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Amnesie

Das hat mich jahrzehntelang behindert und blockiert. Erst seit ganz kurzem sehen wir in dieser Sache ein wenig klarer.

 

Worum geht’s?

 

Menschen wie mir, die Viele sind, ist zu eigen, dass Amnesien sie begleiten.

Das hat diesen Hintergrund:

Auch Menschen, die Viele sind, haben nur einen Körper. Den müssen sich aber verschiedene Persönlichkeiten teilen. Diese Persönlichkeiten haben zum Teil ganz unterschiedliche Bedürfnisse und Vorlieben. Oft weisen sie auch einen ganz unterschiedlichen psychischen Entwicklungsstand auf.

 

Und während eine Persönlichkeit gerade Körper und Bewusstsein steuert, sind die meisten anderen Persönlichkeiten auf Standby geschaltet und bekommen von all dem nichts mit. Später werden dann die anderen Persönlichkeiten wieder dazugeschaltet, haben aber absolut keine Erinnerung an die Zeit, in der sie im Standby waren.

 

Die daraus resultierenden Gedächtnislücken nennt man Amnesien.

 

Ich hab‘ jahrzehntelang intensiv in meinem Gedächtnis gegraben, um alle Amnesien in meinem Leben aufzuspüren. Dabei ist wichtig: Ich kann aus vielfältiger Erfahrung und Befragung versichern: Mein Gedächtnis ist weit, weit überdurchschnittlich gut.

Und trotzdem:

Ich fand immer nur ein paar Stunden, die in meiner Erinnerung definitiv fehlten. Ich habe darüber auch schon einen Blogtext geschrieben. (Ich bin Viele)

Heute weiß ich, dass ich fundamental irrte, als ich diesen Text schrieb. Es fehlen mir nicht ein paar Stunden, sondern – wenn man es aufsummiert – mindestens anderthalb Jahre. Das ist schon bestürzend.

Um die Dinge aus „Ich bin Viele“ richtig zu stellen, aber auch um zu berichten, will ich hier schildern, was ich gefunden habe.

 

Ich glaube, der Ausgangspunkt war ein AS, der in unserem Leben ist und uns mittlerweile ganz gut kennt. Er weiß, dass wir Viele sind, und er hat auch schon vergleichsweise viele Seiten von uns gesehen und erlebt. Zusätzlich haben wir ihn auf die Eigenheiten einzelner besonders wichtiger Persönlichkeiten von uns aufmerksam gemacht. Die einzelnen Teile von uns essen z.B. unterschiedlich, gehen unterschiedlich, stecken die Hände unterschiedlich in die Hosentaschen usw. Bei den meisten Eigenschaften, anhand derer man Persönlichkeiten normalerweise unterscheidet – Charakter, Stimmlage, Eigenheiten etc. unterscheiden wir uns bislang kaum. Wenn wir von der einen auf die andere Persönlichkeit umschalten, wird das normalerweise von Außenstehenden nicht bemerkt.

Bis zu diesem Tag, wo mich dieser AS leicht am Daumen der linken Hand berührte, als wir die Hände in die Hosentaschen steckten:

Ihm war aufgefallen, worauf wir ihn ein paar Tage zuvor hingewiesen hatten:

Wenn wir die Hände in einer ganz bestimmten Weise in die Tasche stecken, dann bedeutet das, das jetzt eine Person aktiv ist, die wir in diesem Blog den „Anderen“ nennen.

Aber all die Jahrzehnte davor … nie haben wir die Rückmeldung bekommen, dass irgendwem aufgefallen war, dass wir auf einmal jemand anders waren.

 

Dieser AS ist in unserem Leben. Er bedeutet uns allen viel. Wir führen sehr intensive Gespräche mit ihm. Zu unserem Erschrecken kam es dann monatelang gehäuft vor, dass er ganz offensichtlich an irgendein Gespräch anknüpfte, dass wir in den Stunden davor geführt hatten, und wir erinnerten von diesem Gespräch buchstäblich nichts. Gar nichts.

 

Dieser AS wusste nichts von unserer Pein. Er sprach frisch drauflos, knüpfte an Argumente an, die ich angeblich gebracht hatte, führte Gedanken weiter, die wir offenbar thematisiert hatten … und so weiter.

Und wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) saßen nur da, uns wurde immer heißer und wir bemühten uns, rauszukriegen:

„Wovon zum Teufel redet der denn jetzt?!“

 

Dieser AS ist ganz sicher nicht das, was man „gutmütig“ nennen würde. Aber wir trauen uns einiges bei ihm. Und manchmal sagten wir ihm in so einer Situation:

„Verzeih, ich erinnere nichts.“

Dann erzählte er uns, was wir (er und ich) vor ein paar Minuten, ein paar Stunden oder ein paar Wochen besprochen hatten.

