Die Gesprächskämpfer

Wenn ich mit Menschen spreche, dann höre ich ihnen zu, denn ich will sie verstehen und begreifen. Manchmal werde ich gefragt, warum ich in so einem Gespräch nur zuhöre und nicht offensiver meine Meinung vertrete. Meine Standardantwort ist:

„Meine Meinung kenne ich schon. Ich bin hier, weil ich was neues erfahren will.“

 

Aber das ist nur die halbe Wahrheit.

Ja, ich will was neues erfahren und den anderen und seine Sichtweise verstehen. Das ist mir sehr wichtig.

Aber wenn es um meine Meinung geht, dann will ich vor allem rausbekommen, wo Schwächen und Fehler in meiner Sichtweise sind. Oder anders ausgedrückt:

Wenn ich tatsächlich mal rede, dann geht’s mir beinahe nie darum, meine Meinung zu vertreten, sondern darum, rauszukriegen, was wahr, richtig und real ist. Wo habe ich etwas übersehen? Wo habe ich falsch gedacht? Wo habe ich eine wichtige Perspektive zu wenig beachtet? Wie kann ich mich weiterentwickeln?

 

Und wie könnte ich mich weiterentwickeln, wenn ich diese kostbare Zeit damit verbringen würde, den anderen mit meiner Sicht der Dinge zuzutexten? Meine Sicht der Dinge kenne ich schon. Was habe ich davon, wenn der andere meine Sichtweise annimmt und akzeptiert? Warum sollte mir das wichtig sein?

Wenn er sie hinterfragt und auf Schwächen abklopft, ist mir das sehr recht.

Aber andere von meiner Meinung, von meiner Sicht der Dinge überzeugen – warum um alles in der Welt sollte ich sowas tun wollen? Der andere überzeugt sich selbst oder er lässt es. Ich nehm’s, wie’s kommt.

 

Viele Menschen in meinem Umfeld wollen unbedingt mit mir reden. (Das Verhältnis von (a) Ich bitte jemanden darum, mit mir zu reden und (b) jemand anderer bittet mich, mit ihm zu reden ist ungefähr 1:100). Diese Menschen wollen mit mir reden. Es ist ihnen ein Herzensbedürfnis. Und dabei scheinen zwei Motive absolut im Vordergrund zu stehen:

1.    Sie wollen mir von sich berichten.

2.    Sie verstehen jedes Gespräch als Kampf und wollen sich mit mir messen und mich besiegen.

 

Heute will ich die zweite Motivation genauer unter die Lupe nehmen (Sprachbild) und dabei zwei Aspekte beleuchten

a)    Was bewegt Menschen, die jedes Gespräch als Kampf begreifen und im Gespräch unbedingt siegen müssen?

b)    Wie kann ich damit umgehen, dass jemand mit mir auf diese Weise kämpfen und mich besiegen will?

 

 

Was bewegt Menschen, die jedes Gespräch als Kampf begreifen?

 

Diese Menschen scheinen so in der Welt zu sein, dass es immer ein Oben und ein Unten, ein Richtig und ein Falsch, Sieger und Besiegte gibt. Dazwischen scheint es in ihrer Welt nicht sehr viel zu geben.

 

Diese sehr starke Einschränkung der Wahrnehmung und des Denkens lässt auf eklatante Schwächen in der intellektuellen Kapazität oder auf sehr tiefe und weitreichende innere Verletzungen schließen (oder auf beides).

 

Wenn unser intellektueller Horizont beschränkt ist, dann müssen wir die Komplexität der Welt, die uns umgibt, so weit reduzieren, dass wir diese Komplexität meistern können. Da der intellektuelle Horizont eines jeden Menschen ziemlich beschränkt ist, macht ein jeder Mensch das so. Der eine macht es stärker, der andere macht es weniger stark.

 

Ich will das am Beispiel von Motiven erläutern. Motive sind auf deutsch „Beweggründe“. Ein Motiv ist also der Grund, sich zu bewegen.

In der wissenschaftlichen Psychologie sind buchstäblich hunderte Motive untersucht und beschrieben worden.

