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Der Riss in der Nacht

*** Vorsicht bitte für verwundete Seelen: Dieser Text kann Triggerkram enthalten. ***

 

 

Es war gegen 21:30. Spätherbst. Ich saß in einem dunklen Hotelzimmer am Starnberger See und schaute hinaus in die Nacht. Ohne jede Vorwarnung bekam die Nacht einen Riss. Wie ein schwarzer Vorhang riss sie allmählich von oben bis unten auf. Durch den Riss strömten langsam Bilder und sehr beunruhigende Gerüche in meine Welt. Sehr viel Kraft ging von diesen Bildern und Gerüchen aus.

 

Der Riss vergrößerte sich allmählich, und die Bilder fingen an, meine Welt regelrecht zu fluten. Die Kraft, die von ihnen ausging, begann, alles hinwegzufegen. Das hatte schon eine ziemliche Dynamik. Aber ich war vorbereitet. Ich grub sofort meinen großen Zeh in den Sand. Und dann hielt ich stand. Ich schaute mir das alles ganz genau an. Und dann machte ich mich auf den Weg.

 

Psychotische Schübe gehen bei mir immer einher mit Bildern, die da einfach nicht hingehören. Ich sehe das, was ich sonst auch sehe, und auf einmal tauchen weitere Bilder auf. Das könnt ihr euch so vorstellen, dass auf einmal Dinge durch euer Gesichtsfeld schweben – merkwürdige Elefanten oder Farbschlieren, die an Polarlichter erinnern oder Wesen, die es nach heutigem Kenntnisstand gar nicht gibt. Oder ganz andere Bilder. Meistens machen sie keinerlei Geräusch, sondern schweben da einfach so rum. Oder sie hängen wie riesige Knüpfteppiche in der Gegend rum.

 

Das ist also nur so ein Tipp, Leute – wenn ihr irgendwo zu Fuß unterwegs seid, und auf einmal werdet ihr von einem gemächlich trabenden (aber völlig lautlosen) Eisbären in blau-lila Färbung überholt, der einen Kopf wie eine Teekanne hat, dann ist das vermutlich nicht real. Ihr braucht dann nicht die Bild-Zeitung oder die Tagesschau zu informieren, und auch das Zücken des Handys, um schnell ein Foto oder ein Video für Facebook zu machen, lohnt sich nicht, denn dieses Bild seht nur ihr. (Und füttern kann man diesen Eisbären vermutlich auch nicht).  

 

Ich weiß nicht, wann in meinem Leben das anfing mit meinen Halluzinationen. War ich Kind? War ich Jugendlicher? Aber grundsätzlich ist mir das ziemlich vertraut:

Ich bin irgendwo, und auf einmal sehe ich Dinge, die da nicht hingehören. Oft geht das einher mit einem ganz starken Gefühl einer riesigen, diffusen Bedrohung oder dem Gefühl, von einer ganz starken Kraft weggeschoben zu werden. 

 

Das ist nicht unbedingt angenehm, aber irgendwann war mir das vertraut. Wenn dir die psychotischen Schübe im Zehnerpack geliefert werden, dann stellt sich mit der Zeit eine gewisse Gewöhnung ein.

 

Und als ich mit meiner ersten Psychotherapie begonnen hatte, begriff ich:

Diese psychotischen Schübe enthalten sehr wichtige Botschaften für mich. Nicht Botschaften aus irgendwelchen jenseitigen Welten, sondern Teile von mir, die unerlöst sind, melden sich. Sie zeigen mir, wie es ihnen geht und was sie brauchen. Es ist die einzige Sprache, die sie mir gegenüber finden.

 

Aber jedes Mal, wenn so ein psychotischer Schub vorbei war, stellte ich fest, dass es mir wieder mal nicht gelungen war, diese Botschaft zu entschlüsseln. Das lag daran, dass ich mich immer von dieser Bedrohung und dieser Kraft hinwegfegen ließ und dann nur noch damit beschäftigt war, diese Ängste und diesen Bildersturm irgendwie zu überstehen. Und ich kann euch versichern, dass das bloße Überstehen eines psychotischen Schubs eine ziemliche Aufgabe sein kann. Daran kann man auch scheitern.

 

Trotzdem - ich war sehr ärgerlich. Da hatte ich diese Goldgrube gehabt und war wieder mal nicht in der Lage gewesen, auch nur ein Nugget daraus zu retten. Der Bildersturm war vorbei, ich saß oder lag irgendwo erschöpft in der Ecke, und ich hatte nicht ein einziges Bild zurückbehalten. Nicht ein einziges!

Alle Bilder waren wieder verschwunden.

Wieder so eine wichtige Gelegenheit vertan!