Und wir saßen da …

… und erinnerten nichts.

Gar nichts. Nicht mal Ansätze.

Es war für uns so, als hätten diese Gespräche niemals stattgefunden.

Und nochmal bitte:

Wir haben ein wirklich brillantes Gedächtnis. Wir können Gespräche, die wir geführt haben, manchmal noch Jahre später beinahe wortwörtlich wiedergeben. Wir merken zwar, dass unser Gedächtnis mit zunehmendem Alter deutlich schwächer wird. Aber das ist so – verglichen mit anderen Menschen –, als würde man einen 600 PS-Boliden auf 450 PS runtertunen: Reicht immer noch, um beeindruckend zu sein.

 

Und da sitzen wir dann mit diesem Ultra-Gedächtnis auf dieser Couch neben diesem AS und können uns nicht erinnern, was wir die letzten beiden Stunden gemacht haben. Es ist, als wäre uns jemand mit einem Radiergummi durchs Gehirn gegangen. Wir können nicht nur dieses Gespräch von gerade eben nicht erinnern. Wir haben auch sonst keinerlei Erinnerung an diese Zeit. Alles ist komplett gelöscht, als wäre es nie da gewesen. Und egal, welchen Hinweis uns dieser AS gibt: Es gibt buchstäblich nichts, was unsere Erinnerung reaktivieren könnte:

Amnesie.

 

Vielleicht könnt ihr nachvollziehen, dass es verunsichernd sein kann, sich dessen bewusst zu werden:

Gerade eben war ich zwei Stunden abgeschaltet. Ein anderer hat meinen Körper und mein Bewusstsein gekapert und mich in so eine Art Trancezustand versetzt. Was er in dieser Zeit mit diesem Körper gemacht hat, wissen wir nicht. Wir haben keinerlei Hinweise darauf. Es existieren nicht mal Spuren der Erinnerung. Aber dieser Körper und dieses Bewusstsein waren aktiv - ganz eindeutig. Jemand hat sich unserer bedient, und wir sind für alles, was in diesem Zeitraum geschah, voll verantwortlich – egal, was es gewesen ist.

 

Aber ich wäre nicht ich, und wir wären nicht wir, wenn wir es dabei bewenden lassen würden. Wir wollen die Hoheit über unser Leben wiederhaben. Das ist etwas, was uns antreibt, seit wir denken können. Die Aussicht, ein Leben lang – zumindest temporär – nicht zurechnungsfähig zu sein, ist nichts, womit wir uns abfinden würden.

 

Wir haben es so gemacht, wie immer in solchen Fällen. Wir haben Gesprächsangebote nach innen gemacht:

„Jungs, lasst uns reden. Ich bin sicher, dass wir einen Weg finden werden, mit dem alle zufrieden sind.“

 

Die „Jungs“ redeten nicht. Sie sind nicht besonders gesprächig. Aber sie zeigten auf ihre Weise Kooperationsbereitschaft und Verständnis:

Sie sendeten in den folgenden Wochen immer wieder Signale, die mir deutlich machten, dass gerade vorbereitet wurde, mich abzuschalten:

Unsere Wahrnehmung wurde „diesig“ und „milchig“ und dann waren wir ein wenig wie weggetreten – quasi die Steigerung von „verträumt“.

 

Was dann geschah, erinnerten wir nicht.

Da waren die Amnesien genauso vollständig wie vorher auch.

Aber wir konnten den „Jungs“ bei der Arbeit zusehen – wie hatten sie es all die Jahre geschafft, uns abzuschalten, ohne dass wir das merkten? Oder präziser: Wie hatten sie das bloß geschafft, uns wieder einzuschalten, ohne dass wir merkten, dass wir (manchmal stundenlang) abgeschaltet gewesen waren? Sie waren dabei sehr geschickt vorgegangen:

Sie hatten uns in einer spezifischen Situation abgeschaltet – zum Beispiel in einem Gespräch. Dann hatten sie übernommen. Und wenn sie uns wieder zuschalteten, achteten sie darauf, dass die Situation, in der wir uns wiederfanden, nahtlos zu dem passte, was wir vorher gemacht hatten.