 

Vor einigen Jahren hab‘ ich mal ein Seminar zu diesem Thema gegeben – Was bewegt Menschen, etwas zu tun oder nicht zu tun? In diesem Seminar fiel mir ein Mann auf, der lange Jahre als Abteilungsleiter in der Zentrale eines der größten Autobauer der Welt gearbeitet hatte. Durch verschiedene Äußerungen, die dieser Mann gemacht hatte, hatte ich den starken Verdacht, dass er nicht „Hier!“ geschrien hatte, als die Intelligenz verteilt wurde.

 

Und schon in der Mitte des ersten Tages dieses Seminars schaute er mich fest an und sagte mit Überzeugung und Nachdruck:

„Herr Stiller, das einzige, was Menschen motiviert, ist Angst.“

Ich war verdutzt. Das entsprach nicht dem Stand der Forschung. Aber dieser Mann war felsenfest überzeugt und hatte deutlich mehr Lebenserfahrung als ich. Ich schaute ihn mir sehr genau an.

Dann antwortete ich ihm:

„Das glaube ich Ihnen.“

 

In diesem Mann trafen eindeutig eine einfach strukturierte intellektuelle Kapazität auf schweren Schädigungen aus der frühen Kindheit. Aus seiner Sicht hatte dieser Mann also vollkommen recht. Er hatte die Komplexität einer ihn ängstigenden Welt auf ein Maß reduziert, das für ihn handhabbar war: Seine Welt bestand aus Angst, und Angst war das einzige, was in seiner Welt motivierte – vollkommen klar und vollkommen richtig. 

 

Wenn ich dagegen mich sehe – ich berücksichtige bei meiner Arbeit ungefähr zwei Dutzend Motive, die in Wissenschaft und Forschung gut beschrieben und dokumentiert sind. Aber verglichen mit dem, was es tatsächlich an Motiven gibt, ist das beinahe nichts. Also reduziere auch ich die Komplexität der Welt auf ein Niveau, das mir handhabbar erscheint. Ich bin genauso dumm wie der Mann, den ich gerade beschrieben habe, nur auf einem anderen Niveau. Verglichen mit dem, was an Intelligenz tatsächlich möglich wäre (zum Beispiel bei außerirdischen Lebensformen) sind wir Menschen alle ziemlich dumm – die einen mehr, die anderen weniger, aber der Unterschied ist wirklich nicht besonders groß.

 

Kommen wir also zu den seelischen Verletzungen, die Menschen zu Gesprächskämpfern werden lassen.

 

Beinahe jeder Mensch, der mir bislang als Gesprächskämpfer gegenübertrat und mich im Gespräch unbedingt besiegen wollte, war in seinem Inneren seines eigenen Selbstwertes extrem unsicher. Oder präziser ausgedrückt:

Diese Menschen hatten (ohne das zu wissen bzw. sich selbst gegenüber zuzugeben) eine derart schlechte Meinung von sich selber, dass sie permanente Siege brauchten, um das nicht mehr spüren zu müssen. Dieses Vermeidungsverhalten hat sie beruflich oft sehr erfolgreich gemacht. Sie waren die ganze Zeit von Sieg zu Sieg geeilt. Sie waren beruflich erfolgreich und totunglücklich. (Wenn du ein Loch in der Seele hast, dann kannst du es nicht mit Dollarscheinen oder sozialem Ansehen stopfen).

 

Wenn du andere im Gespräch besiegen musst, um deinen eigenen Unwert nicht mehr spüren zu müssen, dann wirkst du ziemlich kläglich auf mich. Das liegt daran, dass du ein ziemlich klägliches Leben lebst. Denn in deinem Inneren geht es dir überhaupt nicht gut. Das kannst du noch so oft und noch so bemüht überspielen wollen – jede Faser deines Seins erzählt mir von deinem tiefen und dauernden Unglück. Und jeder „Sieg“, den du im Gespräch erringst, vertieft und verstetigt dieses Unglück.

 

Einschub

Solchen Menschen begegne ich immer wieder im Coaching. Manchmal, sehr selten, kommen wir im Coaching zum Kern dieser Angelegenheit. Und dann sage ich so kryptische Sachen wie:

„Wenn du nicht verlieren willst, dann wirst du verlieren.“

Das hört sich so weise an, dass ich dann innerlich immer sehr kichern muss.