Was für ein Verlust!

 

Also setzte ich mich mit der mir eigenen Energie und Beharrlichkeit hin und begann zu trainieren. Als erstes übte ich, von dieser Kraft nicht mehr weggedrückt zu werden. Dazu stellte ich mir vor, dass ich mich mit dem großen Zeh im sandigen Boden einer Klippe direkt am Meer verankerte, so dass der Sturm mich nicht mehr von der Klippe ins Meer wehen konnte. Und das gelang dann irgendwann auch:

Diese starke Kraft, die von diesem Bildersturm ausging, rüttelte mich durch wie ein starker Sturm. Aber ich wurde nicht mehr weggeweht, weil ich mich mit dem großen Zeh im Sand verankert hatte. Die fulminanten Ängste blieben. Aber ich lernte, auch damit umzugehen.

 

Psychotische Schübe kündigen sich mir häufig dadurch an, dass ich in meinem Hinterkopf und meinem Nacken ein starkes Rauschen höre bzw. spüre. Und mittlerweile ist das bei mir zum Reflex geworden:

Sobald dieses Rauschen einsetzt, grabe ich mich (in meiner Vorstellung) mit meinem großen Zeh in den Sand einer Klippe ein.

 

Als die Nacht riss und die Bilder hereinströmten, hatte sich das nicht durch Rauschen angekündigt. Ich wurde völlig überrascht. Aber da mein großer Zeh sicher verankert war, konnte ich mir das alles anschauen. Und schon nach sehr kurzer Zeit merkte ich, dass ich mehr wollte als nur schauen. Ich wollte da hin. Ich musste dorthin. Dort wurde ich gebraucht, dort war mein Platz.

 

Ich kann euch versichern, dass es irgendwo zwischen Todesmut und völliger Idiotie angesiedelt ist, wenn man einen psychotischen Schub hat und dann ganz bewusst und absichtlich in die Quelle dieses Schubes hineinwill. Aber diese Zone zwischen Todesmut und völliger Idiotie ist mit den Jahren eine Art Zuhause für mich geworden. Da fühle ich mich wohl, da kenne ich mich aus. Für uns (meine Kleinen, meine Innenteile und mich) gilt schon seit Jahrzehnten:

Wir gehen da hin, wo andere nicht hingehen.

 

Anders können wir nicht heilen.

Und wer dem Tod so oft begegnet ist wie wir, für den verändert er sich. Wir nannten ihn damals unseren stillen Zwillingsbruder, unseren „silent twin brother“.

Natürlich ist niemand der Bruder des Todes.

Und sein Zwilling ist auch niemand.

Der Tod ist nach allem, was wir heute wissen, völlig einzigartig und hat keinerlei Verwandtschaft.

Aber er ist uns schon seit sehr langem sehr vertraut. Er ist schon seit sehr langem unser ständiger Begleiter. Wir müssen vermutlich weit weniger mutig sein, wenn wir ihm begegnen als andere Menschen, die nur dann und wann Kontakt mit ihm haben.

 

Aus dem Riss in der Nacht fluteten also Bilder über die ganze Welt, und sehr beunruhigende Gerüche begleiteten sie. Die Angst und die Kraft, die das alles mit sich brachte, verursachten ein lautloses, sturmartiges Getöse. Es war also gar nicht so einfach, sich auf den Riss in der Nacht zuzubewegen. Das war wie das Waten in einem hüfthohen, langsam fließenden Gewässer. Aquagymnastik in psychotischen Bilder – das war schon immer mein Traum gewesen (Ironie). Wer ein Leben führt wie meines, dem ist nur sehr selten langweilig.

 

Es dauerte, aber ganz allmählich kamen wir dem Riss in der Nacht tatsächlich näher. Es war so, als würden wir auf einen sehr entfernten Horizont zugehen. Und obwohl dieser Horizont grundsätzlich unerreichbar war – wir kamen ihm näher.

 

Wir wissen nicht, wie lange das alles gedauert hat. Eine halbe Stunde? Eine ganze Stunde? Ganz allmählich kamen wir voran. Die Bilder wurden intensiver, wir konnten genauer sehen. Aber dann begann der Riss in der Nacht zu verschwinden. Er verblasste allmählich. Die Bilder, die aus ihm herausströmten, verloren ihre Kraft und wurden immer transparenter. Wir versuchten, das zu verhindern. Aber genauso wenig wie du die Morgendämmerung aufhalten kannst, genauso wenig kannst du es verhindern, wenn sich ein Riss in der Nacht wieder schließt. Wir fanden das ganz schrecklich, aber wir mussten uns damit abfinden.

