Gesund

„Gesundheit ist ein Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen.“

Definition der WHO

 

 

Vor ein paar Tagen bekam ich eine Mail von einem NT, der in meinem Leben ist. Er schrieb mir unter anderem, dass er gesund sei. Er ist so alt wie ich – also knapp 60 –, und in diesem Alter findet sowas schon mal Erwähnung, auch in privaten Mails.

 

Ich freute mich für ihn, als ich das las. Und ich dachte:

„Gesund?“

 

Ich weiß nicht, ob ich mich überhaupt irgendwann in meinem Leben gesund gefühlt habe. Eher nicht. Und ich kenne keinen AS, der gesund ist. Es wird solche AS geben, keine Frage. Aber ich kenne sie nicht. Gesund scheint in unserer Welt eher was für die NTs zu sein. 

 

Die AS, die ich kenne, sind alle chronisch krank. Ohne jede Ausnahme. Sie machen kein Gewese drum. Sie nehmen ihre Medikamente und gut ist. Aber mit einem kranken Körper zu leben ist genauso Bestandteil ihres Lebens wie ihr Autismus. Und ihre Krankheit resultiert nicht aus einer ungesunden Lebensweise oder schlechter genetischer Ausstattung, sondern aus zwei Belastungsfaktoren, denen sie seit frühester Kindheit unentrinnbar ausgesetzt sind:

1.   Geradezu unmenschliche soziale Drücke seitens der NTs: „Sei anders, sonst akzeptieren wir dich nicht!“

2.   Leben in einer Welt der permanenten Reizüberflutung. Alle Sinnesorgane sind chronisch überlastet.

 

Einschub

Seit einiger Zeit spricht und schreibt man eher weniger von AS – Asperger-Syndrom, sondern eher von ASS – Autismus-Spektrums-Störung. Und das ist diskriminierend. Das ist herabwürdigend. Wer Autist ist, der ist nicht gestört. Wer Autist ist, ist anders. Anders ist nicht gestört, sondern anders. Die Autisten, die ich kenne, sind allesamt völlig in Ordnung und nicht gestört. Sie sind Autisten und eben nicht Neurotypische. Aber so ist das halt. Autist zu sein ist in Ordnung und nicht gestört, und daher will ich, dass aufgehört wird, von ASS zu sprechen oder zu schreiben.

Einschub Ende

 

Aber zurück zum Thema. Die AS, die ich kenne, sind allesamt chronisch krank. Sie sind das nicht, weil sie irgendwie gestört sind, sondern weil sie seit frühester Kindheit von ihrer neurotypischen Umgebung unter geradezu mörderischen Druck gesetzt werden. Würden man die NTs unter so einen Druck setzen, dann wären sie mindestens genauso krank wie wir.

 

Zwischenfazit

Weil ich zu wenige Daten habe, kann ich das nicht für alle AS verallgemeinern. Aber für das, was in meinem Sichtfeld liegt, gilt: Ein Leben unter NTs zu führen macht AS krank. Ohne jede Ausnahme. Jeder Mensch, der so einem Druck ausgesetzt wird, wird krank. Chronisch krank. Fast immer betrifft es die inneren Organe. Oft genug strahlt das auf die Psyche ab.

 

Für alle NTs unter meinen Lesern, die jetzt den für NTs so typischen Reflex des „Ich auch!“ in sich spüren:

Ja, du bist auch krank, und das ist alles ganz furchtbar, und selbst dein Arzt bricht vor Erschütterung jedes Mal in Tränen aus, wenn er dich nur sieht. Aber gilt für dich auch dieses?

a)  Diese Krankheit besteht seit Kindheit oder Jugend.

b)  Unbehandelt führt diese Krankheit zu einem frühen Tod.

c)  Diese Krankheit ist nicht auf genetische Defekte oder ungesunde Lebensweise zurückzuführen, sondern auf permanenten sozialen Druck und darauf, dass du gezwungen bist, in einer Umgebung zu leben, die deine Sinnesorgane chronisch überfordert.