Einschub Ende

 

 

Kommen wir dazu, wie ich mit diesen Gesprächskämpfern umgehe, wenn sie mich in den Kampf zwingen wollen.

 

 

Wie gehe ich mit Gesprächskämpfern um?

 

Früher habe ich versucht, mich in so einem Gespräch zu behaupten. Da mein sprachlicher IQ sehr hoch ist, ist es beinahe unmöglich, mich in einem Gespräch zu besiegen.

 

Aber nach so einem Gesprächssieg habe ich mich dann immer schal, leer, kalt und sehr unwohl gefühlt.

 

Also habe ich das gelassen.

 

Heute wende ich ganz verschiedene Techniken an, um aus dem Kampf einen Nichtkampf zu machen.

 

 

1

Ich nehme den Kampf nicht an.

 

Beliebte Fallen, um mich in einen Gesprächskampf zu locken, hören sich so an:

„Ja, was sagst du denn dazu?“

oder

„Nun sag‘ doch auch mal was dazu!“

 

Aber wenn ich den Kampf nicht annehme, dann kann er auch nicht stattfinden.

Meistens gehen die Dialoge dann so:

„Ja, was sagst du denn dazu?“

„Nichts.“

 

„Nun sag‘ doch auch mal was dazu!“

„Ja, was soll ich denn sagen?“

 

 

An dieser Stelle gebe ich dem Gesprächskämpfer also Gelegenheit, innezuhalten und sich gewahr zu werden, was er da eigentlich macht. Aber die meisten Gesprächskämpfer sind nicht im Kampf, weil sie das so lustig finden, sondern weil sie von ihren inneren Verletzungen mit Flammenpeitschen in den Kampf getrieben werden. Also machen sie weiter. Ein Kampf – oder noch besser ein Sieg – muss her, damit sie nicht fühlen müssen, was in ihnen ist.

 

 

2

Ich laufe weg

 

Beinharte Gesprächskämpfer (und sie sind beinahe alle beinhart) lassen die Dialoge weiterlaufen. Das hört sich dann so an:

 

„Ja, was sagst du denn dazu?“

„Nichts.“

„Ja, du sagst ja auch nie was!“

 

oder

 

„Nun sag‘ doch auch mal was dazu!“

„Ja, was soll ich denn sagen?“

„Sag‘ einfach, was du dazu denkst. Eine Meinung dazu wirst du ja wohl haben!“

 

In so einer Situation gehe ich dann oft „aus dem Feld“. Ich verlasse unter einem Vorwand den Raum, bringe das Gespräch auf ein anderes Thema oder sorge auf andere Weise dafür, dass die Kommunikation an dieser Stelle abbricht.

 

Nochmal:

Ein Kampf, den ich nicht annehme, der kann auch nicht stattfinden.

 

 

3

Ich konfrontiere

 

Es gibt sehr oft Situationen, in denen es nicht angebracht ist, aus dem Feld zu gehen. Dann bleibe ich erst mal da und konfrontiere den anderen mit dem, was er da gerade macht. Dann gehen die Dialoge so weiter:

 

„Ja, was sagst du denn dazu?“

„Nichts.“

„Ja, du sagst ja auch nie was!“

„Gerade eben habe ich was gesagt.“

 

oder

 

„Nun sag‘ doch auch mal was dazu!“

„Ja, was soll ich denn sagen?“

„Sag‘ einfach, was du dazu denkst. Eine Meinung dazu wirst du ja wohl haben!“

„Meine Meinung ist, dass ich darüber nicht auf dieser Ebene reden will. Ich habe ein sehr ungutes Gefühl dabei.“

 

Mit diesen Sätzen lade ich den anderen ein, in die Realität zu kommen und auf einer Ebene, die weder Sieger noch Besiegte kennt, weiterzureden. Manchmal lässt sich der Gesprächskämpfer einladen, kooperativ weiterzusprechen. Meistens ist er jedoch weiterhin auf Kampf gepolt.

 

 

4

Ich verwirre

 

Wenn ich dem Kampf nicht ausweichen kann und sich mein Gesprächspartner auch nicht einladen lässt, auf einer kooperativen Ebene weiterzusprechen, verwirre ich den anderen gerne. Jemand, der verwirrt ist, kann in aller Regel seine Energien nicht fokussieren und seine Kräfte nicht bündeln. Manchmal lässt er dann auch ganz ab vom Kampf. Hauptmittel zum Verwirren sind für mich Fragen.