 

Zum Beispiel:

Wir unterhalten uns mit diesem AS. Das Gespräch ist sehr intensiv. Wir (dieser AS und ich) sprechen leise, wir sprechen langsam. Es sind lange Pausen zwischen den einzelnen Wortbeiträgen. Dann muss ich auf’s Klo. Auf dem Weg dorthin schalten mich die „Jungs“ ab. Vom Klo zurück kommt jemand, der äußerlich nicht von uns zu unterscheiden ist (außer an Kleinigkeiten, die man aber kennen muss, um sie erkennen zu können). Die „Jungs“ unterhalten sich mit diesem AS weiter und tun so, als wären sie ich. Dann beschließen sie, wieder in den Hintergrund zu treten und gehen auf’s Klo. Auf dem Weg zum Klo schalten sie mich wieder zu. Und ich gehe auf’s Klo und habe keine Ahnung, dass mir da ein paar Stunden aus meinem Leben fehlen.

 

Ein paar Wochen später kamen wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich) von einer längeren Wanderung im Taunus zurück. Wir hatten weit mehr als 40 Kilometer zurückgelegt und uns dabei immer wieder sehr intensiv mit uns unterhalten. Wir beschlossen, die letzten Kilometer mit dem Bus zu fahren. Wir kamen zu dieser Bushaltestelle. Kein Mensch war auf der Straße zu sehen (es wurde bereits langsam Nacht). Wir sahen auf dem Fahrplan, dass wir noch über 20 Minuten Zeit hatten, bevor der Bus kommen würde – Extrazeit für uns, um uns mit uns zu unterhalten.

Und mitten in dieser inneren Unterhaltung merkte ich auf einmal, wie meine komplette Wahrnehmung „milchig“ wurde. Ich konnte nicht mehr klar sehen und denken und alles, was ich sah, nahm ich nur noch aus sehr großer Ferne wahr.

„Jungs“, sagte ich nach innen, „ich seh‘, ihr wollt mich abschalten. Könnt ihr machen. Aber ich habe eine Bitte: Schaltet mich nicht ab, sondern auf Standby, so dass ich zumindest schemenhaft mitbekomme, was ist. Ihr müsst mich nicht an dem teilhaben lassen, was ihr da macht. Aber schaltet mich diesmal bitte nicht komplett ab. Und schaltet mich bitte wieder zu, wenn ihr den Bus kommen seht, damit ich mich um alles kümmern kann.“

 

Und so machten die „Jungs“ das auch. Sie übernahmen den Körper weitgehend und mein Bewusstsein fast völlig komplett. Wie von ganz fern konnte ich mir dabei zuschauen, wie ich auf diesem völlig menschenleeren Bürgersteig unter dem Schein der Straßenlaternen auf und ab ging: 30 Schritte in die eine Richtung, dann auf dem Absatz umdrehen und 30 Schritte in die andere Richtung. Ich bekam in keiner Weise mit, was in meinem Inneren vor sich ging. Aber immerhin war ich jetzt nicht vollständig weggetreten.

Und als die wohlvertrauten Konturen des Busses ganz am Ende der Straße sichtbar wurden, wurde ich allmählich wieder zugeschaltet.

 

Mit den Monaten bekamen wir alle (meine Kleinen, meine Innenteile, ich und die „Jungs“) Übung darin. So wurde ich immer häufiger nicht von jetzt auf gleich und wie im Reflex abgeschaltet, sondern ich bekam Ankündigungen. Manchmal konnte ich den „Jungs“ sogar schon Minuten vorher sagen:

„Ich sehe, ihr wollt übernehmen. Lasst mich noch ins Bett gehen und da hinlegen. Ich fang an, irgendeinen Comic zu lesen, und dann könnt ihr übernehmen.“

 

Lange Zeit hatte ich nicht den Schimmer einer Ahnung, für welche Bedürfnisse und aus welchen Gründen die „Jungs“ den Körper und das Bewusstsein haben wollten. Mir war völlig klar, dass es wichtige und vitale Bedürfnisse sein mussten, deshalb habe ich nie mit ihnen geschimpft oder versucht, ihnen das aus den Händen zu winden. Ich bin zwar eindeutig der „Herr im Haus“ bei uns. Was ich anweise, das wird das gemacht. Aber ich weise nur an, was absolut notwendig ist. Meine Macht beruht darauf, dass so viele von uns mir inzwischen absolut vertrauen. Jede Woche, jeden Monat wird dieses Vertrauen tiefer und intensiver. Jede Woche und jeden Monat werden die, die sich diesem Vertrauen anschließen, mehr. Aber wir sind noch sehr weit entfernt davon, dass wir sagen könnten, dass von den wesentlichen Teilen sich so ziemlich alle uns angeschlossen haben.

