An was denkst du?

Jetzt im Moment? Ganz ehrlich?

Vor allem denke ich daran, dass du mich das nicht fragen sollst. Denn mit deiner Frage bewirkst du verschiedenes:

 

a)   Du unterbrichst den Denkvorgang, in dem ich gerade bin. Und es ist gut möglich, dass damit die Arbeit einer halben Stunde zerstört ist. Meine Gedanken sind, bevor sie zu Ende gedacht sind, hochkomplexe und sehr filigrane Strukturen. Schon leichte Störungen können alles zum Einsturz bringen. Wenn sie fertig gedacht sind, sind sie grundsolide – so wie ein Stein oder ein kompaktes Stück Holz. Aber bis dahin – rühr‘ sie nicht an!

b)   Du dringst mit deiner Frage sehr rüde in Bereiche ein, die dich nichts angehen. Das ist so, als würdest du bei mir daheim die Wohnungstür eintreten, um dann den Esstisch zu decken und mich zum Essen einzuladen. Wie würdest du dich fühlen, wenn ich das bei dir tun würde?

 

Ich weiß, du beabsichtigst das nicht mit deiner Frage. Du denkst dir nichts dabei. Du willst Kontakt aufnehmen und glaubst, es wäre eine gute Idee, es auf diese Weise zu tun. Wie gesagt – Kontakt aufnehmen, indem man beim anderen die Tür eintritt, seinen Esstisch deckt und ihn zum Essen einlädt. Das kann man so machen, keine Frage. Aber das ist die neurotypische Art, Kontakt aufzunehmen. Ich hätte es gerne anders.

 

Vielleicht hilft dir diese Analogie auf die Sprünge:

Nehmen wir mal an, dass du sehr gerne Musik hörst und dich in die Musik derart vertiefst, dass alles um dich herum versinkt. Die Welt besteht für dich nur noch aus Musik. Und dann komme ich – rüde, wie ich bin – und frage dich ziemlich laut:

„Was hörst du da grade?“

Wie gesagt:

Kontaktaufnahme auf neurotypisch. Kann man so machen.

 

Aber wenn wir schon mal dabei sind, will ich dir erläutern, wie ich denke. Denn ich habe den Eindruck, dass sich meine Art zu denken von deiner ganz erheblich unterscheidet.

 

In mir gibt es Bereiche, die ich die „denkenden Strukturen“ nenne. Das sind Teile von mir, die außer denken so ziemlich nichts tun. Aber das tun sie buchstäblich Tag und Nacht. Sie schlafen nie und sind immer aktiv.

 

Diese denkenden Strukturen sind hierarchisch gegliedert. Wenn wir mit komplexeren Problemstellungen beschäftigt sind, dann denken wir auf mindestens fünf Ebenen gleichzeitig. Diese fünf Ebenen liegen alle unterhalb der Bewusstseinsebene. Drei von ihnen sind bewusstseinsfähig aber nicht bewusstseinspflichtig. Die beiden untersten sind nicht bewusstseinsfähig. Der Vorteil dieser Art zu denken ist, dass ich entscheiden kann, ob ich mich auf das Denken konzentriere oder auf etwas anderes. Wenn ich das will, dann kann ich mich beim Denken mit was anderem beschäftigen – arbeiten, abwaschen, Regal reparieren – und mich darauf voll konzentrieren, während in meinem Inneren weiter nachgedacht wird.

 

Die unterschiedlichen Hierarchien überlappen sich, haben aber häufig getrennte Aufgabenbereiche. Ich will ein paar wesentliche Strukturen vorstellen:

 

 

1

Das Liebe Denk

 

Das Liebe Denk ist unsere mit Abstand größte Denkstruktur. Es ist die schiere Rechenkraft. Das Liebe Denk hat den Status einer „teilautonomen Struktur“. Höher kann man bei uns nicht steigen. Teilautonome Strukturen

a)  brauchen mir nicht zu sagen, womit sie gerade beschäftigt sind,

b)  dürfen sich selbst Aufträge geben, und

c)  sie dürfen Energie anfordern (und bekommen), ohne dass ich das genehmigen muss.

