Ich bin schwerhörig. Ich habe ungefähr 50% des normalen Hörvermögens. Als ich ein Kind war, haben meine leiblichen Eltern so oft und so viel auf mich draufgehauen, dass beide Trommelfelle (mehrfach) gerissen sind. Da das nie ärztlich behandelt wurde, sind beide Trommelfelle ziemlich vernarbt.
So kommt es bei mir öfter als bei anderen vor, dass ich nachfragen muss, wenn jemand was gesagt hat, weil ich es akustisch nicht verstanden habe.
Diese Form der Schwerhörigkeit ist in der Medizin gut bekannt und gut beschrieben. Man könnte sie „physikalische Schwerhörigkeit“ nennen, denn sie hat physikalische Ursachen.
Heute will ich über eine andere Form der Schwerhörigkeit berichten, die ich im Umgang mit NTs sehr häufig erlebe. Diese Schwerhörigkeit ist genauso eklatant wie meine, hat aber eindeutig soziale Ursachen, denn mit dem physikalischen Hörapparat dieser Menschen ist alles in Ordnung.
Worum geht’s?
Ich will es anhand von Beispielen beschreiben:
1
Zwei NTs unterhalten sich:
„Ich muss noch Gemüse kaufen. Und Kartoffeln.“
„Ja, richtig und Eier – ich brauch‘ noch Eier, gut dass, du’s sagst.“
„Bei den Kartoffeln achte ich ja immer darauf, dass ich die aus der Region bekomme.“
„Und die Eier müssen mindestens aus Freilandhaltung sein. Das ist mir wichtig.“
„Denn sonst kommen die von weiß ich woher und all das CO2 beim Transport, das ist doch gar nicht nötig. So Kartoffeln sind ja ziemlich schwer, ne?“
„Aber Bio-Eier sind natürlich immer noch die besten. Ich schwör ja auf Bio.“
Dieses Beispiel ist fiktiv. Aus Platzgründen habe ich hier kein echtes Gespräch aus meinen Aufzeichnungen nehmen können. Aber grundsätzlich haben die meisten NTs das drauf: Da laufen zwei Monologe nebeneinander, es hört sich aber an wie ein Dialog. Ich habe es mehrfach ausprobiert und solche sozialen Monologisierer gefragt:
„Hast du gehört, was der andere gerade gesagt hat?“
Und im Regelfall kann keiner der beiden am „Gespräch“ Beteiligten wiedergeben, was der andere gesagt hat. Sie haben’s einfach nicht gehört. Sie haben hier und da noch ein Stichwort wahrgenommen, aber das war’s dann auch schon.
Der ganze Rest dessen, was der andere gesagt hat, ist komplett der sozialen Schwerhörigkeit zum Opfer gefallen.
2
Es ist eine echte Diskussion zwischen NTs entstanden. Beide streiten recht konstruktiv zu einem Sachverhalt, über den sie verschiedene Ansichten haben.
„Wenn du behauptest, dass wir da mit gelber Farbe ranmüssen, dann kann ich dem gar nicht zustimmen. Schon aus Umweltgründen nicht.“
„Aber das habe ich doch gar nicht gesagt.“
„Gelbe Farbe basiert fast immer auf Cadmiumverbindungen und die sind – in die Natur eingebracht – irgendwann immer toxisch, speziell für Insekten.“
„Aber ich will doch gar keine gelbe Farbe.“
„Wir müssen hier also zu einer anderen Lösung kommen.“
„Aber ich habe doch nie gesagt, dass ich gelbe Farbe will!“
„Wir sollten bei allen Lösungen, die wir finden, darauf achten, dass wir die Umweltstandards einhalten.“
Auch in solchen Situationen habe ich häufiger eingegriffen und gefragt:
„Hast du gehört, was der andere gerade gesagt hat?“
Und nein, es war nicht gehört worden.
3
Ich will eine Zeitschrift am Kiosk kaufen, weiß aber nicht, ob ich genug Geld dabeihabe.
„Guten Tag, haben Sie „Spektrum der Wissenschaft?““
„Ja, haben wir. Hier, gucken Sie mal, hier ist die Ausgabe von Februar, von Januar und … wo ist sie denn? … ja, die vom Dezember ist auch noch da. Da haben Sie nochmal Glück gehabt.“
„Was kostet eine Ausgabe?“
„Wir haben aber auch noch „Bild der Wissenschaft“, wenn Ihnen das lieber ist und irgendwo habe ich auch noch „PM“.“
„Nein, „Spektrum der Wissenschaft“ bitte. Die anderen sagen mir nicht so zu. Was kostet ein Exemplar?“
„Also, wenn Sie Wert drauf legen – wir haben hier auch noch den „Scientific American“, das Original sozusagen, das wird immer wieder von Offizieren der amerikanischen Armee gewünscht.“
Und so weiter.