 

„Ja, was sagst du denn dazu?“

„Nichts.“

„Ja, du sagst ja auch nie was!“

„Was sage ich denn nie?“

„Ja, das, was du denkst!“

„Ja, was soll ich denn denken?“

„Ja, das weiß ich doch nicht.“

„Siehst du, dann sind wir schon mal zwei.“

„Wie meinst du das?“

„Du weißt nicht, was ich denken soll, und ich weiß das auch nicht.“

 

oder

 

„Nun sag‘ doch auch mal was dazu!“

„Ja, was soll ich denn sagen?“

„Sag‘ einfach, was du dazu denkst. Eine Meinung dazu wirst du ja wohl haben!“

„Wie viele Meinungen willst du denn von mir hören?“

„Wie – wie viele Meinungen? Du wirst ja wohl eine Meinung dazu haben!“

„Ja, und wenn ich mehrere Meinungen dazu habe, was dann?“

 

 

5

Ich lasse den Angriff ins Leere laufen

 

Jeder, der etwas tut, hat einen guten Grund, aus dem er es tut, sonst täte er es ja nicht. Und es geht nicht darum, ob ich diesen Grund gut finde oder nicht – wesentlich ist, dass der andere diesen Grund gut findet.

Dasselbe gilt für Sichtweise und für Meinungen:

Wenn jemand eine Meinung vertritt, gilt fast immer:

Aus seiner Sicht hat er recht. Vollkommen recht. Sonst würde er diese Meinung nicht äußern.

 

Wenn ich den Stoß eines Gesprächskämpfers ins Leere laufen lassen will, mache ich mir diese Sicht der Dinge zunutze. So war das zum Beispiel, als mal eine Eheberaterin einen Kampf mit mir wollte.

Wir waren zu dritt im Raum: Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, die Eheberaterin und ich. Die Frau, mit der ich den jure verheiratet bin, hatte sich in epischer Breite über mich ausgelassen und dabei einen Monolog gehalten, der deutlich über 15 Minuten gedauert hatte. Ich hatte schweigend daneben gesessen.

 

Dann wollte die Eheberaterin den Kampf mit mir. Und so entwickelte sich dieser Dialog:

 

„Ja, was sagen Sie eigentlich dazu?“

„Ja, nichts.“

„Aber sie haben doch gehört, was Ihre Frau gesagt hat.“

„Ja.“

„Und sie hören, wie schlecht es ihr geht.“

„Das ist ihr gutes Recht.“

„Ja stimmt denn das, was Ihre Frau da über Sie gesagt hat.“

„Ich gehe davon aus. Sie ist eine kluge Frau. Und wenn sie das sagt, dann wird das schon stimmen.“

 

Der andere hat aus seiner Sicht vollkommen recht. Sonst würde er nicht so reden. Wenn ich das anerkenne und wertschätzend darauf eingehe, geht sein Angriff auf mich ins Leere.

Das ist kein „Du hast recht und ich hab‘ meine Ruhe.“ Du hast recht und ich hab‘ meine Ruhe signalisiert in meinen Augen dem anderen, dass er bzw. seine Sichtweise nicht wert sind, sich damit auseinanderzusetzen. Das ist in meiner Welt nicht wertschätzend. Wenn ich dem anderen jedoch signalisiere: „Aus deiner Sicht hast du völlig recht. Ich respektiere deine Sichtweise, auch wenn sie nicht meine ist“, dann ist das aus meiner Sicht wertschätzend.

 

 

6

Ich kämpfe

 

Wenn ich kämpfen muss, dann tue ich das. Das tue ich so effektiv und so effizient wie möglich. Ich achte dann darauf, dass ich meinen Gegner so wenig wie möglich schädige oder bloßstelle. Er hat eh schon ein ganz schlechtes Bild von sich selber, das muss ich nicht auch noch dadurch verstärken, dass ich ihn schädige oder demütige.

 

 

Wer kämpft, um zu siegen, der wird verlieren.

So ist das nun mal.

 

(Und meine Kleinen kichern).

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Kommentare: 1
  • #1

    lemonbalm (Samstag, 05 Juni 2021 23:36)

    Danke