig geworden, machte ich das öfters. – Ich nahm unterschiedlich Routen durch den Wald, hielt mich an meinen Lieblingsplätzen ganz unterschiedlich lange auf, ging in Kreisen und Schleifen und Umwegen … und dann auf zu den Sporthallen. Das Ergebnis war immer dasselbe – selbst nach fünf Stunden und mehr: Meine Schätzung wich um maximal eine Minute von dem ab, was ich da auf den riesigen Uhren in den Sporthallen sehen konnte.

 

Dasselbe erlebte ich mit meinem Radiowecker, der mich in der Nacht stumm anleuchtete: Egal, auf welche Uhrzeit ich ihn gestellt hatte – ich wachte absolut zuverlässig eine Minute früher auf. Die Teile in mir, die ich später „meine Kleinen“ nannte, wollten auf gar keinen Fall mit irgendeinem Geräusch geweckt werden. Also wachten sie eine Minute vor dem Einsetzen des Geräusches auf, damit ich die Aus-Taste des Weckers rechtzeitig betätigen konnte.

 

Ich fand das damals sehr interessant, hatte aber keine weitere Verwendung für diese Fähigkeiten. Ich arbeitete in einer Fabrik, was mir ein wenig Geld einbrachte. Und von dem Geld kaufte ich eine Uhr. Digitaluhren waren damals der letzte Schrei – was ganz neues: Zeitmessung mit nie dagewesener Präzision. So eine Uhr besorgte ich mir. Und da trat die Fähigkeit meiner Kleinen, die Zeit exakt zu messen, wieder in den Hintergrund.

 

Die Jahre gingen ins Land, und ich begann meine erste Psychotherapie. Dass es mir schlecht ging, hatte ich auch vorher gewusst. Aber erst in dieser Psychotherapie begann ich schemenhaft zu begreifen, wie total zerstört mein Leben war. Vor ein paar Monaten habe ich es hier in diesem Blog mal mit einer Atomwüste verglichen.

 

Es kam die Zeit, in der die Teile, die ich heute „meine Kleinen“ nenne, einen immer breiteren Raum in meinem Leben einnahmen. Heute beherrschen sie beinahe mein komplettes Leben: Meine Kleinen hier, meine Kleinen da. Sie sind immer anwesend, wir sind immer in engem Kontakt – rund um die Uhr. Aber damals steckte das noch in den Anfängen. Und ich kann euch sagen: Als meine Kleinen aktiv wurden - das war nicht Friede, Freude, Eierkuchen unter uns. Im Gegenteil: Beinahe permanent wurde ich von meinen Kleinen beschimpft, fertig gemacht, angezählt, abgekanzelt. Die waren echt ruppig drauf, ziemlich verwahrlost und unheimlich anspruchsvoll. Sie wollten ein gutes und schönes und angenehmes Leben – jetzt sofort und auf der Stelle. Und sie wollten nichts dafür tun - ich als Großer sollte das alles zur Verfügung stellen, aber zack - zack! Denn sie waren die Kleinen und hatten ein Recht darauf.

 

Irgendwann wurde mir das zuviel. Es ging mir eh schon die ganze Zeit schlecht. Aber jetzt wurde ich beinahe ununterbrochen aus meinem Inneren angeranzt und angepflaumt, dass es nur so seine Art hatte. Ich stellte meine Kleinen wütend zur Rede:

„Sagt mal, wie stellt ihr euch das hier eigentlich vor?! Ich soll hier die ganze Arbeit machen und den Karren aus dem Dreck ziehen und euch ein schönes Leben besorgen, und was macht ihr? Ihr sitzt nur da, nöhlt rum und wartet auf bessere Zeiten!“

Ja, genauso hatten sie sich das vorgestellt. Das war in ihren Augen die optimale und gerechte Arbeitsverteilung: Ich machte alles und sie guckten mir dabei zu und pöbelten mich an.

 

„Ich wird‘ euch helfen, ihr kleinen Arschgeigen!“ verkündete ich ihnen wütend. „Wir werden das ab jetzt so machen: Ihr übernehmt euren Teil der Verantwortung, oder ich trete in einen unbefristeten Streik.“

Sie wussten, was das bedeutete – ich würde mit der Therapie aufhören. Und sie wussten, dass ich das absolut ernst meinte und auch durchziehen würde.

Soweit kannten sie mich – ich drohte sowas nicht nur an, nein, ich zog sowas auch durch. Da war ich stur wie ein Panzer. Immer schon.

Deshalb waren sie auch sofort gesprächsbereit.

Aber sie waren so verwahrlost und so wenig in der Lage, für irgendwas Verantwortung zu übernehmen, dass es beinahe unmöglich war, ihnen irgendwas zu übertragen.

 

Wir einigten uns darauf, dass sie ab jetzt die „Herren der Zeit“ waren. Sie waren in der Lage, die Zeit absolut präzise zu messen – sie brauchten keine Uhr und keinen Wecker. Also schaltete ich die Weckfunktion des Radioweckers ab – die hatte sowieso jeden gestört. Und die blieb abgeschaltet.

Ich sagte meinen Kleinen:

„So, und ab jetzt ist es eure Aufgabe, dass wir pünktlich wach werden. Ich kümmere mich nicht mehr darum. Wenn wir verschlafen, dann verschlafen wir eben. Aber eins ist klar: Wenn wir uns dem stellen, dass wir da irgendwas versäumt haben, dann seid ihr alle Mann an Deck und ihr seid ganz vorne mit dabei. Ihr versteckt euch dann nicht hinter mir und guckt mir zu, wie ich die Dinge wieder bereinige!“

 

Meine Kleinen begriffen und akzeptierten.

Schon seit mehr als drei Jahrzehnte haben wir jetzt keinen Wecker mehr.

Und egal, welche Uhrzeit ich anordne:

„Jungs, wecken um 05:35“ – meine Kleinen sind in der Verantwortung.

Sie kommen dieser Verantwortung nach.

In all den Jahren haben wir nur zweimal verschlafen.

 

Seit ein paar Jahren habe ich dieses strenge Reglement allerdings ein wenig aufgeweicht. Wenn wir extrem erschöpft sind oder meine Kleinen extrem müde oder traurig, dann unterstütze ich sie schon mal mit dem Wecker auf meinem Handy. Aber das kommt nur sehr selten vor. Meine Kleinen sind weiterhin die Herren der Zeit. Sie übernehmen Verantwortung bei unserer gemeinsamen Entwicklung und unserem gemeinsamen Wohlergehen (mittlerweile tun sie das weit, weit über die Zeitkontrolle hinaus), und damit geht es uns allen sehr gut.

 

Wir ziehen hier alle an einem Strang, und wir sind sehr zufrieden damit.

Manchmal erzählen wir uns Lagerfeuergeschichten und schwelgen in „Weißt du noch?“ Und dann wird immer wieder die Zeit ein Thema, als wir noch einen Wecker hatten und den sogar brauchten. … Das ist jetzt schon so lange her. … Weißt du noch?

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