 

Die Nacht schloss sich wieder, und die Bilder und die Gerüche verschwanden wieder. Wir lagen allein in unserem stillen, nachtdunklen Hotelzimmer, und alles sah so aus wie immer. Wir waren so erschöpft wie sonst auch nach einem psychotischen Schub. Aber diesmal hatten wir ein paar Nuggets zurückbehalten. Und obwohl wir beinahe sofort einschliefen, waren wir uns ganz sicher, dass uns diese Erinnerung bleiben würde –

 

an den Riss in der Nacht.

 

 

Epilog

 

Das ist mittlerweile weit über zehn Jahre her.

Und seitdem hatten wir erst einen weiteren Schub dieser Größenordnung. Das hat also seitdem in unserem Leben ganz erheblich nachgelassen.

Unserem ersten Therapeuten haben wir nie von sowas erzählt. Er wäre damit auf eine Art umgegangen, die uns in keiner Weise recht gewesen wäre.

Und natürlich weiß auch sonst beinahe niemand davon. Die meisten Menschen gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass es nur eine Realität gibt und halten alles, was davon abweicht, für eine Krankheit. Damit wollen wir uns nicht auseinandersetzen müssen.

 

Aber für all die da draußen, die es so schwer erwischt hat wie uns, und die heilen wollen:

Wir haben den Eindruck, dass für solche wie uns Heilung nur möglich ist, wenn wir da hin gehen, wo andere nicht hingehen. (Und dieses „andere“ schließt die allermeisten Psychotherapeuten ausdrücklich mit ein – die gehen auch nicht dahin, wo andere nicht hin gehen. Die gehen nur dahin, wo es sicher ist – wo schon ganz viele andere vor ihnen waren). Unser Eindruck ist dieser: Wenn wir heilen wollen, dann müssen wir an die äußersten Grenzen gehen – und darüber hinaus, sonst haben wir keine Chance. Und möglicherweise muss es dann so sein, dass die Grenze zwischen Realität und Psychose zu einem Ort der Begegnung wird.

 

Hermann Hesse schrieb in seinem Steppenwolf wortreich von einem magischen Theater, das „nur für Verrückte“ war. Wir haben nicht den Eindruck, dass er wusste, wovon er schrieb. Sein ganzes Leben lang schrieb er über seelisches Leid und alles, was daraus folgte, wie jemand über einen Kontinent schreibt, den er nie bereist hat. Er war ein Karl May der Seele. Auch in dieser Hinsicht ähnelte er den allermeisten Psychotherapeuten. Wenn du dich deinen Psychosen nähern willst, dann überlege dir bitte ganz genau, was du da tust. In der Psychose zu versinken und da nicht wieder rauszukommen gehört in unserer Welt zum Schrecklichsten, was einem Menschen passieren kann. (Und wir haben aus dem, was wir erlebt haben, durchaus Erfahrung mit einer ganzen Spannbreite von Schrecknissen, die das Leben dir bieten kann. Bei sehr vielen dieser Schrecknisse zucken wir mittlerweile nur mit den Schultern und sagen: „Ja, und?“ Aber vor der Psychose haben wir wirklich Respekt. Das ist wie Treibsand, unergründlicher Sumpf und Magnetberg in einem).

 

Dennoch - unsere Erfahrung ist diese:

Wenn du vor der Psychose davonrennst, dann lässt du ganz vieles zurück und im Stich, was für deine Heilung unerlässlich ist. In der Psychose sind Teile und Kräfte von dir gebunden, ohne die du niemals vollständig sein wirst – nicht mal annähernd. Du brauchst diese Teile und diese Kräfte, um zu heilen, um wieder ganz zu werden. Das ist kein Grund, psychotisch zu werden. Aber es ist ein Grund, die Psychose nicht als Krankheit zu betrachten oder als irgendwas, was böse ist. Sie ist schweinegefährlich, keine Frage. Aber sie ist wichtig.

 

Es gibt dabei noch diese Einschränkung:

Wir haben niemals Drogen oder irgendwelche bewusstseinsverändernden Substanzen genommen (danke, unser Innenleben ist auch ohnedies reich und aufregend genug). Wir haben keine Ahnung, was mit stoffinduzierten Psychosen ist – welche Dynamik und welchen Nutzen die haben. Wir schreiben hier einzig von unserer Erfahrung mit Psychosen, die aus dem resultierten, was wir als Kind und Säugling erlebt haben.

 

 

Zusammenfassend

Wenn ihr Viele seid und heilen wollt:

Wir wünschen euch, dass ihr heilen könnt, egal, welchen Weg ihr geht.

Seid mutig und vorsichtig gleichzeitig. Seid besonnen und wagemutig.

 

Unsere besten Wünsche begleiten euch.

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