 

Einschub

Ein NT, der mir viel bedeutet, macht mir immer wieder deutlich, dass HSP (Hochsensible Personen) ihr Leben und ihre Umwelt in einigen Bereichen ähnlich erleben wie die AS. In diesem Fall gibt es vermutlich weniger sozialen Druck, aber die chronische Überlastung der Sinnesorgane dürfte ähnlich sein. Also – solltest du NT sein und chronisch krank sein, und das resultiert aus deiner Hochsensibilität: Das habe ich hier im Blick.

Einschub Ende

 

Dinge wie diese gehen mir immer durch den Kopf, wenn ich mitbekomme, wie ungezwungen, politisch korrekt (und ahnungslos) manche NTs davon reden und schreiben, dass sie sehr für Inklusion seien und dass die AS doch mehr Teilhabe an ihrer Welt bräuchten:

Aber ihr wisst schon, liebe NTs, dass es uns chronisch krank macht, in eurer Welt zu leben?

Ihr wisst schon, dass eure Welt ganz erheblich umgestaltet werden müsste, bevor eure Einladung zur Teilhabe ein Angebot wäre, dessen Annahme uns nicht die Gesundheit ruiniert?

Unter NTs und in ihrer Welt zu leben ist für unsereins so gesundheitsförderlich wie Fremdenführer in den Ruinen von Fukushima zu sein.

 

Dinge wie diese gehen mir immer durch den Kopf, wenn ich irgendwo lese, wie sehr sich NTs, die einen AS als Partner gewählt haben, anstrengen müssen, um diese Beziehung leben zu können und wie sehr sie das immer wieder an die Grenzen dessen bringt, was sie überhaupt ertragen können.

Ja, liebe NTs, ich weiß, dass ihr (im Durchschnitt) deutlich weniger belastbar seid als die AS. Das ist mir nicht neu. Und dass ihr um eure Belastungen und eure Erkrankungen (im Durchschnitt) deutlich mehr Gewese macht als die AS, das weiß ich auch. Da mache ich euch auch keinen Vorwurf. Das ist eure Art, in der Welt zu sein. Aber könnt ihr den Unterschied erkennen zwischen:

a)  Ich bin mit meinen Kräften völlig und restlos am Ende und weiß wirklich nicht mehr weiter und

b)  Ich bin chronisch und ernsthaft erkrankt?

 

Für euch ist dort, wo euer Körper signalisiert: „Ich bin mit meinen Kräften völlig und restlos am Ende und weiß wirklich nicht mehr weiter“ definitiv Schluss. - Ihr klappt zusammen, bleibt liegen und könnt nicht mehr. Und das war’s dann. Ihr braucht ärztliche Hilfe, die euch gut tut. Und die bekommt ihr auch.

 

Für AS geht es an dieser Stelle erst richtig los. Für sie gilt seit frühester Kindheit das Motto der Fremdenlegion:

„Marche ou crève!“ – Marschier oder krepier.

 

Denn es ist ja nicht so, dass ihr mit eurem sozialen Druck auf uns aufhören würdet, wenn wir körperlich zusammenbrechen. Es ist ja nicht so, dass wir automatisch in eine reizarme Umgebung gebracht würden, wenn wir zusammenbrechen.

 

Nein, wenn wir ernsthaft erkrankt sind, dann geht’s mit dem sozialen Druck ja erst so richtig los. Oder habt ihr irgendwann schon mal davon gehört oder gelesen, dass Ärzte, Pflegepersonal oder andere NTs, die medizinische Dienste leisten, ihr Verhalten auf Autismus umstellen, wenn sie mitbekommen, dass sie einen AS vor sich haben, der körperlich zusammengebrochen ist? Das Gegenteil ist meistens der Fall – NTs neigen dazu, besonders neurotypisch zu werden, wenn sie auf Hilfe gepolt sind. Das könnte für uns AS dann das Motto sein:

„Immer, wenn du denkst, es geht nicht mehr, komm‘n von irgendwo NTs daher.“

 

Da die NTs ihr Verhalten gar nicht so umstellen können, dass es für einen AS gut ist - reizarm, distanziert, sachlich etc. -, können sie das auch nicht, wenn sie es mit einem AS zu tun haben, der körperlich zusammengebrochen ist. Das einzige, was ein AS in diesem Zustand versuchen kann, ist, irgendeinen Raum aufzusuchen, in dem er zuverlässig von allen NTs abgeschirmt wird.