 

Das Liebe Denk hat eine Wächter- und Beschützerfunktion. Es läuft permanent im Hintergrund (und brummt vor sich hin wie ein Trafo, wenn es sich bemerkbar machen will). Es prüft alles, was wir tun, denken und fühlen, darauf, ob es real ist oder nicht. Wenn wir also auf eine Wirklichkeit reagieren wollen, die gar nicht da ist, sondern nur in unserem Kopf existiert, dann ist es die Aufgabe des Lieben Denk, uns darauf hinzuweisen (was es sehr zuverlässig tut).

 

Darüber hinaus zerlegt das Liebe Denk jede hereinkommende Problemstruktur in alle Einzelteile. Es ist sehr gut darin, auch die komplexesten Probleme in winzig kleine Teile zu zerdröseln, die jedes Kind nach „richtig“ und „falsch“ sortieren kann.

 

Eine weitere Hauptfunktion des Lieben Denk ist, andere denkende Strukturen mit Rechenleistung zu unterstützen. Wer in uns also Unterstützung braucht, weil irgendeine Fragestellung zu viel Rechenkapazität erfordert, der kann sich jederzeit an das Liebe Denk wenden.

 

 

2

Einar

 

Einar ist ein Junge von sieben bis acht Jahren. Es ist der mit Abstand klarste Denker bei uns. Seine Intelligenz ist überragend, seine Fähigkeit, blitzschnell den Kern einer Sache zu erkennen, unübertroffen. Er kommt zum Einsatz, wenn ein Problem nicht komplex, sondern eher einfach ist, aber von schier unergründlicher Tiefe zu sein scheint.

 

Nehmen wir an, wir wissen von einer bestimmten, sehr komplexen Sache, dass sie falsch sein muss. Das Liebe Denk hat diese Problemstellung durch seine Mühle gedreht und in sämtliche Einzelteile zerlegt. Es untersucht jetzt jedes dieser Einzelteile ganz akribisch, kann aber beim besten Willen keinen Fehler finden. Es macht dann zwei Durchgänge, und wenn es dann immer noch nicht klarer sieht, dann schlägt Einars Stunde.

 

Sein Denken ist wie ein bleistiftdünner Laserstrahl, der mühelos von hier bis zum Mond reichen kann. Er sieht weiter als wir alle. Aber er ist ein kleiner Junge. Er ermüdet sehr schnell.

 

 

3

Die Herren der Bilder

 

In uns sind einige Billionen Bilder abgelegt. Das sind riesige Datenbänke. Diese Bilder sind aber nicht in einer bestimmten Systematik abgelegt, sondern vollkommen chaotisch. Dort, wo sie beim Reinkommen in den Datenbänken landen, da bleiben sie auch liegen – wo immer das auch sein mag.

Ohne unsere Bilder sind wir vollkommen blind. Wir können keinen einzigen Gedanken fassen, wenn wir nicht die nötigen Bilder dazu haben. Die Herren der Bilder kümmern sich darum. Sie kennen sich in unseren Datenbänken aus, und wenn wir Bilder zum Denken brauchen, stellen sie sie uns zur Verfügung.

 

Die Herren der Bilder sind auch die Verwalter unserer Gedächtnisse. Alle unsere Erinnerungen sind in Bildern codiert. Letzte Woche zum Beispiel sahen wir einen Arbeitskollegen nach über zehn Jahren wieder. Er erzählte uns von seinem Sohn, der jetzt Mofa fährt. Und die Herren der Bilder kramten sofort die Bilder hervor, wie dieser Kollege uns vor 13 Jahren mal beiläufig erzählt hatte, wie er als Jugendlicher selber Mofa gefahren war. Wir wussten sofort, wann das gewesen war, wo das gewesen war und was die genaue Situation gewesen war (wie wir uns damals gefühlt hatten, wo wir gesessen hatten und so weiter).