 

Da ich nur anweise, was absolut notwendig ist, habe ich den „Jungs“ alles gelassen, was ihres ist. Wenn es bis heute – jahrzehntelang - geklappt hat in unserem Leben, mit dem Abschalten, dann gibt es keinen Grund, hier mit Machtmitteln einzugreifen. Aber ich will, dass wir uns einig werden. Wir müssen nicht zusammenwachsen. Wir werden höchstwahrscheinlich ein Leben lang Viele bleiben. Aber es spricht nichts dagegen, dass wir vernünftig miteinander umgehen. Wenn die „Jungs“ vitale Bedürfnisse haben, die so wichtig sind, dass sie keine andere Möglichkeit sehen, als uns abzuschalten, dann ist es vermutlich sinnvoll, dass wir diese Bedürfnisse kennen, damit wir unseren Teil dazu beitragen können, dass diese Bedürfnisse befriedigt werden.

 

Als wir im Bett lagen und Comics lasen, wurde ich zum ersten Mal als Gast zugelassen, als wir abgeschaltet wurden. Wie von ganz weit entfernt sah ich mich diesen Comic lesen. Ich sah diese winzigkleinen Bilder und konnte sogar jeden Buchstaben erkennen. Aber von dem, was ich da sah, kam buchstäblich nichts mehr bei mir an.

Dafür bekam ich aber mit, was in mir los war: Gespräch!

Ich verstand kein einziges Wort. Aber ich bekam mit, wie die „Jungs“ miteinander sprachen: Hektisch, eilig, sachlich, sehr gedrängt. Es war offenbar eine Art Kriegsrat. Sie mussten sich über irgendwas schlüssig werden, was ihnen ganz, ganz wichtig war. Und es musste schnell gehen. Sehr schnell.

Sie sprachen sachlich, klar, beinahe militärisch. Diesen Tonfall kenne ich. Den haben wir auch drauf, wenn wir Kriegsrat halten. Und ich konnte mir denken, worum es ging: Am nächsten Tag würden wir wieder in der Therapie sein: Wichtige Dinge standen an. Und sie wollten sich klar darüber werden, wie sie morgen agieren würden.

 

Vor zwei Wochen kamen wir wieder einen Schritt weiter:

Wir spielten im Internet Schach gegen internationale Gegner. Es waren sogenannte „Blitz“partien – Bedenkzeit für die gesamte Partie: Zehn Minuten für jeden.

 

Ich habe zahlreiche abgespaltene Teile von uns wiedergefunden, seit wir wieder in Therapie sind. Ausnahmslos allen ist eigen, dass sie sehr gerne Schach spielen. Ich weiß auch nicht, warum. Aber vom Säugling über das Kleinkind bis hin zum kleinen Jungen – am Schachbrett fühlen sie sich alle wohl.

 

Wir spielten da also Blitzpartien. Eine nach der anderen. Es war mittlerweile gegen 01:00 Uhr in der Nacht. Wir waren mitten in einer Partie und waren unserem Gegner eindeutig überlegen. Wir waren nicht gut. Ich glaube, dass wir nur sehr selten wirklich gutes Schach spielen. Aber das ist ja das Schöne beim Schach: Du musst nicht gut spielen – du musst nur besser sein als dein Gegner. Und wenn dir selbst das nicht gelingt, dann versuche, ihn mit ultrakomplizierten Stellungen zu verwirren, so dass er ganz lange nachdenken muss und du gewinnst, weil seine Bedenkzeit abgelaufen ist.

 

Wir waren diesem Gegner also eindeutig überlegen. Zug um Zug setzten wir ihn mehr unter Druck und waren dabei, seine Stellung zu „überlasten“. Seine Stellung war ganz kurz davor, zusammenzufallen wie ein Kartenhaus. Und dann machten wir von jetzt auf gleich einen Zug, bei dem wir unsere Dame verloren. Die Dame ist die weitaus stärkste Figur im Schachspiel. Sie ist weit mehr wert als acht Bauern zusammen und etwas mehr als ein Läufer und ein Turm.

Und ich stellte die Dame gut sichtbar auf ein Feld, wo sie von einem Bauern sofort geschlagen werden konnte. Und als Kompensation bekam ich buchstäblich gar nichts. – Das war ein ganz typischer Anfängerfehler: Die Dame hergeschenkt für nichts.

 

Ich kann euch versichern, dass das nichts ist, was wir am Schachbrett gewöhnlich tun. Manchmal, wenn wir sehr müde sind, oder wenn wieder mal einen ziemlichen Hass auf unsere leibliche Mutter haben, dann lassen wir unsere Dame irgendwo stehen, wo sie geschlagen werden kann: Zack! Kopf ab! Geschieht ihr recht! Aber dass wir sie aktiv vor einen Bauern ziehen, damit sie geschlagen wird … nein, sowas tun wir nicht.

