Es gibt viele neurotypische Konzepte, zu denen ich innerlich so wenig Zugang habe, dass ich nicht verstehen kann, worum es eigentlich geht. Selbst, wenn ich lange Gespräche mit NTs führe, kann ich nur schemenhaft erahnen, was sie nun genau meinen. Ich höre die Worte. Ich verstehe sie. Aber ich begreife nicht, worum es den NTs geht.
Eines dieser Konzepte ist
„Gib mir deine Liebe.“
Ich verstehe es nicht. Wenn jemand mit so einem Ansinnen auf mich zukäme, würde ich ihn fragen, was ich machen müsste. Spontan hätte ich die Idee, an meine Liebe zwei Henkel dranzuschrauben, sie nett zu verpacken und sie ihm zu geben. – Was immer das auch in der Praxis bedeuten mag.
Beinahe alle NTs, mit denen ich gesprochen habe, gingen wie selbstverständlich davon aus, dass eine Beziehung „ein ständiges Geben und Nehmen“ sei. Nochmal: Ich verstehe nicht. In einer Beziehung gebe ich nicht, und ich nehme nicht. Der andere hat nichts, was ich gerne hätte, und ich habe nichts, was ich ihm geben könnte. Eine Beziehung zu führen bedeutet für mich, dass wir beide gleichzeitig da sind. Aber wir nehmen nichts, und wir geben nichts. Wir sind beide gleichzeitig da, und das ist auch schon alles.
Beinahe alle NTs, mit denen ich gesprochen habe, gingen wie selbstverständlich davon aus, dass man in einer Beziehung „füreinander da“ sei. Was das genau bedeuten soll, kann ich nur erahnen. Es wäre für mich grauenhaft, wenn ich für jemand anderen da wäre oder jemand anders für mich da sein wollte. Was für ein Unsinn! Der andere kann doch auch nicht für mich atmen oder essen. Ich bin da, der andere ist da, und gut ist. Meine sozialen Bedürfnisse sind auch in einer Beziehung vergleichsweise gering, und es ist bitte niemand für mich da. Genauso will ich nicht für jemanden da sein müssen. Ich lebe mein Leben, und du lebst dein Leben, und wenn wir das gemeinsam tun können, ist das eine wunderschöne Sache. Jemanden zu haben, mit dem ich mein Leben teilen kann, ist für mich etwas wunderbares.
Beinahe alle NTs, mit denen ich gesprochen habe, gingen wie selbstverständlich davon aus, dass man sich in einer Beziehung gegenseitig unterstützt. Auch das ist etwas, was mir vergleichsweise fremd ist. Wenn ich Unterstützung brauche, dann suche ich sowas nicht in einer Beziehung, sondern besorge mir professionelle Hilfe. Wobei soll der andere mich unterstützen? Die Waschmaschine anschließen? Wasserrohre verlegen? Inneneinrichtung planen?
Ich gestalte mein Leben immer so aus, dass ich das lerne, was ich noch nicht kann. Und wenn mir das zu mühsam ist, dann bitte ich jemand anderen, dass er das für mich macht, und bezahle ihn dafür.
Natürlich können wir in einer Beziehung auch einen Austausch vereinbaren:
Ich kaufe für dich ein, dafür schließt du die Waschmaschine an. Das ist dann aber kein füreinander da sein, sondern eine faire und transparente Austauschbeziehung.
Beinahe allen NTs, mit denen ich gesprochen habe, war es extrem wichtig, dass der Partner ihnen zuhört. Aber das ist die Art der meisten NTs, in der Welt zu sein: Sie wollen reden. Sie wollen beinahe ständig reden. Sie haben so ziemlich immer irgendwas auf dem Herzen. Und um das loszuwerden reden sie. Und wenn sie gerade nichts auf dem Herzen haben, was sie loswerden wollen, dann reden sie, um Kontakt aufzunehmen oder zu halten. Wenn niemand was sagt, erleben sie das als Kontaktabbruch. Und wenn sie selbst das nicht wollen, weil ihre sozialen Kontaktbedürfnisse gerade befriedigt sind (was sehr selten vorkommt), dann quasseln und plappern sie, damit es nicht still ist.
Wer ein so intensives Redebedürfnis hat, der braucht natürlich jemanden, der ihm zuhört. Wenn zwei Menschen aufeinander treffen, die gleichzeitig ein intensives Bedürfnis nach Reden haben, kann es schwierig werden, keine Frage.
Aber meine Art, in der Welt zu sein, ist sowieso das Schweigen und das Zuhören. Natürlich sage ich auch mal was. Aber normalerweise höre ich zu. Und auch das ist für mich kein „Geben“.
Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, verschönert mir den Tag regelmäßig dadurch, dass sie sich mit mir abstimmen will. Sie will wissen, was ich den ganzen Tag machen werde oder gemacht habe. Genauso will sie mir erzählen, was sie den ganzen Tag machen wird oder gemacht hat. Alles soll berichtet werden – im Detail, in epischer Breite und mit vielen Wiederholungen.
Dafür stehe ich nicht zur Verfügung.
Ich stimme mich nicht ab. Mit niemandem. Ich bin Einzelgänger. Und vor allem erzähle ich nicht, wie mein Tag war. Und nein, es interessiert mich auch nicht, wie dein Tag war. Wenn du unbedingt davon erzählen musst, dann such dir jemand anderen dafür.
Natürlich – wenn es besondere Ereignisse gab, kannst du mir davon berichten. Aber mach‘ das kurz und knapp und vor allem, ohne dich zu wiederholen. Setze mich ins Bild, damit ich begreife, was dich beschäftigt. Wenn ich nicht verstehe, werde ich nachfragen. Aber erzähle mir nicht in epischer Breite, wie dein Tag war. Es interessiert mich nicht, und ich empfinde es als sehr belastend, wenn du das tust.
Wenn NTs mit mir in einer Beziehung leben, ist eine meiner Hauptaufgaben, sie mir vom Hals zu halten. Denn sie wollen, dass ich ihnen was gebe. Ich habe aber nichts zu geben. Oder noch viel schlimmer: Sie wollen mir was geben. Bitte gib mir nichts. Du hast nichts, was ich gerne hätte. Was immer du mir geben willst - ich kann damit nichts anfangen. Ich erlebe es als Belastung, wenn du mir was gibst. Es reicht mir völlig, wenn du da bist. Alles, was darüber hinausgeht, ist ein Zuviel, eine Belastung und völlig überflüssig.
In einer Beziehung will ich da sein.Und wenn der andere auch da ist, dann kann das wunderschön sein. Beziehung ist für mich also nicht Geben und Nehmen, sondern gemeinsam da sein.
Und das ist auch schon alles.
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