 

Die Herren der Bilder arbeiten sehr schnell. Das müssen sie auch bei dieser gigantischen Anzahl von Bildern. Wir haben das vor Jahren mal durchgemessen: In einer Sekunde können sie deutlich mehr als zehn Millionen Bilder scannen.

 

Manchmal gebe ich Suchaufträge an die Herren der Bilder, und dann müssen sie ein bisschen kramen. Was können das für Suchaufträge sein? Ich nenn‘ mal ein paar Beispiele:

 

  • Im Studium, im dicken „Amelang & Bartussek“ (Lehrbuch der differenziellen Psychologie), da haben wir ungefähr auf Seite 386 rechts oben was gelb angemarkert, das waren vier oder fünf Zeilen – was stand da nochmal?
  • Als ich fünf Jahre alt war – wie habe ich da den Frühling erlebt?
  • Als ich drei Jahre alt war – was habe ich genau gesehen, wenn ich in die Küche kam?
  • Als ich ein Säugling war – wie fühlte sich die Kleidung auf der Haut an?

Bei solchen Suchaufträgen kann es schon mal etliche Minuten dauern, bis ich die passenden Bilder habe.

Und manches finden die Herren der Bilder auch gar nicht mehr wieder – Stichwort: Amnesien

 

 

Nochmal zusammengefasst:

Wenn wir über eine Problemstellung nachdenken, dann geben wir einen Auftrag an die denkenden Strukturen. Die kümmern sich dann darum, und wir können derweil was anderes machen. (Einige denkende Strukturen arbeiten aber auch ohne Auftrag – wie zum Beispiel das Liebe Denk).

 

Wer von den denkenden Strukturen dann was macht, das wissen wir nicht. Das ist aber auch nicht notwendig, denn das regeln die denkenden Strukturen untereinander. Dass wir bewusst und angestrengt über irgendwas nachdenken, kommt beinahe nie vor. Entweder können uns die denkenden Strukturen sofort die Ergebnisse vorlegen, dann können wir damit weiterarbeiten. Oder sie können das nicht, dann bringt es aber auch nichts, wenn wir dabeibleiben, ihnen auf die Finger gucken (Sprachbild) und sie ungeduldig zur Eile antreiben. Davon denken sie weder schneller noch besser. Wenn ein Baum nicht so schnell wächst, wie wir das wollen, dann bringt es nichts, ungeduldig am Baum zu ziehen und zu rütteln.

 

Wir sind also beinahe immer dazu gezwungen in aller Demut abzuwarten, bis die denkenden Strukturen die Ergebnisse ihrer Arbeit vorlegen. Das kann in wenigen Minuten sein, das kann Tage, Wochen und Jahre dauern. Wir wissen im Vornherein nie, wie lange die denken Strukturen brauchen werden.

 

Ich nehme an, dass deine Art nachzudenken eine ganz andere ist.

Vielleicht gibt dir das hier ein bisschen einen Eindruck, wie komplex und filigran das Denken bei uns ist.

 

Und wenn du uns was Gutes tun willst, dann lässt du uns in Ruhe, bis wir von uns aus Kontakt mit dir aufnehmen. Dass wir gerade in der Gegend rumsitzen und anscheinend nichts tun, bedeutet nämlich nicht, dass wir tatsächlich nichts tun und sehnsüchtig darauf warten, dass uns endlich mal jemand anspricht. Im Gegenteil: Gerade, wenn es so aussieht, als würden wir nichts tun, sind wir meistens aufs höchste konzentriert und mit jeder Faser unseres Seins beschäftigt.

 

Lass uns in Ruhe.

 

Und frag‘ uns nicht, was wir denken. Wir wissen es selber nicht, und du zerstörst sehr viel mit deiner Frage.

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