Soziale Schwerhörigkeit.
Soziale Schwerhörigkeit ist bei NTs derart verbreitet und alltäglich, dass ich mich mittlerweile gar nicht mehr darauf einstelle, bei einem Gespräch mit ihnen beim ersten Mal gehört und verstanden zu werden. Es ist mir zur zweiten Natur geworden, dass ich in einem Gespräch mit einem NT Sicherungen einbaue, mit denen ich überprüfe, ob er mich überhaupt gehört hat:
„War das jetzt nachvollziehbar für dich?“
„Habe ich mich verständlich ausgedrückt?“
„Ist das soweit klar geworden?“
Und so weiter.
Manchmal wiederhole ich auch einfach stur und stumpf den immer selben Satz oder dasselbe Wort, bis ich den Eindruck habe, durchzudringen.
Beispiel:
Ein Projektleiter bittet mich, ein Konzept zu entwickeln. Ich will wissen, bis wann das fertig sein muss.
„… also bring da noch mit rein, wie das Marketing sich mit Compliance abstimmt.“
„Kann ich machen. Bis wann brauchst du das?“
„Und vergiss nicht, diesmal die Powerpoints im Querformat zu machen.“
„Werd‘ ich tun. Bis wann brauchst du das? Wann ist der Abgabetermin?“
„Das hat damals ja für ziemlich Aufsehen gesorgt, als dein Projekt auf einmal alles im Hochformat ablieferte.“
„Ich werd‘ dran denken. Wann ist Abgabetermin?“
„Wobei – wir müssen uns auch noch mit dem Projekt CPM kurzschließen.“
„Abgabetermin?“
„Nicht, dass die auf dieselben Programmierressourcen wie wir zugreifen wollen. Wir müssen da Doppelarbeiten verhindern.“
„Abgabetermin?“
„Das wird sowieso noch hektisch. Alle wollen irgendwas programmieren und keiner hat Programmierer. Da müssen wir uns echt drauf einstellen. Das wird noch echt’n Flaschenhals!“
„Abgabetermin?“
Und so weiter. (Wäre das ein Musikstück, stünde hier jetzt vermutlich „Da capo al fine“).
Wie sieht das aus, wenn Autisten miteinander sprechen?
Ich habe jetzt nicht so viel Erfahrung mit Gesprächen, die Autisten miteinander führen. Ich kann mich jedoch nicht erinnern, irgendwann in einem Gespräch mit einem AS den Eindruck gehabt zu haben, es mit sozialer Schwerhörigkeit zu tun zu haben.
Und wenn ich im Autismusforum von Professor Vogeley in Köln war, lief das sowieso immer vorbildlich:
Zwanzig oder dreißig Autisten sitzen in einem Hörsaal (schön viel Abstand zwischen den einzelnen Leuten), einer sagt was, alle anderen hören schweigend zu. Dann ist Stille. Dann sagt der nächste was, alle anderen schweigen und hören zu.
Und so weiter.
Dazu brauchte es keine komplizierten Regeln und auch keinen Schiedsrichter.
Die Autisten sprachen eben auf diese Weise. Es entsprach offenbar ihrer Art, in der Welt zu sein.
Ich empfand das immer als sehr angenehm.
Natürlich ist bei der Kommunikation von Autisten untereinander auch nicht alles Gold, was glänzt (Sprachbild). Speziell, wenn ihre Spezialinteressen berührt sind, kann es sehr schnell ziemlich hitzig werden. Aber soziale Schwerhörigkeit? Wenn das bei Autisten vorkommt, scheint mir das doch wesentlich seltener zu sein als bei den NTs.
Soziale Schwerhörigkeit kann vermutlich als ein integraler Bestandteil des Neurotypischen Syndroms betrachtet werden.
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NT-Aushalter (Sonntag, 23 Mai 2021 20:28)
„Habe ich mich verständlich ausgedrückt?“
„Ist das soweit klar geworden?“
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Vorsicht mit diesen Begriffen, vor allem wenn ranghöhere Auftrags- oder Arbeitgeber angesprochen werden.
Dies kann ganz schnell als passiv- aggressiv ausgelegt werden. Leider.
Schnell geht es dann nicht mehr um die Sache, sondern um die Eitelkeiten...
Natürlich wird es auf den Tonfall auch ankommen und die Körpersprache.
Gut geht der Cocacola Effekt, also die Wiederholung, was man wirklich wissen will, also wann denn nun Einsendeschluss oder neuerdeutsch Deadline ist.
Oder es wie Inspektor Columbo machen ganz am Schluss:
"Ich hätte da noch eine Frage..."