 

Aber mach das mal, wenn du körperlich zusammengebrochen bist und ärztliche Hilfe brauchst. Ärzte, Pflegepersonal, Apotheker, Sozialarbeiter, Psychotherapeuten, Psychiater, Lehrer, Lehrerinnen, Kindergärtnerinnen – alles NTs. Und speziell, wenn du krank bist und Hilfe brauchst, sind sie besonders präsent und besonders neurotypisch und lassen dich überhaupt nicht mehr in Ruhe. Wie sollst du dich da als Kind oder Jugendlicher abschirmen?

Marschier oder krepier.

Schau, dass du wieder in einen Zustand kommst, dass du dich verkriechen kannst. Und wenn du sie alle anschwindelst und Gesundheit und Wohlbefinden simulierst – irgendwie musst du hier wieder raus, sonst ist es dein Ende! Raus hier – um jeden Preis - und irgendwo verkriechen und auf das beste hoffen …

Marschier oder krepier.

 

Und zum Thema „Reizarme Umgebung beim Arzt oder im Krankenhaus“ – Hahaha! Ja, selbstverständlich! Reizärmer geht’s kaum (Ironie). Telefone klingeln, elektrische Apparate piepsen, schlecht gewartete Lampen flackern, überall hängen Bilder an den Wänden, der Schall bricht sich an Wänden und Decken … und so weiter, und so weiter.

 

Mein Hausarzt und seine Leute wissen Bescheid über meinen Autismus. Wenn es mir schlecht geht und ich im Moment überhaupt keine Reize mehr vertragen kann, dann muss ich nicht im Wartezimmer schmoren, sondern ich darf mich in einen kleinen abgedunkelten Nebenraum setzen, wo sie irgendwelche Sachen lagern. Da klingelt, pfeift und piepst nichts. Da reden keine Leute und niemand nimmt Kontakt mit mir auf. Ich sitz‘ dann da ganz für mich alleine und warte im Halbdunkel, bis irgendeine Assistenzkraft hereinkommt und mir sagt, dass ich jetzt zum Arzt ins Behandlungszimmer kann.

 

Aber das scheint mir eine Ausnahme zu sein. Arztpraxen und Krankenhäuser scheinen im Allgemeinen nicht auf uns eingestellt zu sein. Im Allgemeinen gibt’s dort keine Räume für uns.

 

Und noch eins:

Wenn wir seelisch in Not sind, brauchen wir Psychotherapeuten oder Psychiater. So ziemlich alle Psychotherapeuten und Psychiater, die uns angeboten werden, scheinen NTs zu sein. Wie um alles in der Welt wollen die uns wirksam und nachhaltig helfen, wenn sie gar nicht wissen (gar nicht wissen können), wie das ist, Autist zu sein?! Das ist so, als wollte ich einen Veganer bitten, mir ein wirklich gutes Steakhaus zu empfehlen.

Wenn ich lese oder höre, wie Psychotherapeuten und Psychiater mit Autisten umgehen, was sie ihnen raten und wie sie mit ihnen arbeiten, dann wird mir regelmäßig schlecht.

 

Woran es hier eindeutig zu fehlen scheint, sind Psychotherapeuten und Psychiater, die nicht nur „Experten“ für Autismus sind, sondern tatsächlich selber Autisten sind.

Aber natürlich kann man sich solche Leute nicht backen. Die Ausbildung zum Psychotherapeuten oder gar Psychiater ist extrem langwierig und aufwändig.

 

 

Fazit

Liebe NTs, ich freu mich für euch, wenn ihr euch gesund fühlt. Das ist richtig klasse! Ich wünsche euch, dass das so bleibt. Ich wünsche euch ein langes und gesundes Leben. Ich kenne keinen AS, der gesund ist oder sich gesund fühlt. Chronische Krankheit ist für die AS, die ich kenne, Bestandteil des Lebens - seit Kindheit oder Jugend. Wir leben damit, weil es zu unserem Leben selbstverständlich dazugehört. Wir kennen es nicht anders.

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