 

Meine Kleinen schauten ganz verdattert auf dieses Schachbrett und meinten nur:

„Als ob wir von einer Persönlichkeit auf die andere umgeschaltet hätten.“

Und in dem Moment, wo sie das sagten, wurde uns erst klar, dass wir gerade genau das erlebt hatten:

Eine andere Persönlichkeit hatte übernommen und murkste jetzt in unserem Schachspiel rum. Sie fand das Schachspielen so toll und wollte auch mal. Aber sie war völlig unerfahren und hatte keine Ahnung, was sie da tat.

 

Es war das erste Mal, dass wir live und in Farbe mitbekamen, wie wir jemand anderer wurden. Und diesmal wurden wir weder abgeschaltet noch irgendwie zurückgedrängt. Wir durften dabei sein und Zeuge werden, wie diese Persönlichkeit einen Schwachsinnszug nach dem anderen auf’s Brett zauberte. Wir verloren nach wenigen Zügen mit Pauken und Trompeten (Sprachbild) eine zuvor schon völlig gewonnene Stellung.

Es war absolut bemerkenswert!

 

 

Diese Dinge, die ich hier beschreibe, sind bei uns im Fluss. Wir (meine Kleinen, meine Innenteile und ich), sind immer noch sehr weit davon entfernt, zu wissen, wer die „Jungs“ eigentlich sind (also in welcher Situation sie sich von uns abgespalten haben). Wir wissen nicht, was ihre Bedürfnisse sind (außer, dass sie sich immer wieder untereinander bereden müssen) und was wir für sie tun können, damit ihr Leben leichter wird. Sie reden weiterhin nicht mit uns. Jedenfalls nicht so, dass wir es verstehen könnten. Aber das Verhältnis zwischen uns und den „Jungs“ hat sich spürbar entspannt und entkrampft. Immer häufiger bekommen wir mit, dass die „Jungs“ übernehmen wollen und schauen, dass wir ihnen zeitnah und bewusst Körper und Bewusstsein überlassen können.

 

In den letzten Wochen haben wir tief, tief in den Datenbänken unseres Gedächtnisses gekramt und alles zusammengetragen, was wir da an Amnesien fanden. Die Amnesien selber sind natürlich unauffindbar. Aber es gibt so viele Situationen in unserem Leben, wo wir dieses erlebten: Ein Gesprächspartner schaut uns völlig entgeistert an und sagt:

,Aber darüber haben wir doch gerade die ganze Zeit gesprochen!“

„Jetzt stellen Sie sich aber nicht dümmer als Sie sind! Das war gestern die ganze Zeit Thema!“

„Aber das weißt du doch!“

Und so weiter.

Diese Situationen sind zahlreich in unserem Leben. Sie sind sehr zahlreich. Hinzu kommen die zahlreichen Schulstunden, die wir komplett verdämmert haben.

Wenn wir diese Zeiten zusammenzählen, kommen wir auf mindestens anderthalb Jahre, die uns komplett fehlen, und maximal scheinen es fünf Jahre zu sein, die komplett weg sind.

 

Amnesien.

Wir hatten noch nie in unserem Leben Anlass, uns ausgedehntere Gedanken über Amnesien zu machen. Jetzt kommt das aber mit Macht. Es scheint als Thema jetzt dran zu sein bei uns. Es ist zur Zeit sehr beherrschend in unserem Leben.

Wir wissen nur sehr wenig über Amnesien. Aber wir haben keine Lust, darüber in irgendwelchen Fachbüchern zu lesen.

Wir machen es so, wie wir es immer machen: Wir schauen, dass wir irgendwie einen Weg durch dieses Labyrinth finden. Wir wurschteln und schlawinern uns da irgendwie durch.

 

Unsere Therapeutin ist ein Mensch mit Licht und Schatten. Aber als Therapeutin hat sie es wirklich drauf. Sie ist kompetent und erfahren. Und sie ist sehr geduldig mit uns. Seit die Amnesien bei uns so ein wichtiges Thema sind, fragt sie uns immer wieder nach unseren Erfahrungen. Sie begleitet uns bei unserer Entwicklung und kann uns immer wieder wichtige und nützliche Tipps geben.

 

Vor ein paar Wochen fragte sie uns ziemlich am Schluss der Vorbesprechung:

„Und? Wie war’s mit Amnesien diese Woche?“

Meine Kleinen schauten sie mit großherzigen und treuen Augen an und antworteten:

„Haben wir vergessen.“

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